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Hat ein Kind Diabetes, bringt das oftmals auch in Kindergarten und Schule erhebliche Probleme mit sich. Vor allem, wenn das Kind noch nicht selbstständig den Blutzucker messen/den Glukosewert aus dem CGM-System ablesen bzw. Insulin spritzen/über die Pumpe abgeben kann, stehen Eltern vor einem Dilemma. Was tun?
Diabetes ist kein Grund, dass ein Kind nicht den Kindergarten oder die Schule besuchen dürfte. Schwierigkeiten gibt es manchmal trotzdem. Aber es gibt auch Gesetze und Urteile, auf die Eltern sich berufen können.
Bereits seit 1996 hat jedes Kind, welches das dritte Lebensjahr vollendet hat, bis zur Einschulung einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Und durch das Kinderförderungsgesetz (KiföG) haben auch Kinder unter drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, der zur Not eingeklagt werden kann.
Ab dem Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt haben Kinder einen gesetzlichen Anspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung. Das Kind kann bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege gefördert werden. Der Staat muss sicherstellen, dass entsprechende Betreuungsmöglichkeiten angeboten werden. Gemeinden bzw. Landkreise sind also verpflichtet, einen Kita-Platz zur Verfügung zu stellen.
Kinder bzw. Eltern haben dann Anspruch auf einen solchen Platz, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Bei Kindern mit Diabetes ist hierzu in der Regel nur das Erreichen der Altersgrenze (3 Jahre) erforderlich. Auch spielt es für den Anspruch generell keine Rolle, ob die Eltern berufstätig sind.
Allerdings kommt es vor, dass kein Platz mehr frei ist. In diesem Fall besteht zunächst Anspruch auf Zuweisung eines Platzes, sobald ein solcher frei wird. Bis dahin bzw. zur Überbrückung können die Eltern selbst einen Platz organisieren, z. B. in einer privaten Kindertagesstätte oder in einer privaten Tagesbetreuung. Die Kosten dafür muss die Gemeinde übernehmen.
Wenn Eltern den Beruf aufgeben müssen bzw. nicht arbeiten gehen können, weil kein Kita-Platz zur Verfügung steht, muss die Gemeinde nach Urteilen des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 20. Oktober 2016 womöglich auch den Verdienstausfall bezahlen. Das Gericht sieht nämlich eine Amtspflichtverletzung in Bezug auf die Pflicht zur Schaffung von Betreuungsplätzen, wenn trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs kein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt wird. Die betreffende Amtspflicht sei auch nicht durch die vorhandene Kapazität begrenzt.
Wichtig ist, dass der Antrag auf einen Kita-Platz möglichst frühzeitig und schriftlich gestellt wird. Eine Sonderregelung aufgrund des Diabetes gibt es jedoch nicht. Wenn Unterstützungsmaßnahmen benötigt werden, die von der Kita nicht gewährleistet werden können – z. B. das Messen des Blutzuckers/Ablesen des Glukosewerts oder die Überwachung der Nahrungsaufnahme – dann können zusätzlich Leistungen der Eingliederungshilfe/Integrationshilfe beantragt werden.
Das Grundgesetz (Art. 3, Abs. 3 Satz 2 GG) verbietet die Benachteiligung behinderter Menschen; staatliche Stellen müssen daher alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Eingliederung (Inklusion/Integration) sicherzustellen. Ein behindertes Kind – als Behinderung zählt auch eine chronische Krankheit wie Diabetes – darf nur dann gegen den Willen der Eltern an eine Förderschule verwiesen werden, wenn die Erziehung und Unterrichtung an der Regelschule nicht (mehr) seinen Fähigkeiten entspricht oder nur mit unzumutbarem Aufwand möglich ist.
Selbst dann wäre eine Förderschulüberweisung aber nur zulässig, wenn ein Besuch der Regelschule nicht durch angemessenen Einsatz von sonderpädagogischer Förderung ermöglicht werden könnte. Sofern der Einsatz einer Assistenz- oder Begleitperson notwendig ist, muss die Schule dies zulassen. (Nur) wenn die Schule wirklich zwingende Gründe nachweisen kann, dass ein behindertes Kind dort nicht (mehr) hinreichend betreut werden kann, wäre eine Verweisung auf eine andere, geeignetere Schule wohl zulässig (BVerfG, 1 BvR 91/06 vom 10.02.2006, Volltext im Internet auf www.diabetes-und-recht.de).
Lehrer und Kindergartenpersonal sind nicht verpflichtet, medizinische Behandlungsleistungen wie Blutzuckerkontrollen, Insulinabgaben oder krankheitsspezifische Mahlzeitenüberwachung vorzunehmen. Tatsächlich sind Lehrer und Betreuer aber meistens bereit, sich verstärkt um Kinder mit Diabetes zu kümmern und das Spritzen/Abgeben des Insulins über die Pumpe und Messen/Ablesen von Glukosewerten zu überwachen.
Oft haben Eltern allerdings aus Sorge um ihr Kind übersteigerte Erwartungen und geben sehr detailliert vor, um was die Lehrerin/der Lehrer sich kümmern soll. Und es gibt natürlich leider auch Lehrer, die grundsätzlich verweigern, solche Aufgaben zu übernehmen. Dies führt in der Praxis nicht selten zu Konflikten, die zu Lasten des Kindes gehen. Eltern sollten daher alles tun, um eine Konfrontation zu vermeiden, und im Gespräch versuchen, den Lehrern bzw. Erziehern die Angst zu nehmen.
In aller Regel sind Lehrer sehr engagiert und übernehmen freiwillig die notwendigen Überwachungs- und Hilfsaufgaben, so dass das Kind ganz normal am Unterricht teilnehmen kann. Manchmal klappt das aber nicht – in solchen Fällen stehen die Eltern vor einem massiven Problem: Ein Verbleib in der Schule oder ggf. die Teilnahme an Klassenfahrten wird dann nur möglich sein, wenn sichergestellt ist, dass nichts passiert.
Denkbar wäre es zwar, dass ein Elternteil diese Aufgaben übernimmt; dies ist aber – insbesondere bei Alleinerziehenden – nicht immer möglich und auch nur begrenzt zumutbar. Es wird in solchen Fällen daher regelmäßig eine Begleitperson benötigt, die das Kind beaufsichtigt und bei der Diabetestherapie hilft. Hierfür entstehen aber (erhebliche) Kosten, die sich viele Eltern nicht leisten können.
Seit vielen Jahren ist daher – bundesweit einheitlich – im Sozialgesetzbuch (SGB) vorgeschrieben, dass Kinder mit Behinderung vom Staat die Unterstützung bekommen müssen, die für einen Schulbesuch erforderlich ist (seit 2020: § 112 SGB IX, vormals § 54 SGB XII).
Für medizinische Leistungen (also z. B. das Blutzuckermessen oder die Insulingabe) kann bei der Krankenkasse eine entsprechende Hilfeleistung beantragt werden. Das deckt aber die notwendigen Überwachungsmaßnahmen nicht ab, denn dafür ist die Krankenkasse grundsätzlich nicht zuständig.
Eltern können daher auch bei der zuständigen Integrationsbehörde gemäß §§ 112, 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX eine Begleitperson als Leistung der sozialen Teilhabe beantragen (am besten schriftlich). Diese Integrationshilfe soll es betroffenen Kindern ermöglichen, einen Regelkindergarten bzw. eine Regelschule zu besuchen. Dies kann beispielsweise eine Begleitperson bzw. ein ambulanter Pflegedienst sein, der während der Schulzeiten vorbeischaut und dem Kind so einen Besuch der Regelschule ermöglicht. Alternativ kann die Unterstützung mit Zustimmung der Eltern gemäß § 116 SGB IX auch als pauschale Geldleistung gewährt werden, damit Eltern selbst eine Begleitperson beauftragen und bezahlen können.
Leider wissen viele Eltern nicht, dass es diese Ansprüche gibt. Und nicht selten werden Anträge auf eine Begleitperson von Ämtern bzw. der Krankenkasse unberechtigt abgelehnt – oder es kommt zwar zu einer Bewilligung, aber dabei wird dann das Einkommen der Eltern angerechnet.
Mehrere Gerichte haben in der Vergangenheit klargestellt, dass Kinder mit Diabetes im Bedarfsfall einen Anspruch auf notwendige Assistenzleistungen bzw. eine Begleitperson haben, wenn dies für die Teilnahme am Schulunterricht – gleiches gilt auch für Klassenfahrten bzw. Schullandheim – erforderlich ist (z. B. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.01.2017, L 15 SO 355/16 B ER; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 15.03.2017, L 4 SO 23/17 B ER).
Wichtig: Anträge von Eltern werden häufig abgelehnt, weil diese nicht ordnungsgemäß gestellt oder nicht richtig begründet sind. Die Diagnose Diabetes bzw. ein festgestellter Grad der Behinderung reichen allein nämlich noch nicht aus, um die Notwendigkeit einer Begleitperson nachzuweisen (so beispielsweise Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, L 8 SO 50/16 B ER, Beschluss vom 24.04.2017).
Ein Antrag auf Eingliederungshilfe sollte immer schriftlich gestellt werden. Vorgelegt werden sollte unbedingt eine ausführliche Bescheinigung des behandelnden Arztes, aus der hervorgeht, welche notwendigen medizinischen Maßnahmen (z. B. Insulingabe) das Kind (noch) nicht selbst vornehmen kann. Auch sollte begründet werden, warum ein Schulbesuch nur möglich ist, wenn diese Maßnahmen umgesetzt werden. Hilfreich ist es auch, wenn die Schule bestätigt, dass man dort nicht in der Lage ist, die notwendigen Maßnahmen sicherzustellen, und der Schulbesuch ohne eine Begleitperson gefährdet ist.
Ganz wichtig ist: Machen Sie im Antrag deutlich, dass es nicht um eine Behandlungspflege geht, für die die Krankenkasse zuständig wäre. Zweck der Begleitperson ist in erster Linie, dass dem Kind der Besuch der Schule – und damit die soziale Teilhabe – ermöglicht werden soll, da dies ohne die Assistenz nicht bzw. nur mit erheblichen und für das Kind nicht hinnehmbaren Einschränkungen möglich wäre.
In vielen Fällen ist es glücklicherweise möglich, dass die erforderlichen Assistenzleistungen von den Lehrern bzw. der Schule erbracht werden und somit gar keine Begleitperson nötig ist. Dafür brauchen Lehrerinnen/Lehrer aber eine entsprechende Schulung, um die Grundzüge der Diabetesbetreuung zu erlernen (z. B. Messen des Blutzuckers, Schätzen von Kohlenhydraten). Zudem bekommen Lehrer und Betreuer vermittelt, wie sie Unterzuckerungen frühzeitig erkennen und behandeln können.
Manchmal wird kritisiert, dass es bezüglich der Kostenübernahme solcher Schulungen keine bundeseinheitlichen Regelungen gebe. Dies kann ich nicht wirklich nachvollziehen, denn die gesetzlichen Ansprüche gibt es schon recht lange, und diese gelten natürlich auch bundesweit einheitlich:
Wenn eine Schulung der Lehrer erforderlich ist, damit dem Kind dadurch der Schulbesuch ermöglicht werden kann, dann stellt diese Schulung eine benötigte Leistung zur Eingliederungshilfe dar. Die Kosten hierfür müssten daher auf Antrag von den Ämtern übernommen werden.
Meines Wissens gibt es zur Kostenübernahme einer solchen Schulung zwar noch kein Urteil – das muss aber nichts bedeuten. Denn dies kann auch einfach nur daran liegen, dass aus Unwissenheit über die bereits vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten bislang schlicht noch gar keine entsprechenden Anträge gestellt wurden …
Manche Lehrer verweigern aus Angst vor einer Haftung kategorisch, im Fall einer Unterzuckerung die erforderliche Glukagonspritze zu verabreichen. Hier ist die Rechtslage aber ebenfalls eindeutig: Jedermann ist verpflichtet, anderen in Notsituationen bestmöglich zu helfen. Ein Lehrer macht sich im Zweifel also strafbar (§ 323c StGB), wenn er im Notfall wider besseren Wissens die Glukagonspritze nicht verabreicht.
Die Lehrer brauchen dabei auch keine Angst zu haben: Eine Haftung für etwaige Schäden trifft einen solchen „Nothelfer“ nur, wenn er nicht nach bestem Wissen und seinen Möglichkeiten handelt. Glücklicherweise werden derartige Konflikte aber wohl bald der Vergangenheit angehören: Seit Kurzem gibt es ein nasales Glukagon, welches nicht mehr gespritzt werden muss, sondern so einfach wie ein Nasenspray eingesetzt werden kann.
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Erschienen in: Diabetes-Journal, 2020; 69 (8) Seite 26-30
5 Minuten
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