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Klare Worte zum Diabetes kommen aus der Politik: "Wichtig ist, dass wir jetzt die Trendwende erreichen", erklärte die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Leider ist das Zitat aus dem Jahr 2006 und stammt von Marion Caspers-Merk. Gesagt hat sie das auf der Vollversammlung des Nationalen Aktionsforums Diabetes mellitus. Irgendwie hat das mit der Trendwende damals nur bedingt geklappt, zumindest wenn man auf die Diabeteszahlen blickt: Nannte der "Deutsche Gesundheitsbericht Diabetes" 2007 noch 7,5 Menschen mit Typ-2-Diabetes, sind es in der 2024er-Auflage 8,9 Millionen – mindestens. Immerhin sank die Anzahl an Neuerkrankungen von 2014 bis 2019 in der Altersgruppe der über 40-Jährigen um jährlich zwei Prozent.
Weniger weit zurück blickte die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) in einer Presse-Meldung Anfang Juli: Anlass war der vierte Geburtstag der "Nationalen Diabetesstrategie", sie war am 3. Juli 2020 vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden. Wer von dieser beeindruckend benannten Strategie noch nichts gehört hat, muss sich nicht schämen: Laut DDG "verstaubt sie unbeachtet in einer Schublade des Bundesgesundheitsministeriums" und wartet weiter auf eine Umsetzung. Zusammen mit diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe hat die Fachgesellschaft die sofortige Rückkehr der Nationalen Diabetesstrategie auf die gesundheitspolitische Agenda gefordert.
Derzeit verfolge das Ministerium statt einer solchen Strategie "ungenügende Einzelmaßnahmen". "Wir begrüßen es, dass sich Karl Lauterbach die Prävention auf die Fahnen geschrieben hat. Sein aktuell geplantes ‚Gesunde-Herz-Gesetz‘ kann den Ansprüchen einer gesamtgesellschaftlichen Präventionsstrategie jedoch nicht gerecht werden", kritisierte Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der DDG und Sprecherin Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK). Ein solches ganzheitliches Konzept muss nach Überzeugung der Experten die Bekämpfung nicht einzelner Volkskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Adipositas und Bluthochdruck zum Ziel haben, sondern aller zusammen.
Für das Gesunde-Herz-Gesetz liegt seit Mitte Juni ein Entwurf vor, der – nicht nur aus der Diabetologie – auch inhaltlich kritisiert wird, zum Beispiel wegen niedrigerer Schwellen beim Einsatz der wichtigsten Klasse Cholesterin-senkender Medikamente, der Statine. Bisher muss das Zehn-Jahres-Risiko für das Auftreten eines ersten Herz-Kreislauf-Ereignisses, zum Beispiel ein Herzinfarkt, mindestens 20 Prozent betragen, damit ein Statin verordnungsfähig ist. Einen "fragwürdigen Vorzug der medikamentösen Vorsorge zulasten von Präventionsangeboten der Krankenkassen" kritisieren DDG und diabetesDE hierzu.
© ms | Sisyphos musste einen Felsen immer wieder von Neuem den Berg hochrollen. Auf dem Diabetes Kongress 2024 zeigte DDG-Präsident Andreas Fritsche im Zusammenhang mit der Klinikreform diese Foto-Montage – sie passt auch zur Diabetes-Prävention.
"Das Vorhaben des BMG, Gelder für Präventionsangebote zugunsten einer Gießkannen-Versorgung mit Statinen umzuschichten, basiert auf keinerlei Evidenz. Eine vorsorgliche Versorgung mit Medikamenten ist geradezu fahrlässig", erläutert Dr. Jens Kröger, Internist und Vorstandsvorsitzender von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe. "Zudem widerspricht Lauterbachs ‚Pillenpolitik‘ der Grundidee von Prävention, verhaltenspräventive Maßnahmen zu stärken. Wir müssen verhindern, dass jede Minute ein Mensch neu an Diabetes erkrankt. Da helfen nicht Pillen, sondern individuelle, lebensstilverändernde Maßnahmen, die in ein gesamtgesellschaftliches, verhältnispräventives Konzept eingebettet sind", ergänzt Nicole Mattig-Fabian, Geschäftsführerin diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe.
"Es fehlt schon jetzt an ausreichender Ernährungs- und Bewegungsberatung, von der besonders Menschen mit Diabetes profitieren. Diese Angebote zu reduzieren, läuft am Ziel vorbei, da es die Notwendigkeit von Verhaltensprävention konterkariert." Das Fazit der Geschäftsführerin ist drastisch, "reiner Aktionismus" sei das.
Was Fach- und Lobby-Organisation schmerzlich vermissen, ist ein "Health in All Policies"-Ansatz. Sinngemäß verbirgt sich dahinter die Forderung, Ressort-übergreifend zu agieren: Für die ideale Prävention müssten weitere Gesundheits-relevante Ministeriums-Bereiche wie Ernährung, Sport, Bildung, Forschung, Verbraucherschutz, Arbeit, Soziales, Familie, Senioren, Frauen, Jugend, Umwelt, Verkehr und Stadtentwicklung eingebunden werden.
Zumindest hier schließt sich der Kreis: Bereits nach der Verabschiedung der Nationalen Diabetesstrategie 2020 wiesen DDG und diabetesDE darauf hin, dass im Beschluss das Bekenntnis zu verhältnispräventiven Maßnahmen noch fehle und hier Nachbesserungen notwendig seien. Die damals genannten Punkte sind allesamt heute noch aktuell, von bundesweit verpflichtenden Standards bei der Qualität der Kita- und Schulverpflegung über eine "Zuckersteuer" bis zur Regulierung der an Kinder gerichteten Lebensmittelwerbung. Im Zusammenhang mit dem dafür immerhin schon im Entwurf vorgelegten Kinderlebensmittel-Werbegesetz (KLWG) diagnostizierten DDG und Co. "politischen Stillstand".
Auch medizinisch gibt es Kritik an Lauterbachs Priorisierung des gesunden Herzens. "Er zäumt das Pferd von hinten auf und verkennt die Synergie, die zwischen Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf, Diabetes, Blutdruck und Adipositas entsteht", so Kröger. Es gebe eine Eskalations-Kaskade hin zu Herz-Kreislauf-Komplikationen, die vorzeitig unterbunden werden müsse. Herz-Check-ups seien da zu kurz gesprungen, da das Kind dann oft schon in den Brunnen gefallen sei.
Statt "fragmentierter Präventionsmaßnahmen" wollen DDG und diabetesDE eine kohärente und umfassende Strategie, um die Gesundheitsversorgung und Prävention in Deutschland nachhaltig zu verbessern. "Karl Lauterbach hätte so eine reelle Chance, seinem Anspruch als Präventionsminister gerecht zu werden", denkt DDG-Präsident Prof. Dr. Andreas Fritsche.
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