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Das 100-jährige Jubiläum der Entdeckung des Insulins hat man ausgiebig gefeiert, aber kaum einer weiß, dass schon kurz darauf der Gegenspieler des Insulins, das Glukagon, entdeckt wurde. Jahrzehntelang interessierten sich nur Grundlagenforscher für Glukagon. Dann wurde es für die Behandlung schwerer Hypoglykämien eingesetzt. Moderne Glukagon-Zubereitungen machen neuerdings die Anwendung einfacher.
John Raymond Murlin (1874 – 1960) am Institut für Physiologie der Universität in Rochester in den USA konnte 1923 die Wirkung des Glukagons nachweisen und gab ihm auch seinen Namen. Murlin hatte bereits vor 1916 versucht, aus Bauchspeicheldrüsen Insulin zu gewinnen. Aber dann musste er zur Armee, denn die USA waren in den ersten Weltkrieg eingetreten. Er hätte wahrscheinlich schon vor Banting und Best brauchbares Insulin gewonnen – aber wie im Fall von Scott, Zülzer und Paulescu verhinderte der Krieg weiteres Arbeiten an diesem Thema. Nach 1918 nahm Murlin mit seiner Arbeitsgruppe die Insulin-Forschung wieder auf und es gelang ihm sogar im Mai 1922, einen Fall von diabetischem Koma erfolgreich zu behandeln. In der US-Presse fand dies ein breites Echo. Aber in Toronto hatte man bereits im Januar desselben Jahres brauchbares Insulin hergestellt und somit verpasste Murlin nur um wenige Monate den Nobelpreis. Aber der Forscher bemerkte, dass es nach dem Spritzen seines Insulins rasch zu einer Erhöhung des Blutzuckerspiegels kam, erst danach wirkte das in den Präparaten enthaltene Insulin und der Blutzucker fiel ab. Murlin zog den richtigen Schluss aus seiner Beobachtung: Es musste in seinem Mittel neben Insulin eine weitere Substanz enthalten sein, die den Blutzuckerspiegel erhöhte. 1923 taufte er diese Substanz auf den Namen Glukagon – abgeleitet von Gluk(ose)agon(ist). Es gelang ihm aber nicht, Glukagon weiter zu reinigen, und Murlin wandte sich anderen Themen zu. Er wurde ein berühmter Ernährungsforscher und starb 1960 hochgeehrt im Alter von 86 Jahren.
Zwei Wissenschaftler, die später den Nobelpreis erhielten, machten die größten Fortschritte beim Erforschen des Glukagons. Der Belgier Christian Vicomte de Duve (1917 – 2013) arbeitete 1944 an der Universität Löwen in Belgien. Er bemerkte, dass es nach Injektion von Insulin von Eli Lilly zunächst zu einem kurzen Blutzuckeranstieg kam, nach Insulin von Novo war das nicht der Fall. Es musste also im Lilly-Insulin eine Substanz enthalten sein, die den Blutzucker erhöhte und die Novo aus seinem Präparat bereits entfernt hatte (auch Eli Lilly verbesserte kurz darauf den Reinigungsprozess). De Duve ging nach St. Louis ins Labor von Carl und Gerty Cori. 1947 erhielt das Ehepaar Cori den Nobelpreis für die Entdeckung des biochemischen Cori-Zyklus, den seither alle Medizinstudierenden auswendig lernen müssen. In diesem Labor arbeitete damals auch Earl Wilbur Sutherland (1915 – 1974), der 1971 den Nobelpreis erhielt.
Sutherland und de Duve beschrieben 1948 ein Hormon, das in der Leber gespeicherten Zucker abbaute und dadurch den Blutzuckerspiegel erhöhte. Später erkannte de Duve, dass es sich dabei um das bereits früher von Murlin beschriebene Glukagon handeln musste. De Duve entdeckte auch schon 1953, dass Glukagon wie Insulin in den Langerhans-Inseln der Bauchspeicheldrüse gebildet wird.
Ein großer Fortschritt war die Herstellung einer kristallinen Form von Glukagon. Dies gelang 1953 im Forschungslabor des Unternehmens Eli Lilly. Nun war die Herstellung sehr viel besser gereinigter Glukagon-Präparate möglich. Im selben Labor wurde auch die Zusammensetzung der Eiweiß-Bausteine des Glukagons aufgeklärt. Ein großes Problem blieb aber immer noch die genaue Messung des Glukagons im Blut. Der Durchbruch kam erst mit der Entwicklung der Radioimmunassays, die jahrzehntelang die Standardmethode zum Bestimmen von Eiweiß-Hormonen wurden. Den Radioimmunassay für Glukagon entwickelte der Texaner Roger H. Unger 1959. 1982 gelang es dann, das Gen für Glukagon zu entschlüsseln, und seit 1998 kann Glukagon gentechnologisch hergestellt werden. Mittlerweile ist klar, dass Glukagon nicht nur aus der Leber Glukose freisetzt, sondern es hat auch Wirkungen auf Fett- und Muskelzellen. Es hat sogar direkten Einfluss auf das Gehirn und vermindert dort das Hungergefühl – eine Wirkung, die neuerdings bei der Entwicklung von Medikamenten genutzt wird.
Während Insulin seinen Siegeszug in der Diabetes-Behandlung erlebte, spielte sein Gegenspieler Glukagon in der klinischen Medizin lange Zeit keine Rolle. Aber seit gereinigtes Glukagon in kristalliner Form verfügbar war, lag es nahe, es nicht nur zu Forschungszwecken, sondern auch zur Notfall-Behandlung von schweren Unterzuckerungen (Hypoglykämien) einzusetzen. Schon 1960 wurde dazu erstmals ein Glukagon-Präparat in den USA zugelassen. Angehörige konnten lernen, das Mittel im Fall einer Bewusstlosigkeit durch eine schwere Unterzuckerung zu spritzen. In einem von der amerikanischen Diabetes-Gesellschaft (American Diabetes Association, ADA) herausgegebenen Buch zur Fortbildung von Ärzten über Diabetes wird schon 1964 geraten, den Angehörigen die Glukagon-Injektion beizubringen. Die ersten Ärzte, die sich in Europa dafür einsetzten, bei Insulin-Behandlung generell die Angehörigen mit Glukagon zu versorgen, waren die Kinderärzte.
Allerdings war es nicht so einfach, den Angehörigen Zubereitung und Injektion von Glukagon beizubringen. Sie mussten die Spritze selbst zusammenbasteln, in das kristallin in einem Fläschchen vorliegende Glukagon Flüssigkeit hineinspritzen und die Lösung dann aufziehen. Einfacher wurde die Handhabung mit dem GlucaGen HypoKit, das es seit 1989 gibt.
Nicht die großen Insulinhersteller, sondern ein Start-up machte dann eine sehr hilfreiche Erfindung: Das kanadische Unternehmen Locemia Solutions entwickelte Glukagon-Pulver, das über die Nasenschleimhaut wirkt. Die überzeugenden Ergebnisse wurden 2015 auf dem Kongress der europäischen Diabetes-Gesellschaft (European Association for the Study of Diabetes, EASD) vorgetragen. Kurz darauf erwarb Eli Lilly die Rechte daran und brachte das Präparat schließlich unter dem Namen Baqsimi auf den Markt. Es behandelt eine schwere Unterzuckerung genauso wirksam wie gespritztes Glukagon. Angehörige, Kameraden in der Schule oder beim Sport haben viel weniger Angst, ein Nasenpulver anzuwenden, als eine Spritze zu setzen.
Mehrere Unternehmen haben stabile Lösungen von Glukagon entwickelt, die bei Zimmertemperatur haltbar bleiben. Das ist für die Behandlung im Notfall praktischer, denn das umständliche Lösen der Kristalle kann entfallen. Auch könnte man gelöstes Glukagon in Pumpen einsetzen, die neben Insulin auch Glukagon abgeben.
Im vom Unternehmen Zealand Pharma entwickelten Dasiglukagon sorgt die Veränderung von sieben Aminosäuren für stabile Löslichkeit. Zealand Pharma kooperiert jetzt mit Novo Nordisk. Das Mittel wird bereits in den USA unter dem Handelsnamen Zegalogue vertrieben. Xeris Pharmaceuticals in Chicago entwickelte ein Mittel, in dem das weit verbreitete Lösungsmittel Dimethylsulfoxid Glukagon stabil in Lösung hält. Es wird in Europa unter dem Handelsnamen Ogluo vertrieben. Mit beiden Mitteln können Angehörige eine schwere Unterzuckerung erfolgreich behandeln.
Eine schwere Unterzuckerung mit Bewusstlosigkeit sollte so schnell wie möglich wirksam behandelt werden. Deshalb sind die neuen Glukagon-Präparate ein sinnvoller Fortschritt. Ob in die Nase gesprüht oder als fertige Lösung gespritzt – beides erlaubt eine rasche Behandlung. Zwar wird von den meisten Kostenträgern für die neuen Präparate eine Zuzahlung verlangt, aber auch den Feuerlöscher für das Auto muss man selbst bezahlen. Bei einem mit Insulin behandelten Menschen kann eine schwere Unterzuckerung mit Bewusstlosigkeit leider häufiger vorkommen als der Brand ihres Autos. Nachuntersuchungen haben gezeigt, dass in vielen Fällen mit der Gabe von Glukagon durch Angehörige Aufenthalte im Krankenhaus und Einsätze von Notärzten verhindert werden können.
Nicht bei jeder Behandlung mit Insulin ist das Risiko einer schweren Unterzuckerung gleich groß. Bei vielen kommt es nie zu diesem Problem. Besonders gefährdet sind mit Insulin behandelte Menschen, bei denen schon einmal eine schwere Unterzuckerung mit Bewusstlosigkeit vorgekommen ist. Denen würde ich persönlich raten, immer zwei Packungen mit Glukagon zur Verfügung zu haben. Wer schon einmal eine schwere Unterzuckerung erlebt hat, wird diese Meinung teilen. Bei einer schweren Unterzuckerung liegt man keineswegs still da. Im Gegenteil: Es kann zu erheblicher Unruhe und sogar zu Krampfanfällen kommen. Dabei kann es durchaus passieren, dass das Nasenpulver nicht an die richtige Stelle gelangt. Dann kann es besser sein, wenn noch ein Ersatz verfügbar ist.
In Rahmen der ersten Schulung nimmt man es noch sehr ernst, Lebenspartnerinnen und -partnern den Gebrauch von Glukagon beizubringen. Aber im weiteren Verlauf, möglicherweise auch mit neuen Partnerinnen und Partnern, lässt das nach und Vertrauenspersonen werden nicht mehr mit dem Umgang mit Glukagon vertraut gemacht. Das ist verständlich, denn man möchte in einer neuen Beziehung nicht gleich über die Möglichkeit so einer Notfall-Behandlung sprechen.
Achten sollte man auf das Verfallsdatum der Packungen und sich ggf. eine neue Packung verschreiben lassen. Der Sicherheitsgurt im Auto wird auch regelmäßig vom TÜV kontrolliert – genauso ist auf noch brauchbares Glukagon zu achten.
Auch moderne Technologien wie Insulinpumpen und kontinuierliche Glukose-Messungen machen es nicht unnötig, Glukagon verfügbar zu haben. Schwere Unterzuckerungen mit Bewusstlosigkeit kommen bei diesen modernen Methoden zwar seltener vor, aber auch damit können die Glukosewerte mitunter stark absinken.
Bei den Recherchen zum 100. Geburtstag des Glukagons ist mir etwas aufgefallen: Wer an Glukagon forschte, wurde sehr alt! Banting und Macleod, die den Nobelpreis für Insulin erhielten, lebten danach nicht mehr lange. Banting starb schon mit 49 Jahren nach einem Flugzeugabsturz, Macleod wurde nur 58 Jahre alt. Demgegenüber hatten die Glukagon-Forscher ein langes Leben. Der Entdecker des Glukagons, Murlin wurde 86 Jahre alt, Unger, der die Glukagon-Messung entwickelte, wurde 96 Jahre alt und der in Belgien sehr berühmte Nobelpreisträger de Duve nutzte, schwer erkrankt, im Alter von 95 Jahren die damals erst seit Kurzem bestehende Möglichkeit zur Sterbehilfe, für die er sich zuvor eingesetzt hatte.
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (6) Seite 36-39
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