Ulrike Thurm: Mit Leidenschaft unterwegs für Diabetes und Sport

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Ulrike Thurm: Mit Leidenschaft unterwegs für Diabetes und Sport
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Ulrike Thurm: Mit Leidenschaft unterwegs für Diabetes und Sport

Diabetesberaterin Ulrike Thurm wurde während des Diabetes Kongresses im Mai in Berlin die Ehrenmedaille der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) überreicht. Im Interview erzählt sie über ihr Leben mit Typ-1-Diabetes, mit Sport und in der Diabetologie.

Herzlichen Glückwunsch zur Ehrenmedaille der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Wie war die Verleihung?

Ulrike Thurm: Unglaublich. Sprachlos. Der Moment, als ich auf die Bühne gegangen bin und sich dann das Auditorium erhoben hat… Viele, die da saßen, kamen und kommen ja auch aus dem Sportbereich, was auch bedeutet, die sind durchaus affin, auf Sportveranstaltungen Leute anzufeuern und zu pfeifen und zu klatschen. Das Ausmaß des tosenden Beifalls, das war schon immens bewegend und hat mich extrem beeindruckt – diese Wertschätzung in diesem Rahmen und in diesem Umfang, in dieser Lautstärke und Intensität zu erfahren.

Was bedeutet diese Auszeichnung für Dich?

Thurm: Ich fand es total schade, dass ich keine Möglichkeit hatte, da zumindest einen Satz zu sagen. Und dieser Satz wäre gewesen: Die Auszeichnung gehört nicht mir, sondern die Auszeichnung gehört dem ganzen Team, was dazu beigetragen hat. Ohne die Sportlerinnen und Sportler mit einem Typ-1-Diabetes, mit denen ich gearbeitet habe, von denen ich viel gelernt habe, die ich unterstützen und begleiten durfte in ganz vielen Wettkämpfen zu nationalen Erfolgen, zu Goldmedaillen und zum Gewinn von Meisterschaften, hätte ich diese Erfahrungen nie sammeln können, zusammentragen und weitergeben. Deswegen ist das nicht nur mein Erfolg, sondern ein Erfolg für alle Sportlerinnen und Sportler und auch ein Erfolg vom Challenge-D-Team, die ja auch involviert sind.

Und es ist mir total wichtig, dass es mit Professor Dr. Michael Berger damals in Düsseldorf angefangen hat. 1987, als ich mein erstes Abstract in Aachen auf dem Kongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft vorgestellt habe als Poster zum Thema Kenntnisstand der Sportlehrer bei der Betreuung von Kindern mit Typ-1-Diabetes, hat er schon damals gesagt: „Mensch, im Bereich Diabetes und Sport, da gibt es im Moment nichts. Hätten Sie nicht Lust, für mich zu arbeiten und da in dem Bereich mal was beizutragen?“ Natürlich wollte ich das und nur durch Professor Berger, der mir da den ersten Schritt oder den Weg in die Welt der Diabetologie eröffnet hat, wurde das alles möglich. Deswegen ist es für mich wirklich eine Teamleistung, angefangen vom Team um Professor Berger bis hin jetzt zum Team Challenge D in Bayreuth, aber ganz besonders durch und mit der Unterstützung aller Sportlerinnen und Sportler mit Typ-1-Diabetes.

Das ist eine sehr, sehr lange Geschichte. In welcher Position oder mit welchem Beruf hat Professor Michael Berger Dich damals in sein Team geholt?

Thurm: Ich bin von Hause aus eigentlich Sportlehrerin. Als ich damals meine Examensarbeit geschrieben habe, kam die Professorin auf mich zu und sagte: „Ulrike, wir veröffentlichen deine Staatsexamensarbeit als Poster auf dem DDG-Kongress.“ Ich war damals noch nie auf dem Kongress gewesen und für mich waren Poster bunte Bilder, die man an die Wand hängt. Also, ich hatte keine Ahnung. Da habe ich zu meiner Professorin gesagt: „Nee, tut mir leid, das können wir nicht machen mit dem Poster, weil ich in dieser Staatsexamensarbeit nicht so viele Fotos habe.“ Weil ich gar keine Ahnung hatte, was ein Poster war auf einem Kongress. Das habe ich dann gelernt und habe eben 1987 mein erstes Poster auf dem Kongress ausgestellt – und besuche diesen Kongress seit 1987 alljährlich.

War das dann für Dich auch der Startschuss?

Thurm: Das war für mich der Startschuss. Da stand ich dann vor diesem Poster – und dann kam Professor Berger auf mich zu mit seinem unglaublichen Charisma – und meine Literaturliste bestand zu 50 Prozent aus seinen Büchern. Außerdem war er ein imposant großer Mann. Also, er stand dann vor mir, guckte auf mich runter und fragte mich, ob ich bei ihm arbeiten wolle. Und das war dann mein Weg, mein Schritt in eine neue auch Lebenswelt für mich, weil ich ja Sportlehrerin werden und nicht im medizinischen Bereich arbeiten wollte. Das mit dem Sportlehrer ging damals aufgrund des Typ-1-Diabetes nicht. Und wenn die eine Tür zugeht, geht die andere Tür auf. Für mich ein neuer-Weg, und so habe ich meinen Weg in die Diabetologie und in den Bereich Diabetes und Sport gefunden.

Du hast gesagt, Sportlehrerin ging wegen des Typ-1-Diabetes nicht. Also, Du hast selbst Typ-1-Diabetes. Und warum ging das mit dem Sportlehrerinnensein nicht?

Thurm: In der damaligen Zeit, Mitte der Achtzigerjahre, gab es kaum Blutzucker-Selbstkontrolle. Das ging gerade erst los mit den visuellen Teststreifen, die aber noch gehandelt wurden wie Goldstaub. Ich habe damals versucht, irgendwie die Streifen zu halbieren oder zu dritteln, um mit diesem Goldstaub so vorsichtig wie möglich umzugehen. Aber in der damaligen Zeit war es halt so, dass Schulkinder auch noch vom Schulsport ausgeschlossen wurden, weil es zu gefährlich war.

Auch in den Leitlinien der DDG, das war Anfang der 80er Jahre, stand, Menschen mit Typ-1-Diabetes dürfen keinen Sport im Freien machen und keinen Mannschaftssport und immer nur die identische körperliche Aktivität zur selben Zeit in der gleichen Intensität. Das heißt, jeden Tag um 17 Uhr eine halbe Stunde bei 80 Watt auf dem Heimtrainer, weil Bewegung in der damaligen Zeit dazu genutzt wurde, um eine mangelhafte Insulintherapie auszugleichen. Das war noch mit NPH-Insulin morgens und abends und da sollten sich die Leute dann immer von 17 bis 18 Uhr irgendwie bewegen, damit durch das dann nachlassende NPH-Insulin die Glukosewerte nicht anstiegen. Ja, das waren noch Zeiten. Und da wurde auch für mich als Sportlehrerin das Risiko als zu hoch angesehen.

Durch deinen Beginn bei Professor Berger in Düsseldorf begann dann, dass Du Dich so intensiv um das Thema Diabetes und Sport gekümmert hast. Wie hast Du es in der damaligen Zeit, die Du ja eben sehr plastisch geschildert hast, geschafft, so mutige Wege zu gehen, wie Du es getan hast?

Thurm: Es gibt doch den Spruch von den Hummeln. Die wissen nicht, dass sie nicht fliegen können, also fliegen sie einfach. Und damals war es so, dass Ende der 80er-Jahre in Amerika die IDAA, also die International Diabetes Athletes Association, gegründet wurde. Das war 1985. Da sind zum allerersten Mal Menschen mit Typ-1-Diabetes einen Marathon gelaufen. Mit Günter Poggemann, einem unserer Gründungsmitglieder 1990, habe ich die IDAA in Deutschland gegründet. Der ist damals einen Marathon gelaufen und sein Sportskollege stand alle 5 Kilometer und hat ihn mit Knäckebrotscheiben gefüttert, weil Zucker ja noch mit der Androhung des sofortigen Todesfalles verboten war. Aber er hat es geschafft. Und damals haben wir dann sehr mutige Dinge getan. Wir haben versucht, gleich einige Verbote zu entkräften. Zum einen gab es noch das Nachtarbeitsverbot für Menschen mit Typ-1-Diabetes.

Wir sind dann im Mai von Mainz – dort war der Kirchheim-Verlag, in dem das erste Diabetes- und Sportjahrbuch auf den Weg gebracht wurde, damals hieß es noch Mellituslauf – mit 15 Menschen mit Typ-1-Diabetes, auch aus Amerika mit Paula Harper, der internationalen IDAA-Gründerin, einem Franzosen, einem Engländer, einem blinden Amerikaner, Angelo, nonstop mit dem Rad nach Düsseldorf gefahren.

In Düsseldorf fand gerade der WHO-Kongress Diabetes und Sport statt. Da sind alle davon ausgegangen, wenn man denen erzählt hat, dass knapp 20 Typ-1er mit dem Fahrrad durch die Nacht radeln, dass die alle sterben. Sind wir aber nicht. Wir haben damals natürlich schon die Therapie angepasst, mit ein bisschen anderen Bedingungen. Jede Stunde musste der ganze Tross anhalten und es wurde blutig gemessen und entsprechend den Werten dann Kohlenhydrate zugeführt. Wir haben im Vorfeld im Schwesternwohnheim am Fließband Brötchen geschmiert. Und dann gab es Cola und Brötchen. Das möchte man heute auch keinem mehr erzählen, aber es waren andere Zeiten.

Ulrike Thurm (vordere Reihe, 6. von links) spielt auch aktiv mit beim FC Diabetologie.
Foto: diabetesDE/Dirk Deckbar

Ja, dann sind wir in Düsseldorf angekommen. Und der Kongress war damals am Rhein im Kongresszentrum und wir mussten noch entlang dem Rhein fahren, wo gerade der verspätete Karnevalsumzug statt, der wegen Sturms im Februar nicht stattfinden konnte. Das werde ich nie vergessen, wie wir mitten in diesen Karnevalsumzug gekommen sind. Wir haben uns einfach eingereiht. Dann kamen wir an beim Kongress. Da standen dann die ganzen Männer, damals noch im Frack, weil sie ein edles Abendessen in der Schnellenburg hatten und darauf warteten, dass wir nicht ankommen würden, weil wir ja inzwischen verstorben waren (lacht). Dann kamen wir aber alle an – und die waren total fassungslos, weil sie geglaubt hatten, es geht nicht, dass man sowas überleben kann.

Die waren so beeindruckt, dass sie gesagt haben, wir sollen jetzt mitkommen in die Schnellenburg. Wir waren ja nachts um 23 Uhr losgefahren, hatten uns in der Zwischenzeit nicht umgekleidet, hatten nicht geduscht. Man roch uns, bevor man uns sah – und sind dann aber alle so verschwitzt, wie wir waren, mit in die Schnellenburg gegangen und haben mit ihnen zu Abend gegessen. Die waren total beeindruckt und haben gefragt: „Wie habt Ihr das gemacht?“ Ich habe ihnen dann von Dosis-Reduktion und Reduktion der Basalrate – damals hatte ich schon eine Insulinpumpe – oder des basalen Insulins und stündlicher Messung und Erhöhung der Kohlenhydratzufuhr erzählt. Und dass man sowas bedarfsgerecht machen kann, wenn man entsprechend geschult wurde.

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Dass sowas überhaupt stattfindet, haben wir auch Professor Berger zu verdanken, der immer gesagt hat, jeder Mensch mit Typ-1-Diabetes muss so geschult werden, dass er sein eigener bester Diabetologe ist. Ich meine, ansonsten hätten wir das nie tun können, wenn wir nicht selbst in die Lage versetzt worden wären, unsere Therapie anzupassen. Und das haben wir dann getan, erfolgreich getan. Das wurde auch publiziert.

Und so haben wir uns von einem Projekt ans Nächste gewagt, bis wir dann Mitte der 90er-Jahre nach Papua-Neuguinea geflogen sind, um dort das weltweite Tauchverbot zu kippen. Wir sind 1996 auf den Monte Rosa gestiegen, um zu gucken, was Blutzuckermessgeräte in großer Höhe und bei großer Kälte machen. Da haben uns dann die Nichtdiabetiker unsere ganzen Not-BEs weggegessen (lacht). Ja, das waren alles Stufen, wo wir versucht haben, uns erstmal gegen die bestehenden Verbote zu wenden. Und jetzt geht es halt darum, dass wir das in der Form weitermachen. Es gibt jetzt nicht mehr so viele Verbote.

Die aktuellen Herausforderungen sind, die Erkenntnisse, die wir gesammelt haben, auf die moderne Technologie, die AID-Systeme, zu übertragen. Damit das besser gelingt, haben wir, ein Team um Dr. Bernhard Gehr, auch das Schulungsprogramm SPECTRUM geschrieben und ganz aktuell mit einem Autoren-Team die AID-Fibel. Das ist eine komplett andere Nummer, da muss man bei jedem Algorithmus anders vorgehen. Auch da wollten wir wieder vorangehen oder voranlaufen. Da haben Bernhard Gehr und ich auch, basierend auf unserer gemeinsamen Diabetes- und Sportfibel, Anhänge zum Downloaden auf der Shop-Seite der MedtriX Group veröffentlicht.

Wann war dann deine Weiterbildung zur Diabetesberaterin?

Thurm: 2001. Das war spät, weil ich ja immer bei Berger in der Klinik war und damals wurde die Ausbildung zur Diabetesberaterin erst entwickelt und auf die Füße gestellt. Da habe ich natürlich bei der Entwicklung mitgeholfen und habe ab Anfang der 90er-Jahre schon immer mit unterrichtet.

Du warst im Prinzip Diabetesberaterin, ohne es formal zu sein?

Thurm: Richtig. Mir fehlte dann im wahrsten Sinne des Wortes der Schein. Ich war immer in der in der Ausbildung mit aktiv gewesen, hatte aber die Prüfung nicht gemacht, weil es sich nie ergeben hatte. Und dann ging irgendwann das Thema mit den Schwerpunktpraxen los. Das heißt, man arbeitete nicht mehr in der Klinik – ich habe ja erst bei Professor Berger gearbeitet, dann war ich ein Jahr in Australien und habe in Sydney in der Diabetesklinik gearbeitet und dann habe ich bei Professor Landgraf in München gearbeitet.

Als ich dann in die Praxis gegangen bin, sagte der Arzt: „Ich brauche noch Ihren Diabetesberaterinnen-Schein.“ Klar, ich unterrichtete da schon seit 10 bis 12 Jahren die Beraterinnen auch mit – ohne den Schein selbst zu haben. Und dann bin ich 2001 nach Rheine gegangen zur Weiterbildung für Diabetesberaterinnen, habe das dann nachgeholt. Das hat zu total kuriosen Situationen geführt, weil die anderen Referenten, als sie mich da haben sitzen sehen, gesagt haben: „Ach, Ulrike, Du hospitierst. Ist das jetzt eine neue Evaluation, dass der Unterricht hospitiert wird?“

Und so… Ich: „Äh, nein, ich bin Teilnehmerin.“ „Nein, jetzt mal im Ernst: Was willst Du hier?“ Das war selbst in meiner Prüfung noch so. Als Alexander Risse, den ich noch kenne, als er kleiner Assistenzarzt war und wir in Düsseldorf und Dortmund zusammengearbeitet haben, mich dann 2002 geprüft hat, hat er gesagt: „Ach, Ulrike, bist Du jetzt hier hospitierend unterwegs?“ Und ich: „Nein, Alex, Du musst mich jetzt prüfen.“ „Hahaha“, hat er gesagt, „was willst Du hier von mir geprüft werden?“ Es hat zwei Minuten meiner Prüfung gedauert, um ihm klarzumachen, dass das kein Fake ist, sondern dass ich wirklich jetzt noch irgendwie geprüft werden wollte.

Du hast bei deinen Berichten eben sehr plastisch erzählt, wir haben das und das gemacht und wir haben angepasst. Wir haben gesenkt, erhöht, was auch immer. Welchen Vorteil siehst Du darin, dass Du selbst Diabetes hast, also Typ-1-Diabetes, und Dich so intensiv um Menschen mit Diabetes und vor allem um Menschen mit Diabetes, die Sport treiben wollen, kümmerst?

Thurm: Dass ich das Ganze aus zwei Blickwinkeln betrachten kann: einmal in der Theorie und einmal der Praxis. Und dass ich, da ich selbst Leistungssport betrieben habe seit meinem fünften oder sechsten Lebensjahr, den Wunsch der Leistungs- und Profisportler total nachvollziehen konnte, dass ihr Körper ihr Kapital ist. Und wenn der funktioniert, haben sie am meisten Spaß, Freude und Erfolg.

Wenn der nicht funktioniert, funktioniert es auch irgendwie im Sport nicht, was für sie existenziell ist, und dementsprechend ist diese Betreuung der Sportler eine komplett andere Nummer als bei vielen anderen Menschen mit Diabetes, weil die Sportler so unglaublich intrinsisch motiviert sind. Die haben zum einen eine unglaubliche Disziplin, weil sie das durch Training gewöhnt sind. Man isst zu gewissen Zeiten gewisse Mengen und man muss dann und dann trainieren. Und wenn man schlecht trainiert, weiß man, stellt mich der Trainer nicht auf oder verpasse ich einen Lehrgang oder werde nicht nominiert oder erreiche keine Bestzeiten. Dementsprechend sind sie zu 100 Prozent auch fokussiert darauf, dass die Diabetes-Einstellung perfekt läuft, weil nur mit einer perfekten Diabetes-Einstellung eine perfekte körperliche Leistungsfähigkeit möglich ist.

Da fand ich den Ausspruch von Timur Oruz so schön, der gesagt hat beim Challenge D: „Als Profisportler habe ich einen Mannschaftstrainer, ich habe einen Fitnesstrainer, ich habe einen Athletiktrainer oder Coach, und um meine bestmögliche Leistung erbringen zu können, habe ich dementsprechend auch den bestmöglichen Diabetes-Coach, denn nur mit perfekten Werten kann ich diese perfekte Leistung bringen.“

Und wenn man das selbst gemacht und erlebt hat, kann man sich ganz anders reinfühlen…

Thurm: Ja. Und durch meine jahre- und jahrzehntelange wissenschaftliche Arbeit durfte ich mir auch das entsprechend fundierte Hintergrundwissen aneignen. Der eigene praktische Hintergrund ist für das Verständnis wichtig. Aber für die Therapieanpassung ist natürlich ein sehr fundiertes diabetologisches Fachwissen erforderlich. Um dieses Wissen auch mit den Diabetesteams und Menschen mit einem Typ-1-Diabetes zu teilen, habe ich, wie oben erwähnt, als Diabetesberaterin gemeinsam mit Bernhard Gehr die Diabetes- und Sportfibel und die CGM- und Insulinpumpenfibel geschrieben. Inzwischen schreibe ich auch in der Leitlinienkommission beim Thema Sport und Typ 1 an den Leitlinien mit. Das heißt, es ist nicht der eigene praktische Hintergrund, der ist für das Verständnis wichtig. Aber für die Therapieanpassung ist wirklich auch das fundierte medizinische Hintergrundwissen wichtig.

Gibt es ein Ereignis in deiner langen Laufbahn, über das Du Dich besonders ärgerst, und vielleicht auch eins, auf das Du besonders stolz bist?

Thurm: Bei besonders stolz könnte ich bis morgen früh reden. Da waren so viele tolle Erlebnisse dabei. Angefangen 1992, als wir von den Organisatoren der Paralympischen Spiele in Barcelona eingeladen worden waren, bei der Eröffnung teilzunehmen. Da sind wir von Brüssel nach Barcelona geradelt, also haben das Ganze nochmal getoppt, haben in allen größeren Städten entlang der Route, also von Belgien über Deutschland, die Schweiz, Frankreich, Spanien, Katalonien, in allen großen Städten angehalten und große Abendveranstaltungen gegeben und dann gezeigt, dass Diabetes und Leistungssport möglich ist. Eddy Merckx hat uns damals auf den Weg geschickt.

Als wir ankamen in Barcelona, wurden wir von einer Polizei-Eskorte und 200 Radfahrern abgeholt und wurden durch Barcelona eskortiert mit Straßensperrungen überall – wir kamen uns vor wie die Tour de France, also Wahnsinn – und wurden dann im Rathaus empfangen und kriegten da eine echte olympische Medaille umgehängt. Das war ein echtes Highlight! Oder als es uns gelungen ist, dieses weltweite Tauchverbot aufzuheben.

Links: Fußballerin Sandra Starke feierte mit Ulrike Thurm den Gewinn der Meisterschaft. Rechts: Auch Marathon-Läufe hat Ulrike Thurm mehrfach bewältigt.

Aber auch menschliche Begegnungen wie mit Sandra Starke. Als sie mit dem VFL Wolfsburg Meisterschaft und Pokal, also das Double, gewonnen hatte, hatte sie mich zur Meisterfeier eingeladen. Ich bin ja selbst seit Jahrzehnten begeisterte Fußballerin – mit meiner Mannschaft habe ich zweimal im Berlin-Pokal im Finale gestanden, nicht Bundesliga, aber nicht so weit entfernt. Und als dann Sandra mit den ganzen VFL-Spielerinnen übers Feld hüpfte, waren da natürlich auch so meine Heldinnen, Alexandra Popp, Svenja Huth und Tabea Waßmuth und, ja, die ganzen Nationalspielerinnen, die man sonst nur im Fernsehen sieht.

Dann kam Sandra mit der Meisterschale auf mich zu und ich dachte, sie kommt mit der Schale auf mich zu, damit ich ein besseres Foto von ihr machen kann, und habe mich total gefreut. Und dann hat sie mir diese Schale in die Hand gedrückt und gesagt: „Ich wollte dir danken für all deine Unterstützung und Hilfe bei der Diabetes Einstellung. Ohne deine Hilfe oder also besser ohne Eure Hilfe von Challenge D wäre es mir niemals möglich gewesen, diese Erfolge weiterhin erringen zu können. Und deshalb gehört ein Teil dieser Schale dir.“

Ich musste wirklich die Schale selber in die Hand nehmen und hochhalten und dann haben wir gejubelt. Das war so ein Moment, wo mir immer noch auch beim Erzählen fast die Tränen kommen, weil das eine solche Wertschätzung gezeigt hat – der Sportlerinnen und Sportler, der Profis, die ich jetzt bei Challenge D begleiten und betreuen darf. Das sind die Momente, wo ich denke: Wow, ich habe immer noch den besten Job in dieser Welt und ich mache das immer noch mit der gleichen Begeisterung und Leidenschaft seit 1987 an.

Super, echt spannend! Aber gibt es denn irgendwas, worüber Du Dich auch ärgerst?

Thurm: Ich überlege gerade… Ich ärgere mich über die aktuelle Situation in der Diabetologie, was uns allen, glaube ich, irgendwie Sorgen macht. Wenn die Babyboomer-Generation jetzt aufhört, wie viele diabetologische Praxen werden schließen? Wie viele Diabetesberaterinnen werden aufhören, wie wird die Betreuung weitergehen? Das sind Sachen, über die ich mir arge Sorgen mache, wenn ich mir das durchschnittliche Alter der Diabetologinnen und Diabetologen angucke. Und die Nachwuchsprobleme, die wir in dem Sektor haben, bei steigender Anzahl der Menschen mit einem Diabetes, da mache ich mir Sorgen, wie diese Betreuung in der Zukunft weiterhin so in der Qualität durchgeführt werden kann.

Du blickst auch gerade schon selbst, jetzt allerdings mit Sorgenfalten, in die Zukunft. Wie lange wirst Du denn noch für Menschen mit Diabetes beruflich da sein? Und wenn Du aufhörst, was hast Du danach vor?

Thurm: Das weiß ich noch nicht. Ich besitze keine Glaskugel, das heißt, jetzt zu sagen, ich mache noch vier oder fünf Jahre weiter. Da habe ich, ehrlich gesagt, keine konkreten Pläne, dass ich jetzt noch vier oder fünf Jahre arbeiten werde und danach dann nach Australien auswandere oder so. Ich möchte so lange weiterarbeiten, wie ich das Gefühl habe, dass mein Input im Rahmen der Diabetologie noch gewünscht und gefragt ist, solange ich das Gefühl habe, auch mit meinen ganzen Vorträgen, Workshops, Publikationen kann ich den Menschen mit Diabetes, aber auch meinen Kolleginnen und Kollegen und den Diabetes-Teams, kann ich die noch unterstützen. Und was danach kommt, das wird sich dann zeigen. Aber das ist was, worüber ich mir dann Gedanken mache, wenn es so weit ist. Da habe ich jetzt noch keine Pläne.

Das heißt, wir können mit dir noch über Jahre und Jahrzehnte rechnen. Wir müssen nicht darauf verzichten, dass Du die Hilfe anbietest und Unterstützung, die Du jetzt seit Jahrzehnten den Menschen gibst?

Thurm: Ich glaube, es ist irgendwann nicht mehr authentisch, wenn ich am Rollator gehend was über Diabetes und Sport erzähle. Natürlich weiß ich auch, dass all diese Dinge endlich sind, und ich auch glaube, irgendwann ist der Punkt gekommen, wo man – Vergleich mit Toni Kroos: Auch der hätte noch durchaus auf sehr hohem Niveau weiter Fußball spielen können, aber er hat gesagt, jetzt hört er auf, weil er bestimmen kann, dass der Punkt gekommen ist, wo er mit seiner bestmöglichen Leistung noch die Mannschaft unterstützen kann.

Sowas würde ich mir auch von mir wünschen, dass ich dann irgendwann selber feststelle: Okay, ich habe das Gefühl, ich bin jetzt an einem Punkt, da kannst Du nichts Essenzielles mehr beisteuern, was wirklich die Menschen unterstützt. Dann möchte ich es sein, die sagt: Okay, alles klar, dann höre ich auf, bevor ich bei irgendwelchen Kongressen das Gefühl habe: „Oh, die Thurm schon wieder…“ So möchte ich nicht aufhören.

Dann drücke ich dir die Daumen, dass es so kommt, wie Du dir das wünschst und vorstellst, und danke dir ganz herzlich für dieses Gespräch.


Interview: Dr. Katrin Kraatz

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