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Wer eine Gefängnisstrafe verbüßt, hat nur bedingt Einfluss auf Art und Zeitpunkt von Mahlzeiten, kann nur zu festgelegten Zeiten Sport treiben und darf kein Smartphone nutzen. Was bedeutet das für Gefangene mit Diabetes und ihre Therapie? Und wie beeinflussen diese Rahmenbedingungen die ärztliche und pflegerische Versorgung hinter Gittern? Unsere Autorin Antje Thiel hat sich für ihre Reportage über Diabetes im Gefängnis in zwei Hamburger Haftanstalten umgesehen und mit medizinischem Personal sowie einem Insassen gesprochen.
Das Hamburger Untersuchungsgefängnis ist ein respekteinflößender roter Backsteinbau. Die hohen Mauern und Zäune, die ihn umgeben, sind zusätzlich mit Nato-Draht gesichert. Im Innern dieser Festung gibt es ein Zentralkrankenhaus, in dem von Allgemeinmedizin, Innerer Medizin über Augenheilkunde, Chirurgie und Zahnmedizin bis zur Infektiologie nahezu alle ärztlichen Fachrichtungen vertreten sind. Hier können neben den Untersuchungsgefangenen auch Strafgefangene anderer Hamburger Justizvollzugsanstalten (JVA) behandelt werden. Eine Ambulanz, wie sie auch jede andere Haftanstalt vorhält, kümmert sich um die kontinuierliche medizinische Versorgung der Insassen. Hier bin ich mit JVA-Bediensteten verabredet, die mir Einblick in ihre Arbeit gewähren wollen.
Am Eingang muss ich meinen Personalausweis und mein Smartphone abgeben. Ebenso wie für Insassen und Bedienstete, gilt auch für Besucherinnen und Besuchern hinter Gittern striktes Handyverbot. Während meines Aufenthalts in der JVA kann ich also nicht mit einem Blick auf das Smartphone-Display meine Glukosewerte checken, sondern muss auf Blutzuckermessungen ausweichen. Für einen Tag lässt sich das verschmerzen. Doch auf Dauer würde ich für die Therapie meines Typ-1-Diabetes nur ungern auf moderne Diabetes-Technologie verzichten.
Dazu erklärt mir Magnus Magnussen: „Medizinprodukte, die elektrisch betrieben werden, sind im Gefängnis nicht ohne Weiteres einsetzbar.“ Er ist in der Untersuchungshaftanstalt für die zentrale Beschaffung der gesamten medizinischen Ausstattung zuständig – vom Röntgengerät über Verbandmittel bis hin zu Blutzuckermessgeräten. Hintergrund für das Smartphone-Verbot sind zum einen allgemeine Sicherheitsbedenken. Schließlich nutzen Kriminelle gern verschlüsselte Mobiltelefone und entsprechende Kryptodienste für ihre krummen Geschäfte. Auch strenge Auflagen in Bezug auf die IT-Datensicherheit erschweren den Einsatz moderner Systeme innerhalb der Gefängnismauern: Immerhin wäre es denkbar, dass Insulinpumpen oder CGM-Geräte – wie jedes andere elektronische Gerät auch – manipuliert werden und damit im schlimmsten Fall die zentrale IT lahmlegen.
Entsprechend selten trifft man im Knast auf Menschen, die ihren Diabetes mithilfe von Insulinpumpen und/oder CGM-Geräten managen. Davon abgesehen werde aber grundsätzlich alles beschafft, was die behandelnden Ärztinnen und Ärzte für medizinisch notwendig erachten, betont Magnussen. Budgets gibt es nicht, wirtschaftliches Handeln ist gleichwohl gefordert. Die Anstaltsärztin kann also z. B. auch Gefangenen mit Typ-2-Diabetes, die nicht mit Insulin behandelt werden, in ausreichender Menge Teststreifen für regelmäßige Blutzuckermessungen verordnen – ohne deswegen einen Regress fürchten zu müssen.
Die Internistin Dr. Sabine Jägemann arbeitet seit 2013 im Untersuchungsgefängnis und weiß diese Unabhängigkeit zu schätzen: „Ich kann hier ärztlich ziemlich frei walten.“ Anstelle drohender Regresse, wie sie Vertragsärztinnen und -ärzte ‚draußen’ permanent begleiten, muss sie allerdings jederzeit auf Post von den Anwältinnen und Anwälte der Gefangenen gefasst sein. „Manche versuchen, auf diese Weise Druck auf uns auszuüben. Es ist eine regelrechte Masche, die Haftbedingungen anzuprangern. Da werden oft die absurdesten Dinge behauptet“, erzählt sie. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird akribisch auf eine lückenlose Dokumentation geachtet. „Ernstliche juristische Schwierigkeiten hatte ich zum Glück noch nie.“
Wenn Patientinnen und Patienten unzufrieden sind, dann gilt ihr Unmut eher der Haft selbst als der medizinischen Betreuung. „Die Gefangenen sind hier gut versorgt, doch sie haben keine freie Arztwahl. Das muss man im Hinterkopf haben. Doch das sind Rahmenbedingungen, die ich nicht ändern kann. Daher nehme ich es nicht persönlich, wenn mal jemand schimpft“, meint die Ärztin. Ähnlich wie in einer allgemeinmedizinischen Praxis betreut sie in einem kleinen Team alle Patientinnen und Patienten kontinuierlich von A bis Z. „Allerdings behandeln wir hier nicht das typische hausärztliche Klientel, sondern Patienten mit einem viel breiteren Spektrum an Erkrankungen“, berichtet Dr. Jägemann. Es umfasst Infektionskrankheiten wie Hepatitis – meist die chronische und selten die Akutform – oder Tuberkulose ebenso wie Hypertonie, Frakturen oder infizierte Wunden. Viele chirurgische Fälle. Und natürlich Alkohol- und Drogensucht mitsamt ihren Nebenwirkungen und Entzugserscheinungen.
Denn viele der Insassen sitzen wegen Drogendelikten oder Beschaffungskriminalität in U-Haft. Manche wurden zum wiederholten Mal ohne Fahrschein in der U-Bahn oder beim Ladendiebstahl erwischt und direkt von der Straße aufgelesen – aus dem schlichten Grund, dass sie keine Meldeadresse haben, an die man eine Vorladung zustellen könnte. Andere verbüßen Ersatzfreiheitsstrafen, weil sie eine per Strafbefehl verhängte Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Ein Großteil der Gefangenen hat eine andere Muttersprache als Deutsch, etliche können kaum lesen, schreiben und rechnen. Auch traumatisierte Geflüchtete sind unter ihren Patientinnen und Patienten. „Die sind in Deutschland auf die schiefe Bahn geraten, obwohl sie doch eigentlich so viel Lebensenergie mitbringen“, erzählt Dr. Jägemann.
Die prekären Lebensumstände, aus denen viele Gefangene stammen, spiegeln sich auch in ihrem Gesundheitsverhalten. „Reiche Gefangene, die mit Kokainhandel ihr Geld verdient haben, sind oft sehr gesundheitsbewusst und stellen hohe Ansprüche. Doch den meisten Patienten hier ist ihre Gesundheit eher egal, die haben ganz andere Sorgen“, sagt die Internistin. „Für viele ist es tatsächlich ein Segen, in U-Haft zu kommen. Hier können sie einen Drogen- oder Alkoholentzug machen, zur Ruhe kommen und ihre Erkrankungen behandeln lassen.“ Mehr als einmal schon haben ihr Patientinnen und Patienten offenbart, es sei gut, dass die Polizei sie aufgegriffen habe, „denn lange hätte ich es draußen nicht mehr ausgehalten“.
Mit Blick auf Gefangene mit Diabetes ergänzt sie: „Wir haben es hier meist mit einem verwahrlosten oder noch gar nicht eingestellten Diabetes zu tun.“ Im Untersuchungsgefängnis läuft es deshalb meist darauf hinaus, die Therapie auf ein möglichst einfaches Schema herunterzubrechen. Denn mit Kohlenhydratschätzungen und Insulinfaktoren wären viele der Patientinnen und Patienten schlicht überfordert. „Wenn die Werte damit überwiegend unter 200 mg/dl liegen und die Leute nicht unterzuckern, bin ich erstmal zufrieden“, meint Dr. Jägemann. „Wenn jemand dann gut klarkommt, steigen wir ins Feintuning und in eine richtige ICT ein.“
Medizinische Versorgung im Gefängnis
Strafgefangene sind nicht über die GKV krankenversichert. Vielmehr werden medizinische Leistungen direkt von den jeweiligen Justizvollzugsbehörden finanziert. Der Umfang der medizinischen Leistungen richtet sich nach dem sogenannten Äquivalenzprinzip gemäß § 3 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz (StVollzG). Dieses sieht eine Gleichwertigkeit zur medizinischen Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Gefangene müssen demnach die gleichen Chancen beim Zugang zu Spezialistinnen und Spezialisten, Arzneimittelversorgung oder dauerhafter Betreuung haben. Ebenso wie GKV-Versicherte haben Strafgefangene damit einen Anspruch auf notwendige, ausreichende und zweckmäßige medizinische Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots und des allgemeinen Standards der gesetzlichen Krankenversicherung. Anders als in der GKV haben Strafgefangene allerdings kein Recht auf freie Arztwahl.
Den Wunsch nach einer Insulinpumpentherapie hat noch keiner ihrer Patientinnen und Patienten geäußert. In den meisten Fällen wäre sie auch kaum zu rechtfertigen: „Wir können keine Hochleistungsmedizin betreiben, wenn die Leute in zwei Wochen ohnehin wieder auf der Straße landen und nichts davon fortführen können.“ Doch wenn jemand vor der Haft mit einer Insulinpumpe zurechtgekommen ist und voraussichtlich länger einsitzen muss, würde sie durchaus versuchen, ihm diese Therapieform auch hinter Gittern zu ermöglichen – trotz der erschwerten Bedingungen bei der Beschaffung elektronischer Hilfsmittel.
Unmittelbar nach der Inhaftierung geht es allerdings eher um die Frage, ob die Gefangenen überhaupt Insulin mit in ihre Zellen nehmen dürfen. „Wenn jemand aufgrund psychischer Auffälligkeiten suizidal ist, dann wird ihm erst einmal alles weggenommen. Gerade die ersten Tage in Haft sind da kritisch“, erklärt Dr. Jägemann. In einem solchen Fall übernehmen Pflegekräfte die Insulin-Injektionen, bis sich die neuen Insassen halbwegs eingewöhnt haben.
Dann nimmt auch Christina Seidel Kontakt mit ihnen auf. Sie arbeitet seit 1999 im Zentralkrankenhaus und ist in erster Linie für die OP- und Sterilisationsassistenz zuständig. Nebenbei hat sie sich aber zur Diabetes-Assistentin weitergebildet. Sie versucht, Gefangene mit Diabetes aus allen Hamburger JVA bei ihrer Therapie zu unterstützen. Noch läuft die Diabetesberatung nicht so strukturiert wie sie es sich vorstellt: „Ich würde gern alle Patienten mit Diabetes kennen lernen, um einzuschätzen, ob sie Beratung benötigen. Und dann in die einzelnen Anstalten fahren und Schulungen anbieten“, erzählt Seidel.
Stattdessen kann sie derzeit nur punktuell helfen. Manchmal besucht sie Gefangene mit Diabetes in ihren Zellen: „Dann frage ich sie zum Beispiel, wie viel Insulin sie für bestimmte Nahrungsmittel spritzen und wie es ganz allgemein mit dem Diabetes läuft. Einige haben Vorkenntnisse, bei anderen fängt man quasi bei Null an.“ Bei Gefangenen aus anderen JVA ist es komplizierter – schließlich müssen diese mit einem eigens bestellten, polizeilich begleiteten Gefangenentransport zur Diabetesberatung ins Zentralkrankenhaus gebracht werden. „Manche erscheinen dann trotzdem einfach nicht, weil sie plötzlich einen anderen Termin oder einfach keine Lust haben“, berichtet sie. „Dabei ist es doch wichtig, dass sie sich mit ihrer Krankheit auseinandersetzen und versuchen, danach zu leben!“ Seidel weiß allerdings auch: „Insbesondere Drogenabhängigen fällt das sehr schwer. Der Suchtdruck ist stärker als der Wunsch nach Gesundheit.“
Ganz andere Erfahrungen hat sie hingegen mit Gefangenen gemacht, die wegen anderer Delikte in U-Haft sitzen: „Am besten kommt man mit Mördern klar, die sind total strukturiert“, sagt Seidel, ganz ohne ironischen Unterton. Unsicher im Umgang mit Gefangenen fühlt sie sich nicht, auch nicht mit Schwerverbrechern. „Bei manchen muss man resoluter auftreten und sich Respekt verschaffen“, erzählt die zierliche junge Frau, „viele sind auf der Straße großgeworden und haben eine ziemlich kurze Zündschnur.“ Andererseits kann sie mit ihrem Pieper, wie ihn alle JVA-Bediensteten am Gürtel tragen, jederzeit Alarm schlagen und Hilfe rufen. „Diese Sicherheit habe ich draußen schließlich nicht, wenn ich in der U-Bahn seltsamen Gestalten begegne.“
Auch Anke Conrad hat keine Angst vor den Insassen. „Ich habe hier schon meine Ausbildung gemacht und kenne nur die Knastmedizin“, erzählt die Krankenschwester und Bereichsleiterin im Zentralkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt. Die Arbeit sei abwechslungsreich, der öffentliche Dienst als Arbeitgeber eine sichere Bank. Sie nimmt mich mit zur Teambesprechung im Zentralkrankenhaus. Hier tauscht sich das medizinische Personal über alle Neuzugänge aus. Diese müssen binnen 24 Stunden gründlich medizinisch untersucht werden. Bei einem von ihnen, dessen Lunge im Röntgenbild einen Schatten aufwies, hat sich der Verdacht auf Tuberkulose bestätigt. Er muss isoliert werden. Die diensthabende Ärztin und die Pflegekräfte sprechen aber auch über Therapie-Anpassungen bei Insassen, die schon länger inhaftiert sind. Über die Organisation der Anschlussbehandlung nach der Haftentlassung und über Patientinnen und Patienten, die Stress machen, weil sie unzufrieden mit den Haftbedingungen sind.
Nach der Teambesprechung führt die Krankenschwester mich durch lange Flure, an deren Ende sie immer wieder schwere Metalltüren auf- und wieder abschließt. „Wie oft ich pro Tag einen Schlüssel umdrehe? Keine Ahnung!“, lacht Conrad. Vereinzelt sehen wir Insassen, die Gefängnisarbeit verrichten, geschäftig durch die Gänge eilen. Andere bereiten sich in einer der Gemeinschaftsküchen unter der Aufsicht eines JVA-Beamten selbst etwas zu essen zu. Es riecht nach gebratenen Zwiebeln. „Das wird eine Foccacia alla cipolla“, erklärt mir der Mann, der mit Pfanne und Rührlöffel hantiert. „Es gibt zwar manchmal auch Carbonara aus der Gefängnisküche, doch daran ist nur der Name italienisch“, meint er und rollt mit den Augen. Gefangene, die wie er selbst kochen möchten, können sich Lebensmittel bestellen, die einmal pro Woche in die Hafträume geliefert werden. Auf der mit kleiner Schrift bedruckten Artikelliste im A3-Format findet man Dosenjagdwurst ebenso wie koschere grüne Oliven, geriebenen Parmesan, Anti-Schuppen-Shampoo oder frische Lauchzwiebeln.
Wer nicht selbst kocht, wird von der Gefängnisküche versorgt. Zusammen mit der Mittagsmahlzeit bekommen die Insassen eine ‚Tagestüte‘ ausgehändigt. Sie enthält Lebensmittel wie Brot, Aufstrich, Obst und Milchprodukte für das Abendbrot und das Frühstück am Folgetag. Für Gefangene mit Diabetes gibt es ein Mittagessen, das grundsätzlich 4 BE enthält. In ihrer Tagestüte finden sich auch kleine Snacks, die sie als Zwischenmahlzeiten oder im Falle akuter Hypoglykämien essen können.
Der Tagesablauf hinter Gittern ist streng getaktet. Frühmorgens um 6:45 Uhr sehen die JVA-Bediensteten nach den aktuell gut 450 Gefangenen: ‚Lebendkontrolle‘ nennt sich diese Routine. Die Zeit nach dem Frühstück nutzen die Gefangenen dafür, Anträge zu stellen: „Ob man nun ein Buch ausleihen, im Multimedia-Raum ins Internet gehen, mit seinem Anwalt telefonieren oder etwas aus seiner verwahrten Habe bekommen möchte – hier im Gefängnis müssen die Insassen für fast alles einen Antrag ausfüllen“, berichtet Conrad.
Eine Stunde am Tag haben die Gefangenen Hofgang: „Da können sie gehen, aber nicht joggen, denn das würde in dem kleinen Hof die Ordnung stören“, erklärt sie. Wer stärkeren Bewegungsdrang verspürt, kann sich einer der vielen Sportgruppen anschließen. Das Angebot reicht von Ballsportarten über Crossfit und Laufgruppe bis hin zu Tischtennis und Yoga. Gefangene mit Diabetes werden dazu angehalten, auch beim Sport immer Traubenzucker bei sich zu haben. Die Gefahr von Komplikationen wegen einer akuten Hypoglykämie ist aber auch deshalb gering, weil alle JVA-Bediensteten regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse absolvieren müssen und bei medizinischen Notfällen schnell zur Stelle sind.
Feste Zeiten für Mahlzeiten, Sport und jegliche andere Aktivitäten sowie lückenlose Überwachung sind in U-Haft – und im Falle einer Verurteilung auch im anschließenden geschlossenen Vollzug – unvermeidlich. Einer erfolgreichen Diabetestherapie ist diese Form der Fremdbestimmtheit nicht unbedingt zuträglich. Davon berichtet mir der Gefangene Enrico Meißner (Name von der Redaktion geändert), den ich ein paar Wochen später in der offenen Vollzugsanstalt Glasmoor besuche. Deren Bewohner dürfen die JVA zum Arbeiten, zu Besuchen bei ihrer Familie und manchmal auch für Urlaube verlassen. Die Straftat, für die der 44-Jährige einsitzt, soll hier wie auch sein wahrer Name keine Rolle spielen. Er ist nach einer längeren Recherche in verschiedenen Hamburger JVA der einzige Insasse mit Diabetes, der mit einem Interview einverstanden ist – und bei dem auch die Anstaltsleitung einem Gespräch mit der Presse zustimmt.
Meißner lebt seit 23 Jahren mit Typ-1-Diabetes und ist acht Monate zuvor vom geschlossenen in den offenen Vollzug gewechselt. Hinter ihm liegen sechs Monate U-Haft und mehrere Jahre regulärer Knast. Mit seiner Entlassung in die Freiheit kann er in spätestens 18 Monaten rechnen. Draußen warten seine Ehefrau und Kinder auf ihn, mit denen er bereits jetzt fast jedes Wochenende verbringt. Wenn er die JVA verlässt, holt er sein Smartphone aus dem Schließfach in der Eingangshalle, nach seiner Rückkehr schließt er es dort wieder ein. Eine ganze Wand voller Schließfächer für die Freigängerinnen und Freigänger, daneben Steckdosen. Dort können sie ihre Mobiltelefone aufladen, während sie sich in den Hafträumen aufhalten. Denn auch im offenen Vollzug herrscht striktes Handyverbot.
Drogensucht und psychische Erkrankungen weit verbreitet
Etwa 20 Prozent der Gefangenen in deutschen Gefängnissen konsumieren Heroin, 20 bis 50 Prozent weisen Alkoholabhängigkeit und -missbrauch auf, 70 bis 85 Prozent der Insassen rauchen. Dies geht aus einer Metaanalyse von Forschenden am Justizvollzugskrankenhaus Berlin und am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité hervor. Bei knapp 4 Prozent der Gefangenen wurde eine psychotische Störung festgestellt, bei 25 % bestand eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Für die Zeit unmittelbar nach der Haftentlassung ist eine überdurchschnittlich hohe Sterblichkeit dokumentiert, meist infolge von Drogenintoxikation.
Mein Gesprächspartner kommt in T-Shirt und Sakko zu unserem Gespräch. Er macht einen sehr gepflegten Eindruck, spricht reflektiert über sein Leben und seine Erkrankung. Kein Vergleich zu den verwahrlosten Junkies, über die wir im Untersuchungsgefängnis so ausführlich gesprochen haben. Um den Hals trägt Meißner eine auffällige Kette aus großen Holzperlen mit einem Kreuz. „Mein Glauben hilft mir, mich besser in meine Opfer hineinzuversetzen. Ich habe in der Vergangenheit viel Dummes angestellt“, erzählt er.
Bevor er sich auf seine kriminelle Karriere konzentrierte, war er eine Weile im Garten- und Landschaftsbau tätig. Er würde gern schon als Freigänger wieder in dieser Branche Fuß fassen, um nach seiner Haftentlassung auf eigenen Füßen zu stehen. Bislang war seine Jobsuche außerhalb der Gefängnismauern noch nicht erfolgreich: „Wer mag schon einen vorbestraften Diabetiker einstellen?“ Dennoch lässt er nicht locker und bewirbt sich weiter. Denn mit einem Arbeitsvertrag ‚draußen’ wäre er auch wieder regulär krankenversichert und könnte sich seine Ärztinnen oder Ärzte selbst aussuchen. Stattdessen arbeitet Meißner aktuell in der Fertigung in einem der anstaltseigenen Betriebe – für seine medizinische Versorgung ist daher die JVA-Ambulanz zuständig.
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„Die Pflegekräfte hier machen einen Spitzenjob, denen gilt mein größter Respekt“, betont er. Doch mit dem Anstaltsarzt, der zweimal pro Woche eine Sprechstunde anbietet, kommt er nicht gut zurecht. Zwar tauscht er dort alte gegen neue Insulinpens, erhält neue Teststreifen und bespricht seine Blutzuckerwerte mit ihm. Doch er wünscht sich mehr Aufmerksamkeit und medikamentöse Therapie für seine Psychosen und Schlafstörungen – auch um seine Blutzuckerwerte besser in den Griff zu bekommen. Denn Meißner macht die psychischen Störungen für seine Insulinresistenz verantwortlich. Derzeit sind seine Blutzuckerwerte regelmäßig viel zu hoch: „Ich fühle mich schon bei einem Wert von 150 mg/dl unterzuckert.“
Allerdings ging es mit seinem Diabetes schon immer auf und ab. „Meine Probleme sind nicht durch die Haft entstanden“, gibt Meißner zu. Lange lebte er ungesund, ließ seinen Typ-1-Diabetes jahrelang schleifen. Während der U-Haft geriet sein Stoffwechsel dann vollends außer Kontrolle. „Mit Hilfe von Frau Seidel, der Diabetesberaterin, ist es mir zum Glück gelungen, den HbA1c-Wert von 11,3 auf 8,3 Prozent zu senken“, berichtet er. Doch dann kam der geschlossene Vollzug in einer anderen JVA. Er wurde von häufig wechselnden Ärztinnen und Ärzten behandelt und vernachlässigte sein Diabetesmanagement wieder. „In der Zeit wurde mir ausnahmsweise eine Schulung draußen in einer Diabetespraxis genehmigt. Doch ich durfte nur in Hand- und Fußfesseln teilnehmen. Die anderen Teilnehmer guckten nervös, auch die Diabetes-Beraterin war verunsichert, und ich konnte mich nicht konzentrieren. Das war für alle Beteiligten nicht schön“, erinnert er sich.
Seine instabile Stoffwechsellage hat Spuren hinterlassen. Meißner hat eine Retinopathie, wurde deswegen bereits mehrfach an den Augen operiert. Auch eine periphere Neuropathie wurde bei ihm diagnostiziert. Um sein Diabetesmanagement zu verbessern, würde er gern noch einmal ‚draußen‘ in einer Diabetespraxis an einer Nachschulung teilnehmen. Aktuell würde ihm aber lediglich eine Schulung innerhalb des JVA-Systems bewilligt. Was bedeutet, dass er sich für den Zeitraum der Schulung zurück ins Untersuchungsgefängnis verlegen lassen müsste. „Die Aussicht, dann wieder die meiste Zeit des Tages in einer Zelle eingesperrt zu sein, macht etwas mit einem, wenn man sich an die Freiheiten des offenen Vollzugs gewöhnt hat“, erzählt Meißner, „auch wenn es nur für eine Woche ist“.
Zu den Freiheiten im offenen Vollzug zählt Zugang zum Internet bei seinen Freigängen ebenso wie offene Türen innerhalb der Gefängnisgebäude. Zusammen mit zwei anderen Gefangenen, die ebenfalls Diabetes haben, hat Meißner in der JVA eine kleine Kochgruppe gegründet. „Wenn wir gemeinsam Essen zubereiten, reduzieren wir gern die Kohlenhydrate in den Rezepten.“ Auch sportlich sind den Insassen weniger Grenzen gesetzt als in U-Haft oder im geschlossenen Vollzug: Es gibt einen Sportplatz und einen Trainingsraum, den die Gefangenen jederzeit für sportliche Aktivitäten nutzen können, eine Fußball- und eine Tischtennisgruppe. „Man rostet hier nicht so schnell ein“, findet Meißner.
Sein Herz schlägt allerdings für’s pädagogische Boxen. Bei diesem preisgekrönten Projekt besuchen Gefangene Jugendliche, die schon einmal straffällig geworden sind, an ihren Schulen. Dreimal pro Woche ist Meißner hier aktiv. Neben Präventionsunterricht steht Boxtraining auf dem Programm. „Wenn man intensiv miteinander Sport getrieben hat und danach verschwitzt in einer Runde sitzt, bekommen die Gespräche eine ganz andere Qualität“, erzählt der Hobbyboxer, „ich kriege dann einiges mit, was in den Familien der Jugendlichen falsch läuft“. Mit seinem ehrenamtlichen Engagement möchte er – nach allem, was er in seiner kriminellen Vergangenheit angerichtet hat – der Gesellschaft etwas zurückgeben. „Wenn ich merke, dass ich bei den Kids etwas Positives bewegen kann, ist das ein tolles Gefühl!“
von Antje Thiel
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