Die Macht von Geschichten: Persönliches berührt uns nun einmal mehr als Fakten

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Die Macht von Geschichten: Persönliches berührt uns nun einmal mehr als Fakten

Als ich einen Karton mit Autorenexemplaren meines Buches „In guten wie in schlechten Werten“ vom Kirchheim-Verlag erhalten habe, hieß es für mich erst einmal Päckchen packen. Neben den interviewten Paaren und Familien sollten schließlich auch meine eigenen „Typ-Fler“ alle ein Buch bekommen, persönliche Widmung inklusive. Eine der Adressatinnen war meine Tante, die in Süddeutschland lebt. Ich habe sie zwar seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, und sie ist auch keine wichtige Bezugsperson in meinem Alltag mit Diabetes. Doch wir stehen in regelmäßigem Briefkontakt – ja, so richtige handschriftliche Briefe auf Papier, die in einem Briefumschlag mit Briefmarke verschickt werden, denn meine Tante ist zu 100 Prozent offline und möchte daran auch nichts ändern – und so hatte ich ihr in der Vergangenheit von meinem Buchprojekt berichtet. Woraufhin sie mit lustigen Schilderungen ihrer Freundinnen und Bekannten antwortete, die Diabetes haben und mal besser, mal weniger gut damit zurechtkommen. Weitere Anknüpfungspunkte zum Thema hat sie nicht.

Meine Tante brachte die Motivation für mein Buch super auf den Punkt

Umso begeisterter war ich von ihrem Brief, mit dem sie sich für ihr Typ-F-Exemplar meines Buches bedankte. Sie schrieb mir, dass ihr Mann nur einmal flüchtig hineinschauen wollte und sich dann festgelesen hatte. Sie selbst hatte es noch nicht wirklich gelesen, doch ihr erster Eindruck lautete: „In Deinem Buch sind bestimmt ganz kuriose und traurige Geschichten zu lesen. Lebensnah, so wie ich beim Durchblättern gesehen habe. Jesus brachte ja auch Beispiele aus dem Leben und die Leute haben’s kapiert.“

Quelle: privat

Geschichten erzählen mehr vom Leben als trockene Statistiken

Ich fand diesen Vergleich großartig. Nicht, weil ich mich für Jesus halte, über’s Wasser gehen kann oder eine Weltreligion begründen möchte. Aber weil er den Gedanken so perfekt zusammenfasst, der hinter meinem Buch steckt. Wir Menschen lieben Geschichten von anderen Menschen. Wir möchten gern wissen, was sie im Alltag erleben, warum sie sich genau so und nicht anders verhalten und wie sie sich dabei fühlen. Und meine Tante hat Recht: Genau deshalb hat Jesus Gleichnisse aus dem Leben erzählt. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, vom Kamel und dem Nadelöhr, vom verlorenen Sohn. Wer solche Geschichten hört, kann emotional andocken und sich etwas vorstellen.

Das ist beim Thema Diabetes nicht anders. Eine Statistik kann uns zwar jede Menge Fakten liefern: Wie viele Menschen mit Diabetes leben in Deutschland? Wie viele Kinder mit Typ-1-Diabetes benötigen eine Schulbegleitung? Nach wie vielen Jahren Diabetesdauer treten die meisten Komplikationen auf? Was sind die häufigsten Folgeerkrankungen? Doch Zahlenkolonnen sagen nichts über die Menschen hinter den Statistiken aus. Und deshalb prägen sich Sachverhalte erst dann wirklich ein, wenn sie mit Geschichten verknüpft sind.

Was das bedeutet, das habe ich bei den Recherchen für mein Buch am eigenen Leib erlebt. Ich wusste zum Beispiel auch davor längst, dass Menschen mit Diabetes ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle haben. Und dass ein Schlaganfall nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist, war mir ebenfalls klar. Doch erst bei den Interviews für mein Buch habe ich erlebt, was ein Schlaganfall mit den Betroffenen und ihren Angehörigen machen kann.

Die Spannungen zwischen den beiden waren im Interview deutlich zu spüren

Zwei der von mir interviewten Paare müssen mit den Folgen eines Schlaganfalls leben, zwei ganz unterschiedliche Schicksale. Peter Struck hat Typ-2-Diabetes und hatte 2014 einen Schlaganfall. Der 71-Jährige ist ein Süßschnabel und tut sich schwer damit, sich an die Ernährungsempfehlungen zu halten, mit denen er seinen Blutzucker besser ausbalancieren könnte. Bis auf leichte kognitive Einschränkungen – er vergisst im Alltag leicht mal ein paar mehr Dinge als zuvor – ist der Schlaganfall zum Glück ohne gravierende Folgen für seinen Körper an ihm vorübergegangen. Doch dafür sind die Folgen für seine Partnerschaft umso drastischer. Denn seine Frau Birgit, die 13 Jahre jünger ist und noch voll im Berufsleben steht, hat verständlicherweise große Angst, dass er einen zweiten Schlaganfall erleiden könnte, wenn er sich nicht konsequenter um seinen Diabetes kümmert. Und so schießt sie mit ihrer Fürsorge oft übers Ziel hinaus: Sie meint es gut, doch Peter empfindet ihre Fragen und Ratschläge häufig als Bevormundung und Kontrolle.

Für mich waren die Spannungen zwischen den beiden, die es wegen des Diabetes gibt, bei meinem Besuch ganz deutlich zu spüren. Einen einfachen Rat gibt es in ihrer Situation nicht – die beiden müssen wohl Kompromisse aushandeln und sich in Geduld üben. In meinem Porträt der beiden habe ich Peters und Birgits Geschichte und ihre knifflige Gemengelage erzählt – ohne Partei für den einen oder die andere zu ergreifen. Ich wollte meinen Leserinnen und Lesern einfach nahebringen, wie es sich für beide anfühlt. Denn ein solches Nachempfinden macht ein Problem, das viele Menschen mit Diabetes und ihre Angehörigen haben, viel greifbarer als ein trockener Satz wie „Angehörigen fällt es manchmal schwer, die richtige Balance zwischen Fürsorge und Bevormundung zu halten“.

Quelle: pixabay.com

Ich spürte die Wut und Verzweiflung, aber auch ihre Ohnmacht

Ein Schlaganfall war auch bei Nicole Amrein und Horst-Dieter Eggers der Grund, warum sich ihr gemeinsames Leben 2010 radikal veränderte. Der 60-Jährige hat seit seiner Jugend Typ-1-Diabetes und ist seit seinem Schlaganfall halbseitig gelähmt. Was noch schlimmer wiegt: Sein Sprachzentrum ist betroffen, er kann nicht mehr sprechen und sich auch schriftlich nicht mehr verständigen. Bevor ich zu meinem Besuch bei den beiden aufbrach, war mir etwas mulmig zumute. Schließlich wollte ich mit beiden sprechen, von beiden authentische Aussagen für mein Porträt sammeln. Wie sollte das gehen, wenn er gar nicht selbst sprechen kann? Tatsächlich war das Interview deutlich einfacher und entspannter als erwartet.

Horst-Dieter hörte aufmerksam zu, nickte bestätigend oder schüttelte den Kopf, um das zu kommentieren, was ich mit seiner Frau besprach. Doch ich merkte auch, wie gern er mir selbst erzählt hätte, was ihn bewegt. Ich spürte seine Wut und Verzweiflung über seine Behinderung, fühlte die Ohnmacht seiner Frau, die in seiner Mimik las und versuchte, sie für ihn in Worte zu fassen. Als ich nach diesem Interview nach Hause kam, war ich sehr aufgewühlt. Ich sagte zu meinem Mann Christoph: „Stell dir vor, du kannst überhaupt nichts mehr sagen, egal was dir durch den Kopf geht. Was ist das für ein Leben? Was macht das mit einer Paarbeziehung?“ Dieses Gefühl, das immer wieder von neuem in mir wach wird, wenn ich an Nicole und Horst-Dieter denke, ist viel eindrücklicher als eine Statistik zur Rate von Hirnschäden infolge eines Schlaganfalls bei Diabetes.

Ihr habt Lust auf mein Buch bekommen, wollt mehr Geschichten lesen und nachfühlen, wie es Menschen mit Diabetes und ihren Angehörigen geht? Kein Problem! Im Webshop des Kirchheim-Verlags könnt ihr es online bestellen.

Mehr Artikel von Antje zu ihrem Buch findet ihr hier: Vorfreude: Bald kommt Antjes Buch für Angehörige! und In guten wie in schlechten Werten

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 2 Wochen, 1 Tag

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

    Uploaded Image
    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • moira antwortete vor 1 Woche

      Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen, 2 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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