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Zukunftstag Diabetologie: Endlich werden die Betroffenen selbst gehört!
4 Minuten
Normalerweise ist bei Diabeteskongressen die Fachwelt unter sich. Da berichtet ein Arzt über neueste Studienerkenntnisse zum Insulin Soundso, eine Kollegin schildert ihre Erfahrungen mit dem Schulungsprogramm XY, und noch jemand anderes präsentiert Daten aus der Versorgungsforschung. Die Stimmen der Betroffenen, um deren Behandlung es dabei geht, werden dabei nur äußerst selten gehört. Der Zukunftstag Diabetologie, den die DDG Mitte Oktober 2019 in Berlin ausgerichtet hat, war hier eine erfreuliche Ausnahme.
Bei diesem Kongress ging es um das erhöhte Risiko für psychische Störungen bzw. Erkrankungen, dem Menschen mit Diabetes und auch ihre Familienangehörigen ausgesetzt sind. Und in den Vorträgen ging es nicht nur um Studienergebnisse, Versorgungsprogramme und Statistiken, sondern auch um das persönliche, ganz subjektive Erleben der Betroffenen.

Seit der Diagnose keine Nacht mehr durchgeschlafen
So berichtete Dr. Carola Hecking, selbst Ärztin, beim Zukunftstag Diabetes aus ihrer ganz privaten Perspektive als Mutter. Ihr Sohn erhielt zu seinem vierten Geburtstag vor ungefähr einem Jahr die Diagnose Diabetes mellitus. Die junge Mutter, ihr Ehemann, ihr Sohn und die achtjährige Schwester sind bis heute nicht zur Ruhe gekommen. „Ich bin permanent an meiner Belastungsgrenze – neben dem Diabetes geht einfach nichts mehr“, berichtete sie, „ich habe seit der Diagnose keine Nacht mehr durchgeschlafen.“ Ihr Sohn trägt eine Insulinpumpe und ein CGM-System, und irgendein Gerät meldet sich immer mit einem Alarm.
Warum muss der MDK über einen Pumpenantrag entscheiden?
Dabei ist sie natürlich enorm dankbar für beide Hilfsmittel, die ihren Alltag ungeheuer erleichtert haben: „Anfangs wollte der Kleine nichts mehr essen, weil er Angst vor Nadeln hat. Drei Tage nach der Diagnose bekam er zum Glück die Pumpe“, erzählte Carola Hecking. Allerdings war lange Zeit nicht klar, ob die probehalber bewilligte Pumpe auch dauerhaft genehmigt würde. Für Carola Hecking ist es ein Rätsel, warum sich der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) erst lange mit so einem Pumpenantrag beschäftigen musste, „immerhin steht die sensorunterstützte Pumpentherapie doch in den Leitlinien!“.
Doch der Antrag auf Versorgung mit Insulinpumpe und Sensor war nur der Auftakt eines langen und nervenzehrenden Papierkriegs. „Nach der Diagnose riet man mir im Krankenhaus, es sei schwierig, Inklusionshilfe zu bekommen. Deshalb sollte ich am besten meinen Job aufgeben“, erzählte Carola Hecking, die als angestellte Ärztin in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) arbeitet und sich dort vor allem mit Gerinnungsmedizin beschäftigt. „Dabei mache ich meinen Job gern, wir hatten auch gerade erst ein Haus gekauft – wie soll das gehen, dass ich auf einmal nicht mehr arbeite?“
Papierkrieg, unklare Zuständigkeiten, Ungewissheit
Geschlagene zehn Monate dauerte es, bis sie sich bei sämtlichen Ämtern durchgefragt, alle Anträge ausgefüllt und eine Inklusionskraft bewilligt bekommen hatte, die ihren Sohn im Kita-Alltag begleitet. Sie begegnete freundlichen Menschen in den Behörden, doch wegen Personalmangels blieben ihre Anträge häufig lange liegen. Auch die Zuständigkeiten waren nicht klar geregelt, sie wurde immer wieder an andere Stellen verwiesen. Dabei fühlt sie sich im Vergleich zu anderen Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes durchaus privilegiert: „Ich bin überall auf freundliche und bemühte Menschen gestoßen. Die Erzieherinnen in der Kita sind super. Mein Arbeitsumfeld hat viel geholfen und aufgefangen. Meine Mutter zog nach der Diagnose vorübergehend bei uns ein und unterstützte uns.“ Nur dank dieser Hilfe aus ihrem Umfeld habe sie ihren Arbeitsplatz erhalten können. „Ich frage mich, wie das Leute bewerkstelligen sollen, die nicht über diese Ressourcen verfügen?“
Sprich: Was macht eine alleinerziehende Mutter, deren Arbeitgeber sich nicht so kooperativ zeigt? Wie kommt eine Familie klar, die nicht über ein funktionierendes soziales Netz verfügt? Wie gelangen Eltern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind oder wenig Erfahrung im Umgang mit Behörden und Institutionen haben, an Informationen? Wer in den diversen Gruppen und Foren für Eltern von Kindern mit Diabetes stöbert, findet dort haufenweise Geschichten, in denen es nicht annähernd so gut funktionierte wie bei Familie Hecking. Und das, obwohl auch Familie Hecking permanent an ihrer Belastungsgrenze lebt.
Mit ketoazidotischem Koma auf der Intensivstation
Auch Lounge-Autorin Lisa Schütte, die mit zehn Jahren die Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten hatte, berichtete über mangelnde Unterstützung im Alltag. In den ersten Jahren bereitete ihr die Erkrankung kaum Probleme, doch mit Beginn der Pubertät geriet ihre Psyche aus dem Gleichgewicht. Heute ist Lisa 30 Jahre alt und macht kein Geheimnis darum, dass ihr damals die Motivation fehlte, sich um ihren Diabetes zu kümmern – und dass sie eine gefährliche Essstörung entwickelte. Denn um abzunehmen, ließ sie als Jugendliche regelmäßig Insulininjektionen aus. Dass es mit „Insulin-Purging“ einen Fachbegriff für dieses Verhalten gibt, wusste sie damals nicht. Mit 22 Jahren landete sie mit einem ketoazidotischen Koma auf der Intensivstation, ihr Leben hing tagelang am seidenen Faden. Noch vom Krankenhaus aus organisierte man ihr einen Psychotherapieplatz. „Die Therapeutin war zwar nett, aber sie hatte keine Ahnung von Diabetes. Sie verstand deshalb nicht wirklich, was es für mich bedeutet, mein Insulin wegzulassen“, erzählte Lisa.
Viel zu wenige Fachleute kennen sich mit Insulin-Purging aus
Sie suchte sich ein anderes Ventil und begann, über ihr Leben mit Typ-1-Diabetes und Insulin-Purging (auch Diabulimie genannt) zu bloggen. Ihr Blog ist in der Diabetes-Community mittlerweile eine der wichtigsten Anlaufstellen für andere Betroffene. Lisa erzählte: „Anfangs hätte ich nie gedacht, dass es so viele Frauen mit Diabulimie gibt. Heute bekomme ich täglich mehrere Nachrichten anderer Betroffener.“ Mittlerweile hat Lisa ihren Diabetes meist gut im Griff – sie spielt zumindest nicht mehr mit dem Gedanken, mit dem Weglassen von Insulin ihr Gewicht zu regulieren. Doch die Essstörung scheint sich andere Wege zu suchen. So berichtete Lisa erst vor ein paar Wochen, dass sie in diesem Jahr nahezu fanatisch Kalorien und Kohlenhydrate reduziert hat, um sich ihrem Traumgewicht anzunähern.
Ihr Eindruck ist allerdings, dass nach wie vor nur wenige Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit Essstörungen wie Insulin-Purging umgehen können. Gleiches gilt für Ärztinnen und Ärzte. „Als ich im Rahmen eines Praktikums bei der Lokalzeitung einmal einen Artikel über dieses Thema geschrieben und Diabetespraxen im Umkreis abtelefoniert habe, hat mir ein Diabetologe sogar unterstellt, ich würde mir da etwas ausdenken“, berichtete sie beim Zukunftstag Diabetologie.
Wer sich in der Diabetes-Community tummelt und schon häufiger Geschichten wie die von Lisa gehört hat, kann angesichts solcher Ignoranz eigentlich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Umso wichtiger finde ich es, dass auch bei Kongressen und Fachtagungen die Stimme der Betroffenen gehört wird. Ich hoffe deshalb sehr, dass die Programmgestaltung beim Zukunftstag Diabetologie nicht die Ausnahme bleibt.
Auch in der #BSLounge hat Lisa über das Insulinpurging berichtet.
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sveastine postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Diabetes und Psyche vor 2 Tagen, 5 Stunden
hallo, ich hab schon ewig Diabetes, hab damit 4 Kinder bekommen und war beruflich unterschiedlich unterwegs, in der Pflege und Pädagogik. Seit ein paar Jahren funktioniert nichts mehr so wie ich das möchte: die Einstellung des Diabetes, der eigentlich immer gut lief, Sport klappt nicht mehr….ich bin frustriert und traurig..so kenne ich das nicht.. Geht es jemanden ähnlich? Bin 53…Viele grüße. Astrid
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stephanie-haack postete ein Update vor 3 Tagen, 2 Stunden
Wir freuen uns auf das heutige virtuelle Community-MeetUp mit euch. Um 19 Uhr geht’s los! 🙂
Alle Infos hier: https://diabetes-anker.de/veranstaltung/virtuelles-diabetes-anker-community-meetup-im-november/
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lena-schmidt antwortete vor 3 Tagen, 1 Stunde
Ich bin dabei 🙂
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insulina postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Reisen mit Diabetes vor 2 Wochen, 4 Tagen
Hallo Zusammen,
ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
Wenn ´s weiter nichts ist… .
Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
Nina-
darktear antwortete vor 1 Woche, 5 Tagen
Hallo Nina,
als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig
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Liebe Astrid! Ich gerade 60 geworden und habe seit 30 Jahren Typ 1, aktuell mit Insulinpumpe und Sensor versorgt. Beim Diabetes läuft es dank des Loop gut, aber Psyche und Folgeerkrankung, Neuropathie des Darmes und fehlende Hypoerkennung, machen mir sehr zu schaffen. Bin jetzt als Ärztin schon berentet und versuche ebenfalls mein Leben wieder zu normalisieren. Kann gut verstehen, wie anstrengend es sein kann. Nicht aufgeben!! Liebe Grüße Heike
@mayhe: Hallo liebe Heike, danke für deine schnelle Antwort, das hat mich sehr gefreut. Nein aufgeben ist keine Option, aber es frustriert und kostet so viel Kraft. Ich hoffe dass ich beruflich noch einen passenden Platz finde. Und danke dass du dich gemeldet hast und von deiner Situation berichtet. Das ist ja auch nicht einfach. Und ich wünsche auch dir eine gewisse Stabilisierung…jetzt fühle ich mich mit dem ganzen nicht mehr so alleine. Was machst du denn sonst noch? Viele Grüße Astrid
Liebe Astrid! Ja, das Leben mit Diabetes ist echt anstrengend. Es kommt ja auf den normalen Wahnsinn noch oben drauf. Ich habe den Diabetes während der Facharztausbildung bekommen und ehrgeizig wie ich war auch damit beendet. Auch meinen Sohn, 26 Jahre, habe ich mit Diabetes bekommen. Hattest bei den Kindern auch schon Diabetes? Leider bin ich von Schicksalsschlägen dann nicht verschont geblieben. Was dann zu der heutigen Situation geführt hat. Ich habe durchgehalten bis nichts mehr ging. Jetzt backe ich ganz kleine Brötchen, freue mich wenn ich ganz normale kleine Dinge machen kann: Sport, Chor, Freunde treffen, usw. Ich würde mich zwar gerne aufgrund meiner Ausbildung mehr engagieren, dazu bin ich aber noch nicht fit genug. Was machst du so und wie alt sind deine Kinder? Bist du verheiratet? Liebe Grüße Heike