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Ich weiß, dass vielen von uns reflexartig die Hutschnur hochgeht, wenn sie die beiden Wörter „Essen“ und „dürfen“ auch nur zusammen in einem Satz sehen. Weil solche Sätze häufig von Menschen kommen, die keine Ahnung von Typ-1-Diabetes haben, unsere Form der Stoffwechselstörung munter mit Typ-2-Diabetes in einen Topf werfen und ihr geballtes Halbwissen dann gern mit erhobenem Zeigefinger kundtun: „Das darfst du aber gar nicht essen, da ist doch Zucker drin!“
Eines vorweg: Ich kann solche Leute auch nicht leiden. Ich mag mir von niemandem vorschreiben lassen, was ich essen und wovon ich die Finger lassen soll. Mein Diabetes hat mich nicht heimgesucht, weil ich zu viel genascht oder sonst irgendetwas in meiner Ernährung falsch gemacht habe. Und glücklicherweise gibt es Insulin, mit dem man heutzutage sogar ziemlich fein hantieren kann, damit der Körper Glukose ordentlich verstoffwechselt.
Ganz anders als in den Tagen, als Typ-1-Diabetiker keine andere Wahl hatten, als einem starren Spritz- und Essplan zu folgen: zum Beispiel morgens um Punkt acht Frühstück mit genau 40 Gramm Kohlenhydraten – ob man nun großen oder kleinen oder gar keinen Hunger hat. Vormittags ein Snack mit 10 Gramm Kohlenhydraten, damit der Blutzucker nicht absackt. Mittags, zwischendurch am Nachmittag und abends ebenfalls genau vorgeschriebene Rationen. Was für ein Horror!
Es ist wirklich ein Segen, dass wir Typ-1-Diabetiker heute mit modernen Insulinen, mit ICT und Pumpentherapie sowie mit neuen Messmethoden die Freiheit haben, uns ganz normal zu ernähren. Wir können essen, was und wie viel wir wollen und auch wann wir wollen. Und wenn wir keinen Hunger haben, dann essen wir auch mal nix. Wie alle anderen auch.
Und jetzt kommt das große ABER. „Alle anderen“, die da so pauschal als Maßstab herangezogen werden, ernähren sich nämlich nicht unbedingt immer vorteilhaft. Sie essen zu viel industriell verarbeitete Lebensmittel, zu viel Zucker, zu viele Kohlenhydrate, zu wenig Gemüse, zu wenig Frisches… und man muss sich nur in der Öffentlichkeit umsehen, um die Konsequenzen zu studieren: Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes – jede Menge „Lifestyle-Erkrankungen“, wohin man auch blickt.
Nee, das sind nun wahrlich keine Vorbilder für mich. Doch leider habe ich den Eindruck, dass manche Typ-1-Diabetiker die Freiheit, die ihnen ihre Insulintherapie gibt, missverstehen und daher ein wenig überstrapazieren. Sie machen dieselben Fehler wie die breite Masse, die sich eben nicht „normal“, sondern ungesund ernährt. Pizza und Nudeln satt, hier noch ein Törtchen und zwischendurch zu McDonalds – und zur Erklärung heißt es mit leicht trotzigem Unterton: „Ich habe ja Typ-1-Diabetes, ich muss darauf nicht verzichten!“ oder „Dafür gibt es doch Insulin!“
Ich kann den Trotz, der vermutlich dahintersteckt, gut verstehen. Meine Mutter erzählt von mir, dass ich als Baby gleich nach „Mama“ und „Papa“ das schöne Wörtchen „doch!“ als drittes Wort gelernt habe. Ich sage auch heute noch gern „doch“, wann immer mir jemand Vorschriften machen oder mich irgendwie einschränken will.
Für besonders schlau halte ich es trotzdem nicht, beim Essen immer darauf zu pochen, dass ich DOCH alles darf, was andere auch dürfen. Das Insulin gibt uns nicht nur die Freiheit, normal zu leben, sondern auch beim Essen dieselben Fehler wie die Mehrheit der Bevölkerung zu machen.
Machen wir uns mal nichts vor: Auch unter uns Typ-1-Diabetikern gibt es viele, die mehr als nur ein paar Kilo zu viel auf den Rippen mit sich herumschleppen. Und wenn ein Typ-1-Diabetiker für seine Mahlzeiten aberwitzige Mengen Insulin spritzen muss, dann hat er vermutlich eine Insulinresistenz, die längst als Typ-2-Diabetes eingestuft worden wäre, wenn er denn nicht die Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten hätte.
Neulich lief im NDR ein sehr guter Beitrag, der genau zeigt, was ich meine. Die Reporter begleiteten eine stark übergewichtige Typ-1-Diabetikerin, die erst mit einer Ernährungsberatung wieder ein Gefühl für gutes Essen entwickelte. Und dazu gehört nun einmal auch, dass man auf manches verzichtet, das dem Körper nicht gut tut.
Doch was auf den ersten Blick wie ein Verzicht aussieht, ist eigentlich ein Riesengewinn. Ich habe dank unserer modernen Therapiemöglichkeiten die Chance, normal zu leben und meine Glukosewerte auch dann im Griff zu behalten, wenn ich nach meinem eigenen Rhythmus esse, anstatt tagein, tagaus stumpf einen festen Spritz-Ess-Plan abzuarbeiten.
Ich „darf“ natürlich naschen oder mal mit Pizzanudelneiskremkuchenpommes über die Stränge schlagen. Aber im Alltag tut es mir gut, solche Sachen eher auszuklammern. Anders als die vermeintlich so „normalen“ Nicht-Diabetiker studiere ich ja permanent meine Glukoseverläufe und sehe deshalb sofort, was diese Exzesse anrichten. Ebenso sehe ich, wenn ich mich gesund ernähre (also industriell verarbeitete Lebensmittel vom Speiseplan streiche, nicht im Vorbeigehen irgendein Teilchen beim Bäcker mitnehme, Kohlenhydrate reduziere, viel Gemüse esse und meine Mahlzeiten selbst zubereite), schöne Glukoseverläufe, die mir sagen: Meinem Körper geht es gut. Und weiß dann still für mich: „Ja, ich darf alles. Aber schlau ist alles deshalb noch lange nicht.“
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