Den einen Typ-2-Diabetes gibt es nicht!?

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Den einen Typ-2-Diabetes gibt es nicht!?

2022 erscheint in der Zeitschrift Diabetologia ein Artikel „Eine neue Einteilung des Typ-2-Diabetes: auf dem Weg zur zielgerichteten Diabetologie – von den Ursachen zur Behandlung“. Darin fassen Prof. Herder und Prof. Roden aus Düsseldorf aktuelle Erkenntnisse zusammen, die darauf hinweisen, dass es sich bei Typ-2-Diabetes nicht um eine einheitliche Erkrankung handelt. Sie folgern: Es wird unterschiedliche Behandlungen und unterschiedliche Ursachen für die Untergruppen des Diabetes geben.

So entstanden Typ-1- und Typ-2-Diabetes

Es war eine Frau, die 1975 herausfand, dass bei jungen Menschen mit Diabetes Antikörper gegen Inselzellen auftreten – diese Entdeckung von Prof. Dr. Deborah Doniach führte zur Einteilung in Typ-1-Diabetes (bei dem diese Immun-Reaktion auftritt) und Typ-2-Dia­betes. Deborah Doniach entdeckte auch die Antikörper gegen Schilddrüsengewebe und setzte durch, dass die dadurch hervorgerufene Erkrankung nach ihrem Entdecker Hashi­moto-­Thyreo­iditis genannt wurde. Besser hätte man die von ihr entdeckte Form des Diabetes ebenfalls nach ihrer Entdeckerin „Doniach-Diabetes“ genannt und alle übrigen Fälle als „Diabetes noch unklarer Ursache“ bezeichnet. Leider entstand so mit der Einteilung in Typ-1- und Typ-2-Diabetes die Vorstellung, dass es sich bei Typ-2-Diabetes um eine einheitliche Erkrankung handele.

Ein neues Kapitel begann 2017

2017 war es wieder eine Frau, Dr. Emma Ahl­qvist aus Schweden, die eine weitere Unterteilung der Diabetesformen vorschlug. Sie berichtete erstmals auf der Tagung der europäischen Diabetes-Gesellschaft (EASD) über eine Langzeit-Studie, in der 1500 neu aufgetretene Fälle von Typ-2-Diabetes im Süden von Schweden zwischen 2009 und 2013 untersucht und dann im Rahmen des schwedischen Diabetes-Registers beobachtet wurden.

Anhand von Befunden zu Beginn der Erkrankung konnte sie im Verlauf des Diabetes fünf statistisch unterschiedliche Gruppen beschreiben:

  1. „schwerer Autoimmun-Diabetes“: Menschen mit Antikörpern gegen Glutamatdecarboxylase (GAD), bei denen eine dem Typ-1-Diabetes ähnliche Erkrankung vorliegt,
  2. „schwerer Insulinmangel-Diabetes“: Menschen mit deutlichem Insulin-Mangel, mit frühem Krankheits-Beginn und anfangs hohem HbA1c; sie brauchten häufiger Insulin und hatten ein höheres HbA1c; Augenschäden durch den Diabetes traten bei ihnen häufiger auf,
  3. „schwerer Diabetes mit Insulin-Resistenz“: Patienten mit deutlicher Störung der Insulin-Wirkung, bei ihnen kam es häufiger zu Nierenschäden,
  4. „relativ milder Diabetes mit Übergewicht“: schwer übergewichtige (adipöse) Menschen mit eher „mild“ verlaufendem Diabetes,
  5. „milde verlaufender Diabetes im hohen Lebensalter“: Menschen, bei denen in fortgeschrittenem Alter Diabetes auftritt.

Große Diabetes-Studie in Deutschland

Weltweit gab es seither viele Untersuchungen, um über die Bedeutung dieser Untergruppen, die als „Cluster“ bezeichnet werden, mehr zu erfahren. Wie zu erwarten, zeigen Untersuchungen an Menschen unterschiedlicher Herkunft unterschiedliche Ergebnisse. So waren in Indien mehr Patienten der Gruppe mit verminderter Insulin-Sekretion zuzuordnen. Auch in Deutschland läuft schon seit 2008 eine große Langzeit-Untersuchung, die Deutsche Diabetes-Studie, an der schon über 2000 Menschen mit Diabetes teilnehmen. Menschen, bei denen der Diabetes erst vor kurzer Zeit aufgetreten ist, werden zwei Tage lang sehr genau untersucht. Nachuntersuchungen erfolgen dann nach 5, 10 und 15 Jahren.

Die Studie wird vom Deutschen Diabetes-Zentrum in Düsseldorf koordiniert. Außerdem arbeiten die Universitäts-Kliniken in Lübeck, Heidelberg, Leipzig, Dresden, München und das Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke daran mit. Ausführliche Informationen findet man unter deutsche-diabetes-studie.de. Schon 2016 war in dieser Studie aufgefallen, wie erheblich sich bei Menschen mit Typ-2-Diabetes das Ausmaß der Störung von Insulin-Resistenz und Insulin-Freisetzung unterscheidet. Durch modernste Untersuchungs-Methoden konnten später die Ergebnisse von Emma Ahlqvist in dieser deutschen Studie bestätigt werden.

Diabetes verläuft sehr unterschiedlich je nach Cluster

Man konnte zeigen, dass Menschen, die man statistisch der Gruppe mit Insulin-resistentem Diabetes zuordnen kann, besonders gefährdet sind. Bei ihnen besteht häufiger eine Verfettung der Leber, verglichen mit allen anderen Gruppen kommt es bei ihnen am häufigsten zu Nierenschäden und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Cluster 3). Menschen in den Gruppen mit Antikörpern und mit Insulin-Mangel (Cluster 1 und 2) neigen mehr zur Übersäuerung des Körpers durch Ketonkörper (Ketoazidosen) und bekommen am häufigsten eine Schädigung der Netzhaut (Retino­pathie).

Heute schon praktische Bedeutung?

S

tatistisch gelingt es zwar, Menschen mit Typ-2-Diabetes den beschriebenen Gruppen zuzuordnen. Im Einzelfall ist dies aber nicht mit Sicherheit möglich. Und die mathematische Methode, mit der man diese Untergruppen (Cluster) berechnet, lernt man selbst im Leistungskurs Mathematik nicht. Es fehlen auch noch Studien, die spezielle Behandlungen in bestimmten Gruppen geprüft haben. Aber in Zukunft könnte das Vorgehen bei „Typ-2“-Dia­betes ganz anders aussehen als heute: Menschen, bei denen Insulin-Mangel im Vordergrund steht, würden vielleicht mehr von rechtzeitiger Insulin-Behandlung profitieren.

Bei Patienten mit erheblicher Insulin-Resistenz wären eher Diäten oder Medikamente vorteilhaft, die Insulin-Resistenz und Leber-Verfettung reduzieren. Auch Leitlinien für die Langzeit-Betreuung könnten anders aussehen, Patienten mit höheren Risiken für einzelne Folgeerkrankungen müssten auf diese häufiger untersucht werden. Aber solange dazu keine entsprechenden Studien vorliegen, bleibt dies noch Zukunftsmusik.

Auf dem Weg zum Nobelpreis?

Selbst bei Menschen mit hohem Diabetes-Risiko, die noch gar nicht an Diabetes erkrankt sind, haben Tübinger Forscher kürzlich sehr ähnliche Cluster in einer vielbeachteten Veröffentlichung beschrieben. Die Entdeckung verschiedener Untergruppen des Typ-2-Dia­betes lässt vermuten, dass diese Formen der Erkrankung verschiedene Ursachen haben. Genetische Untersuchungen weisen auch in diese Richtung. Damit öffnet sich der Weg zum Entdecken der speziellen Ursachen dieser verschiedenen Formen des Typ-2-Diabetes – mit vielleicht ganz neuen Möglichkeiten der Behandlung. Diabetes-Forschung bleibt also richtig spannend.

Theresa May, Konrad Adenauer, Franz Josef Strauss: unterschiedicher Diabetes

Beispiele berühmter Politiker mit Typ-2-Dia­betes zeigen, welch unterschiedliche Krankheitsbilder mit ganz anderem Verlauf heute noch unter Typ-2-Diabetes zusammengefasst werden:
Theresa May regierte als britische Premierministerin in turbulenten Zeiten, fast hätte eine falsche Behandlung ihre politische Karriere beendet. Im Jahr 2012 verlor sie an Gewicht und war immer müde. Man stellte bei der damals 56-Jährigen Diabetes fest und diagnostizierte – wegen ihres Alters – Typ-2-Diabetes. Also – ganz nach den Leitlinien – mehr bewegen und abnehmen.

Das besserte die Glukosewerte aber überhaupt nicht. Auch die später eingesetzten Tabletten brachten nichts. Theresa May wurde immer dünner und kränklicher – sodass die Konservative Partei schon anfing, ihr nichts mehr zuzutrauen. Sie wechselte die Ärztin. Diese stellte fest, dass bei Theresa May Antikörper gegen Inselzellen aufgetreten waren. Sie begann mit einer Insulin-Behandlung. Alsbald wurde sie wieder kräftiger und regierte mit Insulin-Therapie energisch das Vereinigte Königreich – fast hätte sie es sogar geschafft, den Brexit zu verhindern, und attackiert jetzt wortgewandt ihren Nachfolger im Parlament.

Alter Staatsmann mit Diät malträtiert

Konrad Adenauer hatte einen mild verlaufenden Diabetes im höheren Lebensalter. Gestorben ist er mit 91 Jahren an den Folgen seiner chronischen Bronchitis, an der er schon seit Jahrzehnten gelitten hatte. Man soll ihn noch in biblischem Alter akribisch mit Diät malträtiert haben – das war wahrscheinlich bei seiner Form des Diabetes gar nicht in dem Maß notwendig. Ganz im Gegensatz dazu war die Dia­be­tes-Erkrankung seines Zeitgenossen Franz Josef Strauß – begleitet von Adipositas und Bluthochdruck – viel bedrohlicher: Er starb im Herz-Kreislauf-Versagen im Alter von 73 Jahren.

Schwerpunkt „Neue Erkenntnisse bei Diabetes“

Autor:

Dr. med. Viktor Jörgens
European Association for the Study of Diabetes (EASD)
Director EASD/EFSD (1987 bis 2015)

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (5) Seite 26-28

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