DIAlog 9 – der Auszug

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DIAlog 9 – der Auszug

Der Auszug stand an. Die Kisten waren gepackt, der Schlüssel vom Bund entfernt. Hatte der Diabetes etwa mit einem gutem Jahrzehnt Verzögerung endlich verstanden, wo sich der Weg nach draußen befand? Schön wär’s – der Diabetes zog stattdessen einfach mit um.

Die erste eigene Wohnung, die neue Stadt, das beginnende Studium, der nächste Schritt. Alles total aufregend und genauso oft verwirrend. Doch egal wie viel sich änderte, immerhin beim Diabetes konnte ich mich darauf verlassen, dass er treu an meiner Seite bleiben wird.

Der Diabetes zieht (mit) um

„Hey Diabetes“, sagte ich also zu ihm, in einer der ersten Nächte auf der ungewohnt harten Matratze und dem noch viel zu leeren Zimmer, „weißt du noch, als ich letztens meinte, dass du nicht mehr derselbe Diabetes bist?“

Quelle: Huda Said

„Oh ja, wie könnte ich deine dramatischen Ausführungen nur vergessen?“, erwiderte der Diabetes schnippisch. Ich bereute es augenblicklich, dass ich nicht wusste, in welchem Karton sich die Bratpfanne befand. Also musste ich mich damit zufriedengeben, ihm einen bösen Blick zuzuwerfen.

„Jedenfalls“, fuhr ich betont fort, „ich glaube, jetzt wirst du dich auch wieder verändern. Und ich weiß noch nicht, wie ich das finde.“

Die kommende Veränderung

Der Diabetes verharrte. „Blöd verändern?“, hakte er dann nach.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, einfach anders halt. Ich habe so lange gebraucht, um zu lernen, wie ich mit dir leben kann. So lange gebraucht, um die Tür zu öffnen, um andere hier reinzulassen. Und jetzt gibt es auf einmal wieder nur uns zwei. Auf einmal muss ich nicht mehr meine kleinen Brüder verfluchen, wenn ich mich unterzuckert auf den Kühlschrank stürze, nur um zu sehen, dass sie mal wieder den Saft leergetrunken haben. Aber plötzlich muss ich mich auch niemandem mehr gegenüber rechtfertigen, wenn ich den Tag im Bett verbringe, weil du schon wieder irgendeinen Mist anstellst. Niemand, der einfach dabei ist. Und dann wären da noch all die neuen Menschen, die ich kennenlernen werde und die dich nicht kennen.

Kaum hatte ich es geschafft, dich zur Selbstverständlichkeit zu machen, wirst du schon wieder zum Unbekannten. Ich finde einfach, das ist ein ganz komisches Gefühl. Ich meine, ich weiß natürlich, dass diese Entwicklung dazugehört und letztlich auch wichtig ist. Aber es ist schwierig, mich nicht davor zu fürchten, überfordert zu sein. Alles hinkriegen zu müssen und dich dabei wieder zu verlieren.“

Der Diabetes nickte leicht, schien über meine Worte nachzudenken. Dann sah er mich auf einmal erschrocken an: „Oh mein Gott.“

„Was?“

„Ich bin dir wichtig.“

„Du – warte, hä?“

„Ich bin dir wichtig!“, wiederholte der Diabetes triumphierend,              „halleluja, ich habe es geschafft!“

„Was zur Hölle meinst du?“ Verwirrt überlegte ich, ob Stoffwechselerkrankungen verrückt werden können. Aber dann fiel mir ein, dass ich diejenige war, die sich mit besagter Stoffwechselerkrankung unterhielt, also stand es mir wahrscheinlich nicht zu, ihn zu verurteilen.

„Du hast es gerade selber gesagt“, setzte der Diabetes zu einer Erklärung an, „du willst das, was wir haben, nicht verlieren. Ich bin nicht mehr dein Problem, sondern wir sind die Lösung. Du hast mich gerne!“

„Oh nein, nein, nein“, wehrte ich mich gleich, „weißt du, als ich das erste Mal im Hörsaal saß? Und mich total darüber gefreut habe, dass zumindest ein Teil meines Studiums in Präsenz stattfand? Und anstatt den Moment zu genießen, war ich damit beschäftigt, eine Kurve zu beobachten und mir ekligen Traubenzucker reinzuhauen, weil du der Meinung warst, dass jetzt der perfekte Zeitpunkt wäre, einen Abflug nach unten zu machen. Ich mag dich definitiv nicht, du bist so nervig!“

Friede, Freude, Google sagt 100 g Eierkuchen haben 28 g Kohlenhydrate

Der Diabetes grinste nur.

Ich seufzte. „Na gut, vielleicht kann ich dich ein klitzekleines bisschen mehr leiden als früher. Aber das ist echt kein Maßstab, weil du schrecklich warst.“

Quelle: Huda Said

„Und weißt du was? Ich werde weiterhin oft genug schrecklich sein. Ich werde dich in den am wenigsten passenden Momenten stören und dich zur Verzweiflung bringen und auf mysteriöse Art und Weise immer das Gegenteil von dem, was du willst, machen. Freue dich auf die Prüfungsphasen, das wird so ein Spaß. Und vielleicht wird es jetzt tatsächlich noch schwieriger, vielleicht musst du jetzt noch mehr Verantwortung tragen. Vielleicht wirst du es nicht immer schaffen. Und dann rufst du deine Mutter an, die freut sich eh immer darüber, jammerst sie voll, heulst dich ein bisschen aus. Denn nicht nur ein Diabetes verändert sich, sondern eine Huda auch. Und wenn wir uns dabei erneut ein bisschen verlieren, dann ist das okay, weil ich sowieso nirgendwo hingehe, sondern  einfach darauf warte, dass du wieder zurückfindest.“

Ich blinzelte. Mehrmals. „Das war überraschend rührend“, sagte ich schließlich und wollte den Diabetes fast schon in den Arm nehmen, doch das wäre dann wirklich zu viel des Guten gewesen.

Aber vielleicht, ja ganz vielleicht, war es für einen kleinen Augenblick vollkommen in Ordnung, dass es ihn gab.


Hudas letzten DIAlog findet ihr hier.

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  • gingergirl postete ein Update vor 1 Woche, 2 Tagen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

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    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 1 Woche, 3 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

  • tako111 postete ein Update vor 1 Woche, 6 Tagen

    Fussschmerzen lassen leider keine Aktivitäten zu!

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