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Bei Schuhen, die Menschen mit Diabetes und einer diabetischen Nervenstörung (Polyneuropathie) zum Schutz ihrer Füße tragen sollten, hat sich viel getan. Trotzdem mögen sie einige nicht, aus unterschiedlichen Gründen. Welche Möglichkeiten es gibt, die Schuhe trotzdem zu tragen, lesen Sie im Folgenden.
Wenn Sie entschieden haben, diesen Artikel zu lesen, haben Sie vermutlich entweder selbst das Problem erlebt oder Sie kennen es von einem Familienmitglied: Ärzte empfehlen bestimmte Schuhe zum Schutz Ihrer Füße und Sie oder Ihre Angehörigen mögen sie nicht tragen. Die Gründe hierfür können sehr unterschiedlich sein:
Wie ist es nun? Sind die Schuhe sinnvoll? “Müssen” Sie sie tragen? Und überall? Immer?
Um diese Fragen zu beantworten, werde ich auf jeden der oben genannten Gedanken eingehen.
Michael geht spazieren am Strand, barfuß natürlich. Er riecht die schöne, frische Nordseeluft, beobachtet seinen Hund, einen Jack Russell, der die Wellen anbellt. Michael ist entspannt und zufrieden, im Kopf denkt er an die letzte Woche mit dem guten Unterricht in seiner Abiturklasse. Plötzlich tritt er auf eine sehr scharfe Muschel. Er schreit kurz auf, zieht seinen Fuß sofort zurück, setzt sich hin, schaut seine Fußsohle an. Da ist eine offene und sandige Wunde. Ein Stück Muschel steckt noch drin. Michael zieht es heraus und kehrt zurück zu seinem Van. Er säubert die Wunde und schützt sie mit einem Pflaster. Den restlichen Tag humpelt er ein bisschen und geht nicht mehr spazieren.
Thorsten geht ebenfalls am Strand spazieren, auch barfuß und mit Hund. Sein Hund, ein Labrador, springt sofort in die Wellen. Thorsten denkt zufrieden an seinen Geschäftsabschluss von letzter Woche. Er hat seit 15 Jahren Diabetes. Seine Nerven sind inzwischen davon betroffen. Da die längsten Nerven im Körper in den Beinen sind, hat er am wenigsten Gefühl in seinen Füßen. Er tritt auf eine spitze Muschel – und schreit nicht vor Schmerz auf.Die Nerven in seinen Füßen haben nicht an sein Gehirn weitergeleitet, dass etwas Gefährliches passiert ist. Er läuft weiter. Die entstandene und dreckige Wunde kann er nicht wahrnehmen. Zurück in seinem Van, geht er duschen. Dabei merkt er, dass etwas Blut in der Wanne ist. Er schaut sich seine Füße an und entdeckt unter dem rechten Fuß eine kleine Stelle, die etwas rot erscheint, aber nicht wehtut. Er macht sich keine weiteren Gedanken dazu: Wenn es nicht wehtut, kann es nicht schlimm sein.Das sagt der gesunde Menschenverstand und war bisher immer seine Erfahrung. Drei Tage später wirkt sein Fuß rot und geschwollen. Thorsten hat weiterhin keine Schmerzen, geht aber trotzdem zu seinem Diabetologen, weil er weiß, dass die Füße von Menschen mit Diabetes ein wichtiges Thema sind. Sein Diabetologe weist ihn ins Krankenhaus ein. Thorsten muss schnellstens komplette Bettruhe halten und Antibiotika einnehmen, für mehrere Wochen. Er ist komplett überrascht und macht sich große Sorgen um sein Unternehmen.
Gesunder Menschenverstand ist das, womit wir bisher im Leben gute Erfahrungen gemacht haben: “Was von alleine kommt, geht von alleine”, “Schmerzen bedeutet krank oder verletzt; keine Schmerzen bedeutet meist, dass alles in Ordnung ist”, “gute Durchblutung bedeutet, dass meine Füße in Ordnung sind”, “Bewegung ist gut für Diabetes”, “Man geht nicht zum Arzt wegen jeder Lappalie”.
Die Nervenstörung, die durch Diabetes entstehen kann (diabetische Neuropathie), setzt viele dieser üblichen Regeln außer Kraft. Wenn die Nerven nicht mehr richtig funken, ist es nicht möglich, zu wissen, ob man eine Wunde hat oder nicht. Man kann sich nicht auf das Signal Schmerz verlassen.
Diese zunehmende Schmerzlosigkeit passiert allmählich, sodass sie schwer zu erkennen ist: Wenn die Raumtemperatur über drei Stunden von 22 °C auf 18 °C abfällt, würden Sie es schwerer merken, als wenn der gleiche Abfall innerhalb von fünf Minuten passierte. Es ist so ähnlich wie die Schwerhörigkeit: Man stellt den Fernseher immer lauter und merkt dabei nicht, dass man nicht mehr gut hört.
Das heißt: Auf der einen Seite ist ein Mensch, der nicht gemerkt hat, dass seine Füße gefährdet sind, weil er keine Schmerzen spürt. Er könnte in zu engen Schuhen eine Blase bekommen, die sich dann unbemerkt entzündet. Auf der anderen Seite sind Diabetologen und Podologen, die über Jahre immer wieder sehen, welche Folgen diese fehlende Schmerzleitung erzeugen kann. Sie empfehlen angepasste Schuhe, aber für die Betroffenen ist der Sinn oft nicht nachvollziehbar. Schmerzlosigkeit ist nicht sein Problem. Seine Probleme sind der Druck im Unternehmen, seine geschiedene Ehefrau, seine schwierige Tochter, der Labrador, der jeden Tag Bewegung braucht, seine Rückenschmerzen.
Wenn die Nerven in den Füßen nicht mehr korrekt anzeigen, was los ist, kann das ein stumpfes, taubes Gefühl machen. Viele Menschen mit dem Verlust von Schmerz-Empfindungen fangen an, kleinere Schuhgrößen zu kaufen, weil sie nur durch die engeren Schuhe das gewohnte Gefühl erzeugen können, dass die Schuhe passen.
Die verordneten Therapieschuhe sind extra so gemacht, dass kein gefährlicher Druck auf die Füße ausgeübt wird. Sie ermöglichen, dass man mehr in Bewegung bleiben kann, ohne zu befürchten, dass Blasen und Wunden entstehen – wenn man sich einmal an das neue Gefühl in den Schuhen gewöhnt hat. Da die Nerven taub sind, fühlen sich die neuen Schuhe allerdings manchmal zu groß an. Einige Menschen berichten, sie fühlen sich unsicher, haben Angst, zu stolpern. Sie ziehen dann lieber ihre gewohnten Schuhe an, die objektiv zu klein sind und Geschwüre erzeugen können, weil sie sich damit normaler fühlen und besser in ihrem Alltag zurechtkommen. Manchmal geht das sogar eine Zeitlang gut. Aber wenn es schiefgeht und man ins Krankenhaus muss, lange Bettruhe bewahren und Antibiotika einnehmen, ist das ein deutlicherer Eingriff in ihr Leben. Wer sich mit den Schuhen unsicher fühlt, sollte seinem Arzt und Orthopädietechniker seine Sorgen mitteilen. Es gibt Möglichkeiten, dem abzuhelfen: Krankengymnastik, um sicher in den Schuhen gehen zu können; der Orthopädietechniker kann eventuell Kompromisse in der Schafthöhe, Fersenerhöhung oder über die Steifheit der Sohlen eingehen.
Ein kleiner Tipp: Sagen Sie nicht: “Ich kann mit den Schuhen nicht gehen.” Viele Behandler denken, Sie mögen die Schuhe wegen der Optik nicht. Sagen Sie deutlich, dass Sie sich unsicher fühlen und Angst haben, zu stolpern. Dann wissen die Experten, was zu tun ist.
Sich zu outen mit einer chronischen Erkrankung, ist eine sehr persönliche Entscheidung. In früheren Diabetesschulungen hat man versucht, die Betroffenen davon zu überzeugen, Insulin in der Öffentlichkeit zu spritzen. Die Idee war gut: Wenn man sich nicht verstecken muss, erleichtert das einiges im Alltag. Allerdings habe ich mich nach Gesprächen mit Betroffenen sehr schnell davon distanziert, denn es gibt viele gute Gründe, eine chronische Erkrankung verstecken zu wollen: berufliche Gründe, das erste Date, übergriffige Schwiegereltern usw.
Man kann den Diabetes nicht sehen. Das heißt, dass es Ihnen komplett überlassen bleibt, wem Sie Informationen über Ihre Selbstbehandlung mitteilen. Mit den Schuhen ändert sich diese Situation. Wenn Sie sonst Boots getragen haben, werden die neuen Schuhe kaum auffallen. Sind Sie in einem Beruf oder einer sozialen Gruppe (Freunde, Sportgruppe, Nachbarn), wo eine andere Kleiderordnung üblich ist mit Pumps, Slippern oder Sneakers, wird es schwieriger. Vielleicht schämen Sie sich für Ihre Krankheit. Es kursieren viele stigmatisierende Gerüchte über den Diabetes, v. a. dass die Betroffenen selbst schuld seien. Das macht das Tragen der Schuhe nicht leichter. Leider gibt es hier keine perfekte Lösung: Tragen Sie weiterhin Ihre gewohnten Schuhe und bekommen eine Wunde, die sich infiziert, stehen Ihnen vielleicht lange Krankenhausaufenthalte bevor. Vielleicht gibt es für Sie einen Kompromiss: Manche Menschen ändern ihren Kleidungsstil, damit die Schuhe nicht so auffällig sind. Andere tragen die Schuhe viel, wählen aber bei einem sehr wichtigen Anlass kurz eine Alternative, die nicht zu “gefährlich” ist, sitzen dabei viel und überprüfen hinterher ihre Füße sorgfältig. Andere erzählen, sie hätten einen Sportunfall, der schlecht heilen würde.
Wie ich mich nach außen gebe, wie ich mich anziehe, gibt das Signal an die Menschen in meiner Umgebung: So bin ich. Gezwungen werden, mich anders zu kleiden, als ich möchte, ist für einige Menschen relativ unbedeutsam. Für andere wiederum ist ihre Identität mit der Art, wie sie sich nach außen zeigen, eng verwoben. Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun, es ist eine Lebensentscheidung. Die Empfehlung, Schuhe zu tragen, die nicht zu mir passen, ist ein Eingriff in meine Autonomie. Hier kann ich nur empfehlen: Sprechen Sie offen mit Ihrem Orthopädieschuhtechniker, denn es gibt innerhalb der gleichen Preiskategorie viele Möglichkeiten. High Heels und Riemchen-Sandalen gehen nicht, aber vieles ist möglich, was zu Ihnen passen könnte.
Ein kleiner Tipp: Nehmen Sie Fotos mit und entwerfen Sie etwas, was Sie vom Aussehen her eher tragen mögen.
Die Gründe für das Tragen von verordneten Schuhen bei einer diabetischen Nervenstörung sind in vielen Studien nachgewiesen worden. Wenn Sie Ihre Füße bestmöglich vor Wunden schützen wollen, kann man nur empfehlen: Tragen Sie die Schuhe immer und überall. Seien Sie hartnäckig mit Ihrem Behandlungsteam, bis Sie mit den Schuhen sicher gehen können. Die psychische Gewöhnung kann allerdings ein bisschen dauern: Wer bin ich jetzt mit solchen Schuhen? Merken die anderen was? Wie reagieren sie? Reagieren sie überhaupt?
Manchmal hilft es, sich nicht vorzustellen, Sie müssen die Schuhe tragen, sondern Sie überlegen sich eine Probezeit: So und so viele Wochen werden Sie die Schuhe tragen und danach werden Sie eine Entscheidung treffen. Machen Sie ein kleines Verhaltensexperiment mit sich selbst. Vielleicht hilft es auch, sich die Schuhe als hilfreichen Schutz vorzustellen: Sie sind außen hart und innen ganz weich. Sie schmiegen sich an Ihre Füße und halten sie fern von Druck und Gefahr.
Zum Schluss möchte ich Ihnen etwas aus meiner eigenen Überzeugung sagen: Sie haben eine Krankheit bekommen, die Sie nicht wollten und die Sie – bei allem Wissen über Ernährung und Bewegung – nicht zu 100 Prozent steuern konnten und können. Nun haben Sie auch eine Nervenstörung in den Füßen, die Sie auch nicht haben wollten. In vielen Gesprächen mit Menschen mit Diabetes hat mich immer wieder erstaunt, wie gemein sie sich selbst gegenüber waren. Sie haben sich geschämt für ihre Krankheit, für die Stoffwechsel-Schwankungen, für das schwer kontrollierbare Gewicht und für die Folgen, die daraus entstehen. Schämen Sie sich und machen Sie sich Vorwürfe für den Diabetes und für die Probleme mit Ihren Füßen? Was würden Sie einem Menschen wünschen, der im Leben zweimal Pech mit der Gesundheit hatte? Ich vermute, eher Verständnis und Fürsorge. Wenn Sie sich für Ihre Schuhe entscheiden, tun Sie es aus Fürsorge sich selbst gegenüber. Stehen Sie für sich selbst ein.
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (1) Seite 26-27
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