„Ich will den Diabetes beherrschen, nicht er mich“ – 51 Jahre Leben mit Typ-1-Diabetes

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„Ich will den Diabetes beherrschen, nicht er mich“ – 51 Jahre Leben mit Typ-1-Diabetes

Wie wird mein Leben wohl in 20, 30, 40, 50 oder mehr Jahren aussehen? Was hält die Zukunft für mich bereit, was in der Gegenwart noch Träumerei ist und in der Vergangenheit gar als unmöglich galt? Diese Fragen stellen sich bestimmt die meisten, wenn nicht jeder von uns zu gewissen Zeitpunkten unseres Lebens.

Fragen, die Neugierde auslösen, uns ins Grübeln bringen und auch mit Ängsten einhergehen.

Als Mensch, dessen tägliche Realität darin besteht, die eigenen Blutzuckerwerte im Auge zu behalten, und der aktiv daran beteiligt ist, den körpereigenen Insulinbedarf zu managen, sind in die Zukunft gerichtete Fragen nicht selten auch an den Typ-1-Diabetes gekoppelt. Ergibt schließlich Sinn, denn auch 2020 gelten Menschen mit Typ-1-Diabetes immer noch als chronisch krank, was per definitionem „beständig“ oder mindestens „lange andauernd“ bedeutet.

Michi an der Saarschleife / Quelle: Michi Krauser

Auch wenn immer mehr vielversprechende technologische Fortschritte das Diabetes-Management erleichtern und neue Forschungen immer häufiger Anlass zur Freude geben, fällt eine Heilung des Diabetes für mich persönlich immer noch in die Kategorie der Träumerei… Naja, im heutigen Beitrag soll es gar nicht zwangsläufig um die Zukunft des Diabetes gehen.

Wieso teile ich also diese Gedanken mit euch? Nun ja, im Rahmen unseres Monatsthemas „Älter werden mit Diabetes“ hatte ich das Vergnügen, mit jemandem zu sprechen, dessen Diabetesdiagnose im Jahre 1969 noch unter einem ganz anderen Stern stand.

Diabetes-Zeitreise in die 60er Jahre

Johann Kimmerle ist 71 Jahre alt. Seit 51 Jahren lebt er bereits mit Typ-1-Diabetes. Nach einem Autounfall, mit anschließendem Oberschenkelbruch, bekam er im November 1969 erst auf Nachfrage mitgeteilt, dass bei ihm ein manifester Typ-1-Diabetes festgestellt wurde.

„Ich war damals überrascht, dass mein Zimmergenosse keine Thrombose-Spritzen mehr bekam, ich jedoch noch weitergespritzt wurde. Auf Nachfrage bei der Schwester verwies diese mich an den behandelnden Arzt, welcher mir dann mitteilte: ‚Wir haben bei Ihnen festgestellt, dass Sie Zucker haben, und mit der Spritze werden Sie bis ans Ende Ihres Lebens leben müssen.‘“

So „einfühlsam“ wurde man also Ende der 60er Jahre noch diagnostiziert. Diabetes-Schulungen? Damals Fehlanzeige! Stattdessen gab es nach achtwöchigem Krankenhausaufenthalt eine Broschüre sowie eine Glasspritze, „die jeden zweiten Tag ausgekocht werden sollte“, und einen Verweis an den Hausarzt, der damals alle zwei bis drei Wochen den Blutzuckerwert feststellte und darauf basierend Handlungsempfehlungen gab.

Bis heute ärgert es Herrn Kimmerle, dass er damals so alleine im Regen stehen gelassen wurde, denn der, wie er sagt, „diabetische gordische Knoten“ platzte bei ihm erst während eines Aufenthalts in der Diabetes-Klinik Bad Mergentheim 1984. Richtig gehört: 15 Jahre nach der Diagnose bekam Herr Kimmerle seine erste richtige Schulung, durch die er anfing, seinen Diabetes richtig zu verstehen.

Kein Wunder also, dass er durch die wenigen zur Verfügung stehenden Informationen und die Aussagen der Ärzte damals davon ausging, aufgrund des Diabetes ein verkürztes Leben vor sich zu haben, das schon mit 50 Jahren zu Ende sein könnte. Sehr düstere Aussichten, doch so sah die Gedankenwelt bei vielen neudiagnostizierten Typ-1ern damals aus. Eine sehr ungewisse Zukunft…

Ein Postbeamter mit „Bubenträumen“

Ja, die Diagnose kam damals wie heute als großer Schock, doch deswegen die Flinte ins Korn zu werfen, kam für Herrn Kimmerle nie in Frage. Er schlug eine Karriere bei der Post ein. Und nachdem ihm der Postführerschein entzogen wurde, weil „Diabetiker nicht dafür geeignet waren“, folgten einige Jahre als Briefträger. „Mein persönliches Highlight“, wie er berichtet. Denn im Zustelldienst lernte er stets viele Menschen kennen und das Ausmaß an Bewegung tat ihm und seinem Diabetes sehr gut. Mit Unterstützung seines damaligen Arztes schaffte er es dann auch nach 1 1/2 Jahren Kampf in den mittleren Dienst und verbrachte seine letzten Jahre bei der Post in der Hauptverwaltung in Kempten.

Kämpfen konnte Herr Kimmerle jedoch nicht nur, wenn es darum ging, auf der Arbeit voranzukommen, sondern auch auf dem Fahrrad. 18 Jahre lang fuhr er leidenschaftlich Rad und die Strecken hatten es dabei in sich. Nicht selten wurden dabei auch mal Distanzen über 100 km am Tag überschritten. Die vielen Jahre auf dem Fahrrad halfen ihm dabei, seinen Körper und den Diabetes besser zu verstehen, und er teilte seine Erfahrungen gerne mit anderen. Lediglich ein Mal in 18 Jahren schätzte er die Belastung falsch ein, sodass ihm sein Sohn bei Ankunft zu Hause mit einer Flasche Cola aushelfen musste, weil er selbst nicht mehr die Kraft dazu hatte.

„Ich habe alles mitbekommen, konnte nur nicht mehr stehen“, lacht er, als er sich daran erinnert.

Herr Kimmerle wäre bestimmt noch einige weitere Jahre Fahrrad gefahren, wenn er nicht von seinen Augen gebremst worden wäre. Während einer seiner Fahrten wurde es plötzlich dunkel und verschwommen vor seinen Augen. Grund dafür waren geplatzte Äderchen, die dazu führten, dass seine Sicht eingeschränkt wurde.

„Plötzlich war alles dunkel und ich habe alles nur noch schemenhaft gesehen. (…) Das war der größte Schock in meinem Diabetiker-Leben, weil ich dachte, ich wäre blind.“

Quelle: Johann Kimmerle

Glücklicherweise war dem jedoch nicht so. Nach einigen Monaten des Wartens und einer Laserbehandlung der Augen kehrte die Sehkraft wieder zurück und auch, wenn er seitdem etwas eingeschränkt ist, freut er sich, dass es seit diesem Ereignis vor 20 Jahren keine weiteren Vorfälle mehr gab. Ähnlich geht es seinem Herzen. Ein Stent musste ihm gesetzt werden, aber auch hier hat er seitdem keine Beschwerden mehr.

Man kann also festhalten, dass Herr Kimmerle so einiges mit seinem Diabetes erlebt hat. Doch für „Bubenträume“ ist es nie zu spät! Bubenträume? Das waren für ihn die Träume und Leidenschaften aus seiner Kindheit. Insbesondere zwei Sachen: Pferde und Musik.
Mit 51 Jahren entschied er sich noch dazu, ein Pferdegespann zu kaufen und sich tagtäglich um die Tiere 19 Jahre lang zu kümmern. Gemeinsam mit seiner Partnerin fuhren sie zu Turnieren bis nach Straßburg und Heilbronn und nahmen an acht bis zwölf Turnieren pro Jahr teil. Die Bilanz: 11 Siege und 53 Mal unter den ersten fünf!
Nun fehlte ihm also nur noch die Musik. Und diesem Hobby kommt er nun seit 4 Jahren mit seiner Harmonika nach. Es ist also nie zu spät, Bubenträume wahr werden zu lassen!

Zielflagge in Sicht?

Mein Interview per Telefon mit Herrn Johann Kimmerle ging über eine Stunde und hätte eventuell gar nicht stattgefunden. Denn auch Ina hat mit ihm gesprochen. Ihren Beitrag findet ihr hier.

Und wisst ihr was: Gott sei Dank schleichen sich solche Dinge manchmal ein, denn ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, von ihm aus erster Hand zu hören, was er denn alles erlebt hat.

Herrn Kimmerles mutmachende und schwungvolle Herangehensweise ans Leben hört man ihm einfach an. Für ihn war immer klar, dass es nur eine Richtung geben kann und zwar die nach vorne. Manchmal, so sagt er, habe ihn der Diabetes in der Vergangenheit sogar angestachelt, gewisse Ziele zu erreichen. Frei nach dem Motto: Jetzt erst recht! Und genau deswegen war es ihm wichtig, an diesem Interview teilzunehmen. Um seine Geschichte zu teilen und zu zeigen, was Leben mit Typ-1-Diabetes alles bedeutet.

Als sich Herr Kimmerle zum Zeitpunkt seiner Diagnose Gedanken um seine Zukunft gemacht hat, war er sich nicht sicher, ob er älter als 50 Jahre werden wird. Heute ist er 71 und sagt: „Ich habe die Zielflagge noch nicht gesehen, deswegen laufe ich weiter.“


Weitere Interviews und Gedanken über das Älterwerden mit Diabetes findet ihr hier:

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  • hallo, ich hab schon ewig Diabetes, hab damit 4 Kinder bekommen und war beruflich unterschiedlich unterwegs, in der Pflege und Pädagogik. Seit ein paar Jahren funktioniert nichts mehr so wie ich das möchte: die Einstellung des Diabetes, der eigentlich immer gut lief, Sport klappt nicht mehr….ich bin frustriert und traurig..so kenne ich das nicht.. Geht es jemanden ähnlich? Bin 53…Viele grüße. Astrid

    • Liebe Astrid! Ich gerade 60 geworden und habe seit 30 Jahren Typ 1, aktuell mit Insulinpumpe und Sensor versorgt. Beim Diabetes läuft es dank des Loop gut, aber Psyche und Folgeerkrankung, Neuropathie des Darmes und fehlende Hypoerkennung, machen mir sehr zu schaffen. Bin jetzt als Ärztin schon berentet und versuche ebenfalls mein Leben wieder zu normalisieren. Kann gut verstehen, wie anstrengend es sein kann. Nicht aufgeben!! Liebe Grüße Heike

    • @mayhe: Hallo liebe Heike, danke für deine schnelle Antwort, das hat mich sehr gefreut. Nein aufgeben ist keine Option, aber es frustriert und kostet so viel Kraft. Ich hoffe dass ich beruflich noch einen passenden Platz finde. Und danke dass du dich gemeldet hast und von deiner Situation berichtet. Das ist ja auch nicht einfach. Und ich wünsche auch dir eine gewisse Stabilisierung…jetzt fühle ich mich mit dem ganzen nicht mehr so alleine. Was machst du denn sonst noch? Viele Grüße Astrid

    • Liebe Astrid! Ja, das Leben mit Diabetes ist echt anstrengend. Es kommt ja auf den normalen Wahnsinn noch oben drauf. Ich habe den Diabetes während der Facharztausbildung bekommen und ehrgeizig wie ich war auch damit beendet. Auch meinen Sohn, 26 Jahre, habe ich mit Diabetes bekommen. Hattest bei den Kindern auch schon Diabetes? Leider bin ich von Schicksalsschlägen dann nicht verschont geblieben. Was dann zu der heutigen Situation geführt hat. Ich habe durchgehalten bis nichts mehr ging. Jetzt backe ich ganz kleine Brötchen, freue mich wenn ich ganz normale kleine Dinge machen kann: Sport, Chor, Freunde treffen, usw. Ich würde mich zwar gerne aufgrund meiner Ausbildung mehr engagieren, dazu bin ich aber noch nicht fit genug. Was machst du so und wie alt sind deine Kinder? Bist du verheiratet? Liebe Grüße Heike

  • Wir freuen uns auf das heutige virtuelle Community-MeetUp mit euch. Um 19 Uhr geht’s los! 🙂

    Alle Infos hier: https://diabetes-anker.de/veranstaltung/virtuelles-diabetes-anker-community-meetup-im-november/

  • insulina postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Reisen mit Diabetes vor 3 Wochen

    Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

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