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Medizinische Leitlinien sollen Ärztinnen und Ärzten und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe helfen, Entscheidungen im Praxis-Alltag zu treffen. Für Patientinnen und Patienten gibt es spezielle Patientenleitlinien, damit auch sie von diesen wissenschaftlich gesicherten Informationen profitieren können.
Die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland (AWMF; www.awmf.org) werden je nach Thema von den zuständigen Fachgesellschaften erarbeitet. Für besonders häufige und schwerwiegende Erkrankungen hat die AWMF vor 20 Jahren zusammen mit der Bundesärztekammer (BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) das Programm „Nationale VersorgungsLeitlinien“ (NVL) ins Leben gerufen. Die erste Leitlinie dieser Art war 2004 die „Nationale VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes“.
Die Leitlinien sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte und Angehörige anderer Gesundheits-Berufe sowie für Patienten. Die Leitlinien sollen bei Entscheidungen unterstützen, wenn es um die Diagnostik und die Therapie von Erkrankungen geht, wie Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit (KHK), Herzinsuffizienz (Herzschwäche), chronisch obstruktive Lungenerkrankung (z. B. „Raucherhusten“) und Depression. Die Leitlinien beruhen vorwiegend auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Verfahren, die sich in der Praxis bewährt haben. So sorgen sie für mehr Sicherheit in der Medizin.
Leitlinien sind für Ärzte rechtlich aber nicht bindend, sie sind keine Richtlinien. Daher haben sie weder Haftungs-begründende noch Haftungs-befreiende Wirkung. Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen die Regierung die Leitlinien-Programme organisiert, ist das deutsche NVL-Programm – als Konsequenz der Gesetzgebung (§ 137 SGB V) – eine Initiative der AWMF, der BÄK, der KBV und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Die Organisation liegt in den Händen des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ).
Leitlinien sind von besonderer Bedeutung für die medizinische Versorgung vieler akuter und chronischer Erkrankungen und ihrer eventuellen Komplikationen. In den letzten Jahren wurden international wichtige methodische Standards für die Leitlinien-Entwicklung entwickelt, woran AWMF und ÄZQ maßgeblich beteiligt waren. Besonders berücksichtigt wurden dabei Kriterien zur Bewertung von Forschungs-Ergebnissen, von Studien-Endpunkten (z. B. Herzinfarkt), die für Patienten bedeutsam sind, und mögliche Interessenkonflikte der Entwickler der Leitlinien.
Unter Berücksichtigung der neuen Anforderungen insbesondere auch an die Nationalen VersorgungsLeitlinien wurde die NVL Therapie des Typ-2-Diabetes im Jahr 2013 neu aufgelegt. Ergänzend wurden über die Jahre weitere Themen-Schwerpunkte bearbeitet und publiziert, u. a. zu Schulungs-Programmen, zu Nieren-Erkrankungen, zu Netzhaut-Komplikationen, zur Neuropathie und zu Fuß-Komplikationen.
Es zeigte sich, dass diese Leitlinien nicht besonders tauglich für die Praxis waren und dass die parallel entwickelten Patientenleitlinien kaum zum Einsatz kamen. Daher hat man sich entschlossen, die NVL Typ-2-Diabetes neu zu strukturieren und zu entwickeln. Diese Leitlinie soll alle wichtigen Aspekte in der Diagnostik und Betreuung von Menschen mit Typ-2-Diabetes und deren Komplikationen beinhalten.
Dazu gehören:
Die Überarbeitung erfolgt in einzelnen Modulen, wobei 34 Fachgesellschaften/Berufsgruppen und Patienten-Organisationen aktiv beteiligt sind. Damit es nicht zu Interessenkonflikten kommt, werden die Arbeitsgruppen unabhängig durch das ÄZQ geleitet. ÄZQ und AWMF moderieren den Entwicklungs-Prozess, achten auf die unabhängige Bewertung der entscheidenden wissenschaftlichen Publikationen, die strikte Umsetzung der Leitlinien-Methodik. Außerdem gibt es einen strukturierten, transparenten Prozess, um zu einem Konsens zu kommen. Das Leitlinien-Gremium besteht aus vielen Delegierten der einzelnen Fachgesellschaften, wobei jede Fachgesellschaft nur eine Stimme bei Abstimmungen besitzt. Indem alle an der Versorgung beteiligten Disziplinen, Organisationen und Patienten/Patientinnen einbezogen werden, sollen die Leitlinien-Empfehlungen wirksam verbreitet und umgesetzt werden.
Einen Teil der NVL Typ-2-Diabetes veröffentlichten die BÄK, die KBV und die AWMF zusammen mit dem ÄZQ im Frühjahr 2021. Die Teilpublikation umfasst bisher zwei Kapitel, zu finden unter www.leitlinien.de/diabetes:
Erstmals wird in einer NVL das sehr wichtige Thema „Grundsätze der Therapieplanung und -umsetzung“ umfänglich diskutiert. Einbezogen werden dabei die Einstellungen, Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Diabetes. Dabei geht es um den gleichberechtigten Dialog zwischen Patientin/Patient und Ärztin/Arzt in der Betreuung von Menschen mit Diabetes. Ziel ist es, durch verständliche Informationen gemeinsam zu entscheiden über Therapieziele, -planung, -umsetzung und -veränderung. Die partizipative Entscheidungsfindung entspricht damit der aktuellen Rechtsprechung des Patienten-Rechte-Gesetzes und dem Wunsch der meisten Bürger nach Teilhabe und Mitentscheidung bei wichtigen gesundheitlichen Fragen.
Das intensive Einbinden der Patienten ist im Praxisalltag aber aus verschiedenen Gründen nicht ohne Weiteres umzusetzen. Die Gründe können sowohl bei den Patienten als auch bei den Praxisteams liegen. In der NVL wird versucht, die wichtigsten Barrieren bei der Umsetzung in der klinischen Praxis aufzuzeigen und mögliche Lösungen darzustellen.
Es werden folgende Empfehlungen formuliert:
Das Kapitel zur partizipativen Entscheidungsfindung ist bewusst an den Anfang der Nationalen VersorgungsLeitlinie gesetzt, denn es erklärt die grundsätzliche Behandlungs-Philosophie für die Therapie von Menschen mit einer chronischen Erkrankung wie Diabetes – was gleichermaßen für die nicht medikamentöse wie für die medikamentöse Therapie maßgeblich sein sollte. Ein gemeinsam vereinbartes, realistisches und zeitnahes Ziel schafft die wichtigsten Voraussetzungen für Therapie-Zufriedenheit und -Treue.
Um die gemeinsamen Ziele im Sinne einer individualisierten Medizin umzusetzen, sind mehrere Faktoren wichtig. Dazu gehören eine vertrauensvolle Beziehung von Patientin/Patient und Ärztin/Arzt, ein gutes Zeit-Management und der Abbau organisatorischer und struktureller Barrieren. Der zeitgerechte Beginn oder das Anpassen der Behandlung, das ausreichende Berücksichtigen Personen- und Umwelt-bezogener Faktoren und selbstverständlich auch ausreichende Kenntnisse und der Wille zum Umsetzen aktueller Leitlinien-gerechter Therapie-Empfehlungen sind ebenfalls wichtig. Werden Therapie-Ziele nicht erreicht, bietet die Leitlinie Lösungs-Möglichkeiten an, sowohl Richtung Patienten als auch Richtung Diabetes-Team.
Im Kapitel „Medikamentöse Therapie des Glukosestoffwechsels“ steht die Bewertung des mit dem Patienten vereinbarten Therapie-Ziels ganz im Vordergrund. Dieses Ziel ist durch nicht medikamentöse Therapie, wozu Schulung, Gewichts-Management, Ernährungs-Therapie, Bewegungs-Therapie, Nichtraucher-Programme und Stressbewältigungs-Strategien gehören, und medikamentöse Maßnahmen – falls notwendig – zu erreichen. Dabei richtet sich die Auswahl der Medikamente nach dem Risiko für Herz-Kreislauf- oder Nieren-Erkrankungen bzw. der Schwere bereits vorhandener Erkrankungen.
Dabei müssen alle Risikofaktoren gemeinsam betrachtet werden, weil wegen häufig vorhandener Begleit-Erkrankungen viele Medikamente nötig sind – weshalb zu entscheiden ist, welche Therapie-Ziele die wichtigsten sind. Gemäß diesen Voraussetzungen und Kriterien werden in der Leitlinie die einzelnen Medikamente anhand der Ergebnisse der wichtigsten Studien gewichtet. Damit konnten sich alle Fachgesellschaften auf Behandlungs-Empfehlungen einigen, die den Empfehlungen der amerikanischen (ADA) und der europäischen Diabetes-Gesellschaft (EASD) sehr ähneln. Auf Grundlage der Leitlinien stellt das ÄZQ im Internet auch Informationen für Patientinnen und Patienten zur Verfügung unter www.patienten-information.de.
von Prof. Dr. Rüdiger Landgraf
E-Mail: ruediger.landgraf@gmx.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (5) Seite 22-25
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