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Habt Ihr Euch schon mal darüber Gedanken gemacht, wie einfach doch eine Diabeteseinstellung sein kann? Mir ist es schon oft passiert, dass ich, wenn ich nach meinem Befinden im Bekanntenkreis gefragt werde und ehrlich Rede und Antwort stehe, nur ein Kopfschütteln zurückerhalte. Mit der Entwicklung, der Technik und dem Wissen sowie meiner langjährigen Erfahrung ist Diabetes doch nur noch eine Nebensache oder ein Selbstläufer! Mit der Insulinpumpe geht doch alles automatisch! Und jetzt mit der 24-Stunden-Überwachung durch das CGM! Oft habe ich mich gefragt, ob es sich wirklich lohnt, immer die Wahrheit zu sagen – oder einfach das Thema mit einem „Gut!“ zu beenden. Denn leider gibt es viele Menschen, die oberflächlich sind. Die Nachfrage nach dem Befinden wird oft nur als Höflichkeit genutzt, um dem Gegenüber zu zeigen, dass man sich für ihn interessiert. Ehrliches Interesse sieht anders aus.
Bislang konnte mir noch niemand folgen, auch wenn ich mich bemüht habe wie der Erklärbär, alles genau zu beschreiben. Für die Menschen, die mit dem Kopf schütteln und die danach sagen: „Das kann doch nicht so schwer sein, deinen Diabetes in den Griff zu bekommen!“ habe ich nun eine ganz einfache mathematische Formel entwickelt, die ich dann auf den Tisch lege:
Sicherlich hat mich jetzt jeder „professionelle Diabetiker“ als Komiker entlarvt. Wenn ich diese Formel jedoch meinem uninteressierten Gegenüber zeige, erhalte ich meist fragende Blicke. Genau dann ist der richtige Moment, um zu sagen: „Um meinen Insulinbedarf genau zu berechnen, sind die Unbekannten X durch Messwerte oder Variablen zu ersetzen. Diese Formel berechne ich genau alle 30 Minuten, also 48-mal am Tag, und ich weiß sofort, wie viel Insulin ich für die nächsten 30 Minuten benötige!“ Wenn darauf mein Gegenüber noch nicht genug Informationen hat, sage ich ganz selbstbewusst: „Das hier ist aber die ganz einfache Formel, die ich von meinem Diabetologen bekommen habe. Um meine Einstellung richtig in den Griff zu bekommen, berechne ich auch noch ein, wie stark der Gegenwind beim Spazieren war und wie viele Kalorien ich durch Wärme an die Umwelt abgebe. Ohne diese zusätzlichen Variablen ergibt es eigentlich keinen Sinn!“
Oft habe ich es erlebt, dass man Menschen mit etwas Übertriebenem konfrontieren muss, um Aufmerksamkeit zu erlangen oder sicherzugehen, dass man ernst- und wahrgenommen wird. Das Plaudern über uninteressante Dinge, nur um zu plaudern, gefiel mir noch nie.
Dennoch hat dieser Artikel einen ernsthaften Hintergrund und soll einmal aufzeigen, was wir Diabetiker täglich zu leisten haben, um unserem Körper keinen Schaden zuzufügen. In meinem Beitrag „Einstellung, Umstellung, Änderung, Verbesserung – der Quantensprung zum besseren HbA1c in zwei Teilen“ hatte ich beschrieben, wie einfach es ist, mit einem Airbus auf einem Flugzeugträger zu landen oder mit einem Reisebus auf dem Radweg zu fahren. Auch wenn es nur ein übertriebener Vergleich ist, trifft es den Nagel fast auf den Kopf. Denn wie oft habe ich mir schon Gedanken darüber gemacht, wenn mein Diabetes entgleist ist, woran es gelegen hat.
Ich bin auf diesen Vergleich gekommen, als ich mir Folgendes überlegt habe: Ein Mensch, der 80 Kilo auf die Waage bringt und am Tag 50 Einheiten Insulin spritzt, der braucht somit nur etwa den 160.000stel Teil seines Gewichtes an Insulin pro Tag. Die Naturwissenschaftler unter Euch werden an dieser Stelle bemerken, dass dieser Vergleich sicherlich nicht zu 100% umzurechnen ist. Denn das spezifische Gewicht eines Körpers und auch von Insulin ist nicht wie bei Wasser 1 kg gleich 1 Liter. Auch wenn sich diese Rechnung nur an einem ungenauen Anhaltspunkt orientiert, soll sie vielmehr verdeutlichen, wie groß der Einfluss von Zucker und Insulin auf den Körper ist und wie schwierig die Dosierung sein kann. Ohne genaue Instrumente und Pumpen währen wir fast nicht in der Lage, die richtige Dosis genau zu dosieren. Wenn nun unser 80-kg-Beispielpatient für eine Mahlzeit 5 Einheiten spritzt, entspricht das ungefähr dem 1,6 Millionstel seines Körpergewichtes. Denn 5 Einheiten sind bei einem Insulin mit der Konzentration 100 Einheiten pro Milliliter (U100) nur 0,00005 Liter Insulin. Um also mit dem Reisebus immer in der Mitte des Radweges zu fahren, muss er genau dosieren. Mein Omnipod ist ja sogar in der Lage, einen einzigen Milliliter Insulin in 2.000 Teile aufzuteilen bzw. eine Einheit in 20 Teile aufzusplitten und genau ins Gewebe abzugeben. Einen Liter Insulin könnte der Omnipod in 2 Millionen kleine Portionen aufteilen und mein CGM, welches ich benutze, sendet die Zuckerwerte in mg/dl mit Kommazahlen.
Die Technik kann schon sehr viel und ich bin in der Lage, auch einiges automatisch anhand von Erfahrungen zu berechnen, jedoch kommen bei jeder Berechnung meines Insulinbedarfs so viele Unbekannte hinzu, dass es erstens anders kommt und zweitens, als ich dachte. Denn wer berechnet die Leber oder vielleicht einen grippalen Infekt oder andere Unbekannte mit in seinen Tagesablauf mit ein? Die Technologie ist so weit, dass gefühlt jeder Zweite auf der Straße einen Schrittzähler trägt und genau dokumentiert, wie viel er sich bewegt hat. Wir sind somit in der Lage, viele Mess- und Erfahrungswerte in die Formel einzubringen. Dennoch können der Faktor Mensch und der Organismus sowie Gefühle und hormonelle Begebenheiten nicht so einfach gemessen werden bzw. ist es zu aufwendig.
Auf der anderen Seite steht die Aufnahme von Nahrung. Der 80-Kilo-Mann kann durch 6 Gramm Traubenzucker seinen Glukosespiegel um vielleicht 40 mg/dl (2,2 mmol/l) erhöhen. 6 Gramm entsprechen dabei etwa dem 13.300stel seines Körpergewichtes. Sowie sich diese 6 Gramm im Kreislauf verteilen, steigt der Blutzucker nicht nur messbar an, sondern es reicht aus, ohne entsprechende Gabe von Insulin, den Zielbereich zwischen 80 und 120 mg/dl (4,4 und 6,7 mmol/l) zu verlassen. Würden wir täglich unsere gleich große Ration Trockenfutter erhalten, wie es viele Halter von Vierbeinern ihren Liebsten geben, so wäre es viel einfacher zu berechnen, wann und wie stark die aufgenommene Nahrung wirkt.
Die Variable „Nahrungsaufnahme“ wäre einfacher zu berechnen, als wenn das Frühstück abwechslungsreich gestaltet wird. Allerdings müsste bei abgezähltem und einheitlichem Trockenfutter genau einkalkuliert werden, wie viel Wasser wir zu dieser Mahlzeit aufnehmen, da dies die Resorption beeinflussen kann. Ich glaube nicht, dass irgendjemand wieder eine Diabetesdiät absolvieren möchte, wie es früher an der Tagesordnung war. Alles wurde genau abgewogen und berechnet – auch Fett und Eiweiß.
Um meine Variablen möglichst geringen Schwankungen auszusetzen, nutze ich eine Möglichkeit, einfache Regeln zu schaffen, indem ich versuche, verschiedene Gerichte zu standardisieren und herauszufinden, wie viel Insulin ich für wiederkehrende Mahlzeiten benötige. Zum Beispiel beim Frühstück oder dass ich mir Gerichte wie eine Pizza bei meinem Lieblingsitaliener merke und beim nächsten Mal genau weiß, wie viel Insulin so eine Kalorien- und vor allem Kohlenhydratbombe benötigt. Leider geht auch das nicht immer auf. Wenn zum Beispiel der Pizzabäcker durch seinen Kollegen vertreten wird oder etwas mehr Öl auf der Pizza ist, kann es wieder zu Unregelmäßigkeiten kommen. Ganz zu schweigen vom Bräunungsgrad der Pizza selbst. Denn auch, wenn man denkt, alles ist berechnet, macht einem das Gesetz des Zufalls einen Strich durch die Rechnung.
Gleichmäßige Nahrung, gleichmäßige Bewegung, gleichmäßige Gabe von Insulin sind nach meiner Erfahrung eine gute Basis, um ein gut eingestellter Diabetiker zu sein. Für mich kommt dies leider nicht in Betracht, weil mein Tagesablauf sich täglich ändert. Zwar versuche ich, regelmäßig zu essen und möglichst die Abweichungen gering zu halten, jedoch kommt immer mal wieder etwas dazwischen, was vorher nicht geplant war. Das Leben fordert mich also jeden Tag aufs Neue, zu improvisieren und Variablen gegeneinander zu berechnen. Und dann muss ich wieder die Formel herausholen und alles neu berechnen. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, wenn ich die Formel zu 100% beherrsche, den Schwierigkeitsgrad etwas höher zu stecken und mit einem Reisebus auf einem Flugzeugträger zu landen oder mit einem Airbus auf dem Fahrradweg zu fahren.
Bis ich so weit bin und alles sicher berechnen kann, lasse ich mir momentan alle paar Minuten meinen Zucker vom Smartphone ansagen, um bei stärkeren Schwankungen sofort reagieren zu können. Dadurch kommt es jedoch zustande, dass ich als Diabetiker vom Umfeld erkannt und nach meiner Einstellung gefragt werde. Aber dafür habe ich ja die Phantasieformel.
Wie geht Ihr mit Fragen zu Eurer Einstellung um? Besprecht Ihr das Thema Diabetes auch mit Bekannten oder Freunden? Ich würde mich über einen Kommentar sehr freuen!
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