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Neue Erkenntnisse über die Rolle des Gehirns machen Hoffnung auf Therapie-Möglichkeiten für Menschen mit Diabetes und Übergewicht. Nicht allein die Bauchspeicheldrüse oder die Muskulatur spielen – wie lange angenommen – beim Entstehen der Stoffwechselstörung die entscheidende Rolle, sondern die Wechselwirkung zwischen dem Gehirn und diesen Organen.
In der Diabetes-Schulung lernen Menschen mit Diabetes: Beim Typ-2-Diabetes wirkt das Hormon Insulin im Leber-, Fett- und Muskelgewebe nicht mehr ausreichend und die Bauchspeicheldrüse schüttet außerdem zu wenig Insulin aus. Das ist alles richtig – aber neue Erkenntnisse aus der Forschung deuten darauf hin, dass bei dieser Erklärung die zentrale Rolle des Gehirns zu kurz kommt.
Grundsätzlich funktioniert der Glukosestoffwechsel so: Das Hormon Insulin wird nach der Aufnahme von Nahrung ins Blut abgegeben und zu den Organen transportiert. Dort fungiert es als eine Art Türöffner. Dockt es an die passgenauen Insulin-Rezeptoren auf den Leber-, Fett- und Muskelzellen an, öffnen diese ihre Pforten für den aus der Nahrung gewonnenen Zucker (Glukose), der im Blut zirkuliert (Blutzucker) und so in die Zellen gelangt. Dort wird die Glukose in Energie umgewandelt und der Blutzuckerspiegel normalisiert sich wieder.
Manche Menschen entwickeln im Lauf ihres Lebens eine Insulin-Resistenz. Bei ihnen kann Insulin seine Funktion als Türöffner nicht mehr ausüben. Folglich gelangt die Glukose nicht mehr in die Zellen, sondern bleibt im Blut, sodass der Blutzuckerspiegel (dauerhaft) zu hoch ist, und es entsteht ein Typ-2-Diabetes. Aber weshalb verliert das Hormon bei einigen Menschen seine Funktion als Türöffner – und bei anderen nicht? “Eine wirklich befriedigende Antwort auf diese Frage gibt es noch nicht. Aber es deutet immer mehr darauf hin, dass das Gehirn dabei eine zentrale Rolle spielt”, sagt Prof. Dr. Hubert Preißl.
Der Forscher leitet am Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen von Helmholtz Munich an der Universität Tübingen die Arbeitsgruppe “Metabolic Neuroimaging” und ist Sprecher der Academy “Gehirn” des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD). Wie er berichtet, zeigen neue Forschungs-Arbeiten nämlich: Reagiert das Gehirn nicht empfindlich genug auf Insulin, führt dies zu Änderungen in der Aufnahme von Glukose aus dem Blut in Leber-, Fett- und Muskelgewebe – mit der bekannten Konsequenz des steigenden Blutzuckerspiegels.
Prof. Dr. Stephanie Kullmann und ihre Kolleginnen und Kollegen aus der DZD-Academy “Gehirn” untersuchen deshalb in Studien neue Therapie-Möglichkeiten, mit denen sich die Insulin-Empfindlichkeit des Gehirns möglicherweise wiederherstellen lässt. Ihre Forschung knüpft an Erkenntnisse an, die bereits in den 1970er-Jahren gewonnen wurden: Damals hatte man entdeckt, dass es auch im Gehirn Insulin-Rezeptoren gibt. Das gab Forschern und Forscherinnen weltweit Rätsel auf, denn: “Unser Gehirn verbraucht zwar enorme Mengen Glukose. Doch anders als bei Organen wie Leber und Muskeln ist die Glukose-Aufnahme in die Zellen des Gehirns nicht vom Türöffner Insulin abhängig. Es hat zu diesem Zweck einen eigenen Transport-Mechanismus”, erklärt Kullmann. Die Neurowissenschaftlerin des DZD arbeitet am Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen von Helmholtz Munich an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und an der Abteilung für Diabetologie und Endokrinologie des Universitätsklinikums Tübingen.
Die Frage, weshalb Gehirnzellen über Insulin-Rezeptoren verfügen, obwohl sie sie scheinbar nicht brauchen, beschäftigte auch Prof. Dr. Jens Brüning. Der heutige Direktor des Max-Planck-Instituts für Stoffwechselforschung in Köln führte Versuche an Mäusen durch, deren Insulin-Rezeptoren im Gehirn gezielt inaktiviert worden waren. So gelang eine bahnbrechende Entdeckung: Die eigentlich gesunden Mäuse legten rasant an Gewicht zu und entwickelten nicht nur im Gehirn, sondern im ganzen Körper eine Insulin-Resistenz und eine Störung des Fettstoffwechsels – obwohl ihre Insulin-Rezeptoren im restlichen Körper intakt waren. “Damit hatten wir den Beweis dafür erbracht, dass das Gehirn die zentrale Kontrollstelle für den gesamten Insulinstoffwechsel des Körpers ist – und dass Störungen dieses Stoffwechsels, wie Diabetes, im Gehirn beginnen”, sagt Brüning.
Mittlerweile ist nicht nur bekannt, dass Insulin im Gehirn aktiv ist, sondern auch, dass die Wirkung des Hormons bei verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Bei manchen Menschen sind die Gehirnzellen sehr empfänglich für das Hormon, andere reagieren nur schwach darauf oder sind vollends resistent dagegen. Das hat weitreichende Folgen für die Gesundheit der Betroffenen.
In einer 2020 abgeschlossenen Langzeit-Studie zeigte die Forschungsgruppe um Kullmann und Prof. Dr. Martin Heni von der Universität Ulm: Der Grad der Insulin-Resistenz im Gehirn beeinflusst, ob und wie stark übergewichtige Menschen von einer Änderung ihres Lebensstils profitieren. Menschen, deren Gehirn empfindlich auf das Hormon reagiert, können durch gesunde Ernährung und Sport ihr Gewicht stärker reduzieren als Personen mit geringerer Insulin-Empfindlichkeit. Eine höhere Insulin-Empfindlichkeit wirkt sich zudem langfristig günstiger auf das Körpergewicht und die Verteilung des Körperfetts aus: Auch neun Jahre nach einer 24-monatigen Umstellung des Lebensstils hatten die untersuchten Männer und Frauen mit Insulin-empfindlichen Gehirnzellen nur wenig neue Fettmasse angesetzt. Menschen mit erhöhter Insulin-Resistenz im Gehirn verloren dagegen nur anfangs leicht an Gewicht, danach nahmen sie wieder zu und lagerten wieder mehr Bauchfett an – und das, obwohl alle Beteiligten dasselbe Studienprogramm absolviert hatten.
Ist es aber ein unabwendbares Schicksal, wie empfänglich das Gehirn eines Menschen für das Hormon Insulin ist? Oder gibt es Möglichkeiten, die Wirkung des Insulins im Gehirn zu beeinflussen oder womöglich eine Insulin-Resistenz im Gehirn rückgängig zu machen? Erste Antworten auf diese Fragen liefern zwei aktuelle Studien von Kullmann, Heni und ihren Mitforschenden. An einer der beiden Studien nahmen 40 Personen teil, die an einer Vorstufe des Typ-2-Diabetes (Prädiabetes) erkrankt waren: 20 von ihnen nahmen acht Wochen lang den bereits als Diabetes-Medikament zugelassenen Wirkstoff Empagliflozin ein, die anderen 20 bildeten die Kontrollgruppe und erhielten ein Schein-Medikament (Placebo). In der zweiten Studie unterzogen sich 21 übergewichtige und fettleibige Erwachsene acht Wochen lang einem medizinisch betreuten Ausdauertraining.
Vor und nach der Behandlung bzw. dem Trainingsprogramm wurde die Insulin-Empfindlichkeit der Teilnehmenden bestimmt. Um das Insulin für die Untersuchung ohne Umweg über das Blut in das Gehirn zu bringen, bedienten sich die Forschenden eines Tricks: Sie sprühten das Insulin in die Nase der Teilnehmenden. Von dort gelangt es über die Riechnerven direkt ins Gehirn. Um die Wirkung des Hormons sichtbar zu machen, wurden 30 Minuten später mit einer funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (MRT) Bilder von den Gehirnen der Teilnehmenden angefertigt.
Die Auswertung der Aufnahmen zeigte ganz klar: Sowohl die Gabe von Empagliflozin als auch regelmäßiger Sport hatten einen günstigen Einfluss auf die Insulin-Resistenz im Gehirn. Die Behandlung mit dem Wirkstoff Empagliflozin führte zu einer teilweisen Wiederherstellung der Insulin-Empfindlichkeit des Gehirns. Und das Trainingsprogramm führte dazu, dass das Hormon seinen Einfluss im Gehirn wieder ähnlich gut ausüben konnte wie bei normalgewichtigen Personen. “Insulin wirkt sehr stark in dem Netzwerk in unserem Gehirn, das mit Belohnung arbeitet und bestimmt, wie wir Entscheidungen treffen. Und dieses Netzwerk reagiert auf Sport. Wenn also Personen ihre Fitness gesteigert haben, wurde diese Gehirnregion durch Vermittlung von Insulin angeregt”, erklärt Kullmann.
Damit konnten die Forschenden zeigen, dass eine Insulin-Resistenz keineswegs Schicksal ist und sich durchaus beeinflussen und möglicherweise sogar umkehren lässt – wenn auch nicht bei allen Menschen im selben Ausmaß. “Das Ausdauertraining hatte bei allen 21 Testpersonen eine positive Wirkung. Allerdings sprachen einige von ihnen besonders gut darauf an. Sie nahmen ab und ihr Bauchfett verringerte sich sichtlich”, so Kullmann. Bei den Personen, die besonders gut auf das Ausdauertraining ansprachen, hatte sich auch die Insulin-Resistenz im Gehirn am stärksten zurückgebildet. Andere nahmen deutlich weniger stark ab und zeigten entsprechend geringere positive Veränderungen im Gehirn – obwohl sie sich genauso angestrengt hatten.
Diese Studien zeigen erstmalig, dass die Insulin-Wirkung im Gehirn verbessert werden kann. Sie weisen aber auch darauf hin, dass nicht jeder Mensch gleich reagiert, selbst wenn Behandlung und sportliche Aktivität gleich sind. Deshalb wollen die DZD-Forschenden nun nach Möglichkeiten suchen, die Personen zu identifizieren, die entweder mehr von Bewegung oder stärker von Medikamenten profitieren. Dann wäre es möglich, Therapieformen zu entwickeln, die für die Betroffenen jeweils am meisten Erfolg versprechen.
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (9) Seite 20-23
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