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130 Kilometer, 7000 Höhenmeter: Mit Typ-1-Diabetes in die Alpen
8 Minuten

Mit dem Rucksack die Alpen zu überqueren, ist schon ohne Diabetes eine Herausforderung. Im Sommer haben zehn Menschen die Herausforderung angenommen, mit zwei Rucksäcken: dem fürs Gepäck und dem Typ-1-Diabetes.
Wenn die Berge rufen, brechen 12 Menschen auf, die Alpen zu überqueren. Das Besondere dabei: Zehn von ihnen haben einen Typ-1-Diabetes, auch der Gründer des Veranstalters Dialetics und Tour-Guide Ivo Rettig und die begleitende Ärztin Patricia. Die beiden Menschen ohne Diabetes sind Bergführer Ralf und Foto- und Videograf Mike.
Durch den Diabetes nicht bremsen lassen
Der 36-jährige Ivo Rettig lebt seit 22 Jahren mit Typ-1-Diabetes. Er träumte bereits als Kind davon, einmal die Alpen zu überqueren. Inspiriert hatte ihn die Historie: „Ich glaube, es war eine Geschichte von Hannibal, der im Zweiten Punischen Krieg mit Elefanten über die Alpen gelaufen ist.“
Die Diabetes-Diagnose verunsicherte ihn zunächst, aber er blieb dabei: „Ich habe von Anfang an immer gesagt, ich lasse mir durch den Diabetes nichts nehmen, aber sicher war ich damals noch nicht. Dann habe ich vor zwei Jahren diese Wanderung zum ersten Mal allein gemacht.“

Voller Vorfreude aufs gemeinsame Wandern
Danach berichtete er bei Diabetes-Events davon und bekam viele positive Rückmeldungen. „Dann habe ich gedacht: Warum machen wir das nicht gemeinsam?“ Er fand Sponsoren und los ging die Planung – und die Alpenüberquerung im Sommer 2025. „Das war wirklich irre, so viele Monate daran zu arbeiten und dann plötzlich dazustehen und in 11 strahlende Gesichter zu blicken, die alle voller Vorfreude waren an diesem ersten Tag, die dann loslaufen wollten.“
Die Teilnehmenden waren 19 bis 67 Jahre alt. Die Diabetes-Therapien reichten von der intensivierten Insulintherapie (ICT) mit Insulinpen bis zur automatisierten Insulin-Dosierung (AID) mit Insulinpumpe in Kombination mit kontinuierlich messendem Glukosesensor.

Strahlende Gesichter vor dem Start in die Alpen (v. l.): Isabell, Renate, Luisa, Anna-Lena, Ivo, Lea, Alfred, Ralf, Markus, Jan-Luca, Patricia – und Mike hinter der Kamera. | Foto: Mike Fuchs Fotografie
Start im Regen
Gleich am ersten Tag geriet die Gruppe in heftigen Regen. Obwohl alle gut ausgestattet waren, wurden sie ziemlich nass. Lea, eine der Teilnehmerinnen, berichtet im Interview: „Wir hatten nur am ersten Tag richtig heftig Regen und ein bisschen Gewitter, aber ab dann war es echt okay. Mal ein Schauer, aber darauf muss man sich in den Alpen einfach einstellen.“ Die Hütte, in der sie die erste Nacht verbrachten, hatte einen sehr guten Trockenraum – „am nächsten Tag konnten wir bei Sonnenschein wieder mit trockenen Schuhen starten“. Der Schlafsaal war für viele Menschen ausgelegt.
Anna-Lena, eine weitere Mitwanderin, erzählt: „Mit so vielen Menschen wie dort haben wir auf keiner anderen Hütte geschlafen. Wir sind mit dem kleinsten Raum und den meisten Menschen auf engem Raum gestartet. Danach wurde es immer großzügiger.“ Markus, der auch zur Gruppe gehörte, ergänzt: „Von Hütte zu Hütte waren wir überrascht, es wurde irgendwie immer besser.“ Anna-Lena: „Ich war total positiv überrascht, wie urig und gemütlich die alle waren, obwohl die ja auch irgendwo im Nirgendwo lagen. Wir hatten immer leckeres Essen, das war von der Qualität her wirklich großartig.“

Mit Regen muss man in den Alpen rechnen – aber auch mit schönen Begegnungen wie weidende Kühe. | Foto: Mike Fuchs Fotografie
Diabetes-Neugier und lustiger Zufall
Bis auf eine Übernachtung war die Gruppe um Ivo mit anderen Wandergruppen zusammen in den Hütten. Dass es bei diesen Wanderern immer wieder mal piepte und Alarme durch den Sensor oder die Pumpe gab, war aber selten Thema für andere Anwesende. Markus, der ein AID-System verwendet, grinst: „Beim Waschen hatte ich das einmal erlebt, dass mich einer richtig abgescannt hat. Der hat sich aber nicht getraut, mich zu fragen. Dann habe ich gesagt, dass das von meinem Diabetes ist. ‚Ach, und was ist das?‘ Und dann kamen seine Fragen wie ein Wasserfall.“
Ivo erinnert sich an eine andere lustige Begebenheit: „Uns wurde von Diashop ein Carepaket geschickt mit ganz vielen Zuckershots und Traubenzucker, zum Auffüllen. Davon war noch was übrig. Das haben wir am Abend verteilt und sind mit dem Karton rumgelaufen. Da war noch eine Frau, auch mit Diabetes, die saß an einem anderen Tisch, und ein Arzt, der ehemaliger Diabetologe war, ein total lustiger Zufall. Für beide war das natürlich eine tolle Geschichte, dass wir so als große Gruppe mit Diabetes laufen, und die haben sich auch sehr gefreut.“
Alpentour als Test und Herausforderung
Wie aber kamen Anna-Lena, Lea und Markus, die im Interview über die Alpenüberquerung berichten, dazu, an der Wanderung teilzunehmen? „Bei mir war es so, dass ich mit meinem Partner eine Doku gesehen habe über die Besteigung des Kilimandscharo“, berichtet Anna-Lena. „Und wir planen eine etwas längere Reise. Und dann war die Idee: Ich war noch nie mehrere Tage wandern, ich habe immer Tagestouren gemacht. Zufällig bin ich dann bei Instagram auf Ivos Anzeige gestoßen. Ich dachte: Eigentlich wäre das perfekt, um zu testen, wie man so auf mehrere Tage reagiert. Ich bewerbe mich mal.“ Und sie wurde aus knapp 90 Bewerberinnen und Bewerbern ausgewählt.
„Ich bin ein großer Bergfreund“, erzählt Lea, „von daher war ich, als ich von der Alpenüberquerung erfahren habe, direkt angefixt, weil ich jegliche Art von sportlicher Herausforderung liebe. Ich habe letztes Jahr meinen ersten Halbmarathon gelaufen, auch direkt mit Diabetes, weil ich nicht einsehe, mich irgendwie aufhalten zu lassen.“
Und Markus bekommt im Jahr immer eine Woche Urlaub von der Familie, dann kann er machen, was er mag. „Ich fahre immer mit dem Fahrrad zur Arbeit und höre auf dem Rückweg Podcasts. Da war dieser Podcast von den Zuckerjunkies, in dem Ivo davon berichtet hat, was er vorhat. Je mehr ich in den Podcast reinhörte, desto mehr dachte ich: Boah, ist das super, ist das toll, das ist echt der Hammer!“ Zum Glück passte die Alpenüberquerung gut in seinen Kalender – und Ivo nahm ihn ebenfalls mit.

Mitunter waren die Wege, wie in den Alpen zu erwarten, steinig und steil. | Foto: Mike Fuchs Fotografie
Viele Haferriegel – und zu viel Brot
Alle Teilnehmenden hatten von Ivo im Vorfeld einen Trainingsplan bekommen, in dem stand, was für Übungen sie machen sollten. Auch das Wandern mit Gepäck trainierten sie, denn neun Tage lang täglich für mehrere Stunden etwa 10 bis 12 Kilogramm auf dem Rücken zu tragen, erfordert Vorbereitung. Ausprobiert hatten alle auch, mit welchen Kohlenhydraten, die wenig Platz wegnehmen und nicht zu viel Gewicht auf die Waage bringen, der Diabetes am besten zu managen ist.
Vor allem Haferriegel machten das Rennen. Und Brot hatten alle dabei – von dem sie aber das meiste wieder mit nach Hause brachten, weil sie mittags meist auch irgendwo einkehren konnten und kein Picknick machten. In der Vorbereitungsphase trafen sich alle wiederholt virtuell, um ihre Erfahrungen zu besprechen und sich auch weitere Tipps zu holen.
Keine einzige Entgleisung
Der Diabetes stellte während der Alpenüberquerung kein wirkliches Problem dar. Ivo: „Es war unfassbar: Wir hatten keine einzige Diabetes-bezogene Entgleisung. Wir haben während des Laufens natürlich regelmäßige Stopps gemacht und die Glukosewerte gecheckt, haben gemeinsam unsere Unterzucker-Kohlenhydrate ausgetauscht und gesagt: ‚Hier, ich habe noch das. Was hast du?‘ Da hatten wir natürlich genug dabei und kamen deswegen auch ohne schwere Unterzuckerungen diese neun Tage durch. Das war schon beeindruckend.“
Er ergänzt: „Es war zwingende Voraussetzung, dass die Menschen, die dabei waren, sehr sporterfahren waren. Ich wollte wissen: Haben die Leute Sporterfahrung mit dem Diabetes-Management? Und sind sie grundsätzlich gerade in einer sehr fitten Verfassung?“

Regelmäßige Checks der Glukosewerte waren Routine. | Foto: Mike Fuchs Fotografie
Trinken und Glukose checken
Die Glukosewerte waren tagsüber und abends immer wieder Thema, beherrschten aber nicht die Tour. „Unser Bergführer hatte ja nach ein paar Tagen auch Erfahrung mit Diabetes und hat automatisch die Trinkpausen auch gleich zum Checken der Zuckerwerte genutzt und gefragt, ob alles in Ordnung ist. Aber dass wir wirklich irgendwen zurücklassen mussten, weil der gerade niedrig war, das hatten wir nicht, weil jeder ja schon geguckt hatte: Wo bin ich gerade? Und dann die Haferriegel halt so ganz langsam immer gegessen hat. Dadurch mussten wir eigentlich gar nicht groß Pause machen“, lobt Lea das Management.
Blindes Vertrauen in der Gruppe
Während der Überquerung, und auch danach bis heute, war und ist das Besondere – und Unerwartete in dieser Dimension – der Teamspirit, das selbstverständliche Miteinander, als kenne man sich schon viele Jahre. Das bestätigen Anna-Lena, Lea, Markus und Ivo unisono. Anna-Lena und Lea betonen außerdem, wie dankbar sie ihrem Diabetes in diesem Zusammenhang sind, denn ohne ihn wären sie nie in diese Gruppe gekommen und hätten diese Alpenüberquerung nicht gemacht.
„Wir laufen als Gruppe, und wenn eine Person Hilfe braucht, bleiben alle stehen und wir machen gemeinsam Pause.“
Ivo Rettig, Dialetics
Hinzu kam, sagt Lea: „Meine Haupterwartung war, dass ich eine solche sportliche Herausforderung mit Diabetes schaffe. Meine Sorge war, ob die Diabetes-Technik mitmacht. Das schwingt, glaube ich, immer mit, gerade wenn man auf einer Reise ist.“
Das bestätigt auch Anna-Lena: „Ich dachte: Okay, das ist auch noch mal eine persönliche Herausforderung. Man weiß ja auch nicht, wie die anderen eingestellt sind, wie da der Diabetes läuft. Das war am Anfang so ein bisschen: Ich freue mich darauf, aber ich bin auch echt gespannt. Meine größte Sorge war: Wie soll ich die ganzen Hypo-KEs mitnehmen, die man zur Sicherheit hat, und auch die Diabetes-Technik, alles doppelt und dreifach? Und dann dachte ich immer: Ruhig bleiben, es sind andere dabei, die haben es auch.“

Bei der Alpenüberquerung ging es auch über lange Brücken. | Foto: Mike Fuchs Fotografie
Viel Diabetes im Rucksack
Um sicher versorgt zu sein für den Diabetes, packten alle ausreichend Material und „Hypo-Snacks“ ein. Etwa 30 Prozent der Rucksäcke waren damit bereits gefüllt. Ivo: „Ich hatte auch eine Packliste vorgegeben. Es gab ein paar Sachen, die waren absolute Verpflichtungen. Das waren unter anderem geeignete Schuhe, Wanderstöcke, ein Hypo-Notfallmedikament‚ ‚Hypo-Snacks‘, Hüttenschlafsack, Hüttenschuhe, Regenschutz. Aber du musstest dich wirklich bei jedem fragen: Brauche ich es wirklich?“ Durch das auch notwendige Trinkwasser waren es morgens beim Losgehen dann auch schon mal 13 bis 14 Kilogramm auf dem Rücken.
Muskeln verbrauchen Essen
Abends in den Hütten hieß es dann zuerst, wie Markus schwärmt: „Kaiserschmarrn, Käsespätzle …“ Anna-Lena ergänzt: „Johannisbeerschorle oder Holunderschorle. Die Werte waren bei vielen wirklich so, dass man sagen konnte: Wir können erst mal eine trinken, ankommen und, genau, Kaiserschmarrn.“ „Du konntest trinken und essen, was du wolltest, und hast dir keine Gedanken gemacht darüber. Der Muskelauffüll-Effekt, der hat unglaublich gut funktioniert“, ordnet Markus ein.
Anschließend wurde auch immer noch ein Blick auf den nächsten Tag geworfen. Es gab eine Besprechung, wie der kommende Tag abläuft, was die Gruppe erwartet. Es ging um die Strecke, die Höhenmeter, die Zeitplanung – um sich mit dem eigenen Diabetes darauf einstellen zu können. Zwischen 7 und 9 Uhr, je nach Länge der Strecke, ging es morgens immer los.

Gut trainiert und ausgerüstet erreichte die Gruppe ihr Ziel in Mals in Italien. | Foto: Mike Fuchs Fotografie
Piepen und Rascheln im Dunkeln
Der Diabetes verband die Gruppe auch emotional. Lea: „Das fand ich mit eins der überraschenden positiven Erlebnisse, dass wirklich der Diabetes als verbindendes Element die ganze Zeit präsent war, aber nicht in einer störenden Form. Es gibt ein Vokabular, wo man einfach Bescheid weiß, wo ich gerade bin – hoch, niedrig, oh, steigender Pfeil nach oben … Das war schön zu sehen, dass allein das uns so eng zusammengeschweißt hat in der kurzen Zeit.“
Markus ergänzt: „In den Hütten, wenn es abends stockdunkel war, hörte man auf einmal ein Piepen. Da wusste man: Ah, die und die Pumpe. Dann hört man raschel, raschel, raschel, Haferriegel und dann Traubenzuckerplättchen. Man wusste genau: Was ist das für ein Geraschel? Was ist das für ein Sound? Aus welcher Ecke kommt es? Es war einfach blindes Verstehen.“
Alle drei würden sich direkt wieder bewerben für eine solche Tour. Chancen bestehen, denn Ivo Rettig plant, im nächsten Jahr wieder eine Alpenüberquerung anzubieten. Er hofft, dass sich dann auch Menschen mit Typ-2-Diabetes bewerben.
Dialetics xAlps – die Alpenüberquerung
- 10 Menschen mit Typ-1-Diabetes, 1 Bergführer, 1 Fotograf
- 9 Tage (26.6. – 4.7.2025)
- Start: Oberstdorf (Österreich), Ziel: Mals (Italien)
- Strecke: 130 Kilometer, Tagesetappen: 7 – 27 Kilometer
- 7000 Höhenmeter; 1240 maximale Höhenmeter an einem Tag beim Aufstieg, 1586 beim Abstieg
- Informationen: www.dialetics.com
Erschienen in: Diabetes-Anker, 2025; 74 (10) Seite 54-57
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