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Es ist 9.53 Uhr, es sind bereits 28 Grad Celsius. Ich stehe in der direkten Sonne am Start für den „Hella Halbmarathon“ in Hamburg. Im weiteren Verlauf des Tages werden es bis zu 36 Grad Celsius. In meinem Kopf singt Inga Humpe: „36 Grad und es wird noch heißer, mach den Beat nie wieder leiser. 36 Grad kein Ventilator, das Leben kommt mir gar nicht hart vor.“ Danke dafür, fremder Mensch in der U-Bahn. Warum bin ich nochmal hier? Wie komme ich hier wieder weg? Die Antwort auf beide Fragen ist dieselbe: Vor mir liegen 21,075 Kilometer Laufstrecke.
Angemeldet hatte ich mich zum diesjährigen Halbmarathon bei angenehmen 9 Grad Celsius im Dezember 2018. Drei Monate zuvor hatte ich den ersten Halbmarathon meines Lebens absolviert und war euphorisch, aufgeregt – sogar ambitioniert –, den nächsten Halbmarathon anzugehen. Meine persönliche Bestzeit zu knacken. Wetterbedingungen, Vorbereitung und Gegebenheiten der beiden Wettbewerbe hätten nicht unterschiedlicher sein können – einzige Gemeinsamkeit waren die Distanz und ich als angemeldete Teilnehmerin.
Lange hatte ich mit mir gerungen, war nicht sicher, ob ich das wirklich wollte… aber im Juli – knapp zwei Monate vorher – meldete ich mich für den Halbmarathon im September 2018 an. Bereits im Juni war ich einen 15-km-Wettbewerb erfolgreich gelaufen. Trotzdem hatte ich Bedenken vor der Distanz, denn die 15 km hatte ich nur mit einer Menge Traubenzucker überstanden. Die verbleibenden zwei Monate wollte ich mir also eine Strategie erproben, mit der ich die 21,075 km überstehen würde, ohne Zuckerschwankungen überstehen würde. Herausforderung dabei war, dass ich meine perfekte Leistung bei einem Zuckerwert von ca. 170-190 mg/dl (9,4-10,6 mmol/l) habe. Je nachdem, bei welcher Herzfrequenz ich laufe, sinkt oder steigt mein Zuckerwert jedoch manchmal unkontrollierbar. Sowohl Insulin als auch Traubenzucker wirken bei meinen Trainings dann erst nach einer Ruhepause von mindestens 15-20 Minuten. Wenn ich also die Zeit schaffen wollte, die ich mir vorgenommen hatte, durfte mein Zuckerwert sich keine Ausreißer leisten.
Bis zum Halbmarathon stand für mich 3x die Woche Laufen auf dem Plan – nach der Arbeit schaffte ich das nicht unterzubringen. Somit stand ich morgens um 6 auf und lief vor der Arbeit bis zu 15 km. Üblicherweise laufe ich abends nach der Arbeit und habe somit einen Tag mit vollwertigen Mahlzeiten sowie reduzierter Basalrate vorweg zum Planen. Morgens direkt nach dem Aufstehen zu laufen, forderte eine ganz neue Routine.
Entsprechend allen Vorurteilen gegenüber Hamburg war das Wetter in Hamburg am 23. September 2018 kalt, regnerisch und ungemütlich. Bestes Laufwetter! Der Start war um 18 Uhr. Ich versuchte, mich mit neuer Laufkleidung, die ich vorher gekauft hatte, für die Bestleistung zu motivieren. Die Nacht vorher ging das Zuckerwerte-Desaster dann los. Statt stabiler Werte hatte ich die 24 Stunden vor dem Lauf nur noch Schwankungen:
Trotz zuckerfreundlichen Chias zum Frühstück und Quinoa zum Mittagessen wurde die Kurve nicht wieder gerade. Während meine Werte nach dem Mittagessen nicht wieder sinken wollten, war ich eine halbe Stunde vor dem Start zu niedrig. Irrationalerweise aß ich noch 3 KE abseits meiner üblichen Sport-KE. In den Lauf startete ich also mit einem zu hohen Wert, denn die 3 KE waren viel zu viel. Natürlich funktionierte es irgendwie, mit diesen Werten zu laufen, angenehm war es jedoch nicht. Nach dem Lauf ging es dann auch erstmal nicht mehr runter. Vor einer starken Korrektur hatte ich Angst, so blieb ich die halbe Nacht wach und wartete auf meine wohlverdiente Achterbahnfahrt. Vielleicht war das alkoholfreie Weißbier im Ziel nicht das zuckerfreundlichste Getränk – aber es war es dennoch wert.
Die Netto-Zeit für meinen ersten Halbmarathon lag bei 2:21:39 Stunden. Ich kam aufrecht im Ziel an. Lächeln ging sogar auch noch. Meine eigenen Erwartungen hatte ich erfüllt!
Für den zweiten Halbmarathon hatte ich mehr Zeit zu trainieren. Genau 6 Monate vorher meldete ich mich an, machte Pläne und analysierte Zuckerkurven vor, bei und nach dem Laufen. Soweit die Theorie. Praktisch begann ich nicht ernsthaft mit dem Lauftraining, bis es nur noch 3 Wochen bis zum Halbmarathon waren. Somit fing ich von vorne an. Die Temperaturen waren anders, mein Körper lief anders als im Herbst. Alles, was ich im Herbst über mich, meine Zuckerwerte und den Halbmarathon gelernt hatte, war zunichte. Erneut versuchte ich, wieder morgens vor der Arbeit laufen zu gehen. Aufgrund von Stress und Workload in der Uni schaffte ich es jedoch viel zu selten. Meine Trainingsläufe waren zudem geprägt von Zuckerschwankungen. Nicht nur einmal musste ich die letzten Kilometer nach Hause gehen, da ich aus der Unterzuckerung zu langsam wieder herauskam. Wenigstens konnte ich dabei die frühmorgendliche Aussicht auf die Alster genießen…
Was auch immer mit meinem Zuckerwert los war – er schien jedenfalls keine Lust auf den Halbmarathon zu haben. Lediglich einmal vor dem Halbmarathon schaffte ich es, 13 km am Stück zu laufen. Das war genau eine Woche vor dem Halbmarathon. Trotz Wochenendes hatte ich mir an diesem Tag den Wecker gestellt und den Ablauf des Wettkampftags versucht zu imitieren: Um 7.00 Uhr stand ich auf und frühstückte – inklusive Spritz-Ess-Abstands. Ab 8.00 Uhr reduzierte ich mein Basalinsulin auf 30%. Um 10.00 Uhr, analog zur Startzeit des Halbmarathons, lief ich los. Es funktionierte. Keine Unterzuckerung, keine zu hohen Werte. Die Generalprobe gab mir einen Motivationsschub, das alles schon irgendwie klappen würde am 30. Juni.
Für das Wochenende, an dem der Halbmarathon war, wurden für Hamburg Höchsttemperaturen angesagt. Bis zu 36 Grad sollte es warm werden, Hitzewarnungen wurden rausgegeben. So fanden wir uns bei mir am Start und 28 Grad wieder. Erneut hatte ich mich durch neue Sportkleidung motiviert. Der Vorrat an Traubenzucker überstieg bei weitem alles, was ich jemals für einen Wettbewerb mitgenommen hatte. Natürlich war auch die Blood Sugar Lounge mit dabei. Wer findet es? 😉
Quelle: Sara Brandt
Zum Schutz vor der Sonne kaufte ich am Samstag vorher zum Glück noch ein schickes Cap – praktisch, denn auf der Laufstrecke fanden mich meine Fans so sehr schnell. Entlang der Strecke bekam ich Motivation von meinen Eltern, meinem Freund und Freunden. Auch Toni von http://www.zuckerbuntesleben.com feuerte mich auf der Strecke an – was für eine Community! 🙂 Entgegen den Schlagzeilen, die sich zum Halbmarathon verbreiteten, bekam ich an jeder Wasserstelle (vielleicht mit ein bisschen Wartezeit) etwas zu trinken, und auch jede Dusche konnte ich, sofern ich wollte, mitnehmen. Sogar einen anderen Dexcom-Sensor habe ich an mir vorbeilaufen sehen!
Was mich jedoch bereits bei der Vorbereitung auf den Lauf schockierte: Es gab auf der gesamten Strecke NUR Wasser. Keine Bananen, keinen Iso-Drink. Die warteten erst nach 21,075 Kilometern im Ziel. Auf Nachfrage beim Veranstalter bekam ich die Antwort, dass eine Versorgung mit Kohlenhydraten bei dieser Distanz sportlich nicht notwendig sei. Was für ein Quatsch! Wer kann denn pauschal entscheiden, ab wann es bei einem Wettbewerb mit über 8.000 Profi- und Hobby-Läufern sportlich angemessen ist, auf der Strecke Kohlenhydrate auszugeben? Nicht nur für mich wäre es schön gewesen, zwischendurch etwas anderes als Wasser zu trinken. Bei dem Flüssigkeitsverlust, den der Körper bei Höchsttemperaturen hat, keine isotonischen Drinks auf der Strecke auszugeben, fand ich unprofessionell.
Nun ja, die lieben Zuckerwerte. Da mein Körper anscheinend auf das Wettbewerbsadrenalin auch diesmal sehr empfindlich reagierte, war bereits die Nacht vor dem Lauf wieder nicht besonders erholsam:
Von einer Unterzuckerung vor dem Wecker um 6.00 Uhr aufgeweckt, nachdem ich die gesamte Nacht zu hoch war, glich der Halbmarathon-Tag einer aufregenden Achterbahnfahrt. Meinen Plan mit Frühstück und Reduzieren der Basalrate setzte ich um. Jedoch sorgte die Hitze dafür, dass ich eine Stunde vor dem Start eine drohende Unterzuckerung bremsen musste und in den Lauf so mit 197 mg/dl (10,9 mmol/l) und Pfeil nach oben startete. Schnell sorgte die Anstrengung dafür, dass es wieder runterging. Nach ca. 45 Minuten und etwas mehr als 1/3 der Strecke gab es also das erste Gel (knapp 2,5 KE). Ein erneuter Anstieg und anschließender Abfall ließen mich mit 143 mg/dl (7,9 mmol/l) im Ziel ankommen. PERFEKT.
Mit einer Netto-Zeit von 2:28:08 kam ich also auch diesmal aufrecht, lächelnd und stolz im Zieleinlauf an. 100 Meter vor dem Ziel wartete die beste Cheercrowd und gab mir Energie für die letzten Meter. Meine Zielzeit habe ich aufgrund des fehlenden Trainings und der Temperaturen selbstverständlich verfehlt – war aber auch nicht weiter schlimm.
Im Ziel kam dann das alkoholfreie Weißbier – ich kann einfach nach so einem Lauf nicht darauf verzichten! – und was dadurch passierte, kann man sich ja denken und oben deutlich erkennen. Ehrlich gesagt war mir das in diesem Moment aber auch ziemlich egal. Es gab als Belohnung sogar abends noch Pizza. Das, was ich bei diesen Temperaturen von meinem Körper verlangt habe, das, was ich gelernt habe über meinen Körper, das können mir die „lediglich“ 51% TIR an diesem Tag nicht miesmachen. Ich bin stolz auf mich und meinen Körper.
Ob ich jetzt den dritten Halbmarathon bei Schnee und Eis laufe?
Nein, selbstverständlich nicht. Für nächstes Jahr bin ich aber natürlich bereits erneut zum Hella Halbmarathon Hamburg angemeldet.
Alle guten Dinge sind drei.
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