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Mitte Juni fasste ich sehr spontan den Entschluss, nach Spanien zu fliegen und einen kurzen Teil des Jakobswegs in Galicien zu wandern. In Zeiten von Corona eine fast ungewöhnlich-verrückte Idee. Ich kroch – inzwischen frisch geimpft – aus meinem Home-Office heraus und suchte nach einer Möglichkeit, Resturlaub zu verbrauchen. Eine Outdooraktivität in einem Land mit relativ stabiler Wettervorhersage (ich revidiere diese Annahme inzwischen…) schien mir eine gute Wahl. Zudem schwirrte die Idee mit dem Jakobsweg bereits länger in meinem Kopf herum.
Die ganze Strecke aus Frankreich nach Santiago de Compostela schien mir fürs Erste zu bedrohlich und passte auch nicht in meinen Zeitplan. So entschied ich mich für ein Teilstück des bekannten Camino Francés. Der Start war im kleinen Städchen Sarrìa, welches praktischerweise mit 115 km vor Santiago de Compostela der letzte große Ort ist, in dem man starten kann, um die Compostela zu bekommen. Nicht, dass ich nur wegen eines Stücks Papier über 100 km durch Spanien wandern wollte. Aber irgendeine Art von Beweis, besonders wenn es diesen eben schon gibt, wollte ich dann doch haben.
Meinen Flug buchte ich, nachdem ich mich versichert hatte, dass die Corona-Lage in Galicien und auf dem Jakobsweg meinem Sicherheitsbedürfnis entsprach. Ich googelte zur Sicherheit, ob wirklich alles geöffnet sei, wie die Inzidenz in den letzten Wochen verlaufen war und was gerade gesetzliche Hygienevorgaben waren. Ankommen würde ich an einem Samstag in Santiago de Compostela und am nächsten Tag mit dem Zug nach Sarrìa fahren. Von dort aus würde ich ab Dienstag dann fünf Tage lang jeweils zwischen 19 km und 28 km wandern, um samstags in Santiago de Compostela anzukommen.
Danach ging die Planung los. Ich las Blogs und Artikel über den Jakobsweg, über den Jakobsweg mit Diabetes und über Wandern mit Diabetes. Ich sprach mit Freunden und Bekannten mit und ohne Diabetes über ihre Erfahrungen auf dem Jakobsweg. Außer ein paar leichten Tageswanderungen konnte ich vor meiner Tour nicht viel auf meinem Wanderkonto verbuchen, sodass ich auch nur vage abschätzen konnte, wie sich mein Blutzucker wohl verhalten würde.
Das Gute: Home-Office inkl. des veränderten Bewegungspensums plus eine nervige Fußverletzung hatten mich in der ersten Hälfte des Jahres ziemlich faul werden lassen. Meine Insulinempfindlichkeit verschlechtert sich bei einem geringen Bewegungs- und Sportpensum immens. So konnten meine Zuckerwerte kaum schlechter werden, als sie zum Zeitpunkt der Reise waren. Nach oben hingegen war sehr viel Spielraum, sodass ich große Hoffnung auf die 6-stündigen Tageswanderungen legte.
Entgegen der Angst, die viele Blogs (mit und ohne Diabetes) und Erfahrungsberichte verbreiten, dass ich grammgenau planen sollte, was ich alles in meinen Rucksack packen würde, schmiss ich erst einmal alles auf einen Haufen, was ich als Mitnahme-würdig auserkor. Eine Personenwaage besitze ich nicht, sodass ich erst am Flughafen erfuhr, wie viel mein Rucksack wirklich wog. Sagen wir so: Ich habe mich in meiner pragmatischen Packweise definitiv nicht geirrt! In meinem 6,5 Kilogramm schweren Rucksack befanden sich bei Start also folgende Dinge (ohne Diabetesbedarf, der kommt weiter unten):
Als ich also in Santiago und einen Tag später in Sarrìa ankam, regnete es in Strömen. Schön – da fahre ich nach einer Ewigkeit aus dem 30 Grad warmen und sonnigen Hamburg weg und werde direkt damit bestraft, dass dort, wo ich hinfahre, echtes Schietwetter ist. Aber ich war ja gut vorbereitet, ein Heimspiel, quasi. Für meine mentale Vorbereitung und zum Erkunden von Sarrìa hatte ich mir einen extra Tag eingeplant, an dem ich unruhig und ungeduldig durch den Regen lief.
Als es dann am Dienstagmorgen endlich losging, war ich wahnsinnig aufgeregt. Ich reduzierte meine Basalrate um 50% und bolte nur 70% des Insulins für das Frühstück. Damit ich mich auf meinen Gewebszuckerwert vom Dexcom-Sensor hoffentlich immer verlassen konnte, füllte ich für konstante Wasserversorgung meine Trinkblase. Für den Fall der Unterzuckerung hatte ich für jeden Tag jeweils zwei Proteinriegel à 15 g Kohlenhydrate sowie drei Energiegels à 30 g Kohlenhydrate eingeplant. Dazu eine Handvoll Traubenzucker à 7 g Kohlenhydrate. Ansonsten hatte ich für den Notfall noch mein Glucagon-Nasenspray dabei (keine Werbung).
Den üblichen Pumpenbedarf sowie als Ersatz Insulinpens inkl. Rapid-Insulin und Basal-Insulin hochgerechnet auf 10 Tage könnt ihr unten sehen. Großzügig kalkuliert habe ich nicht, allerdings versuche ich immer, realistisch zu planen, und bin auf Reisen auch immer bereit, falls mir die Katheter ausgehen, einfach für ein paar Tage auf Pens umzusteigen. Zur Not gibt es ja fast überall inzwischen Menschen mit Diabetes und Apotheken und Krankenhäuser. 😉
Meine Rechnung mit reduzierter Basalrate und weniger Insulin zum Frühstück ging recht gut auf. Solange ich tatsächlich gewandert bin, lag mein Zuckerwert stets irgendwo zwischen 120 und 180 mg/dl (6,7 und 10,0 mmol/l). Sobald ich einen Pfeil nach unten hatte und 150 mg/dl (8,3 mmol/l) unterschritt, legte ich einen Riegel oder ein Energy-Gel nach. Bei den Zwischenstopps alle 5-8 km aß ich je nach Zuckerwert ein Stück Tortilla oder ein Schokobrötchen, ohne dafür zu bolen, oder eben nichts. Ich hatte auf dem gesamten Weg – während ich gewandert bin – wirklich gute Werte. Sogar Weißbrot und Marmelade als einzig vegetarische Frühstücksvariante konnte ich gut wegstecken.
Los ging das Chaos, sobald ich am täglichen Zielort ankam. Muskelauffülleffekt? Bei mir eine Fehlanzeige. Das kenne ich bereits von meinen Langstreckenläufen. Eine gute Lösung ist da, kurz vor dem Ziel schon mal einen Bolus abzugeben. Das hat aber auf meiner Tour nicht funktioniert – sodass ich meist den Rest des Abends mit Werten um die 180-250 mg/dl (10,0-13,9 mmol/l) verbrachte. Hierzu sei gesagt, dass ich wirklich jegliche Perfektion, was meine Zuckerwerte anging, nicht mit auf meinen Trip genommen habe. Ich bin strikt nach Wohlbefinden gegangen, sodass ich auch mit Werten über 200 mg/dl (11,1 mmol/l) zum Abendessen bin und trotzdem alles geklappt hat. Für den Kopf war das auch wahnsinnig entspannend!
Ich hatte nur eine einzige fiese Unterzuckerung in der gesamten Zeit. Am letzten Tag, circa 12 Kilometer vor Santiago de Compostela, hatte ich mich schon beim Frühstück und dann bei meiner Zwischenmahlzeit nach sechs Kilometern erneut stark verrechnet. So korrigierte ich einen Wert von 289 mg/dl (16,1 mmol/l) mit zwei Aufwärtspfeilen vorsichtig. Die vorsichtige Korrektur hatte den Effekt eines Wutbolus. So fand ich mich kaum 30 Minuten und einem Energy-Gel später mit 72 mg/dl (4,0 mmol/l) und zwei Pfeilen nach unten auf einer Bank mitten im Wald wieder.
Kurz überlegte ich, das Glucagon-Nasenspray zu verwenden. Ich war alleine, mitten im Wald und auf dem Weg konnte ich soweit um mich herum niemanden sehen. Trotzdem entschied ich mich nur für ein weiteres Energy-Gel und einen Proteinriegel sowie 15 Minuten Pause. Sowohl der Pfeil nach oben als auch ein wenig Gesellschaft kamen recht schnell. Ich fühlte mich sicher genug, auf das Nasenspray zu verzichten. Insgesamt machte ich fast 30 Minuten Pause, bis mein Zuckerwert wieder im dreistelligen Bereich war.
Danach waren es nur noch ein paar Stunden und etwas mehr als 10 Kilometer, bis ich endlich in Santiago ankam. Oder besser schon? Von mir aus hätte der Weg auch noch ein bisschen so weitergehen können. Dennoch ist auch bereits nach einem kurzen Weg von 5 Tagen das Gefühl, auf dem Plaza del Obradoiro anzukommen, überwältigend. Wie es nach dem gesamten Camino Francés wohl sein muss?
Da es meine erste Tour auf dem Jakobsweg war, habe ich zu vorher keinen Vergleich. Mir sagten jedoch viele, dass es unheimlich leer auf der gesamten Strecke sei und in den Vorjahren wesentlich mehr Menschen unterwegs waren. Ich hingegen empfand es nicht unbedingt als leer, wunderte mich also, wie voll wohl aussehen möge. Während der Lockdown-Zeiten in Spanien waren logischerweise auch die Herbergen und jegliche Infrastruktur auf dem Jakobsweg geschlossen.
Öffnen durfte alles erneut Anfang Mai, ich war Mitte Juni unterwegs. Dennoch habe ich einige geschlossene Restaurants und Herbergen gesehen. Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben liefen alle in Innenräumen und auf dem Gelände von Restaurants und Herbergen brav mit Maske herum. Eigentlich musste man bis zu dem Tag, an dem ich in Santiago ankam, auch eine Maske im Freien tragen. Auf den Wanderwegen hielt sich da aber aufgrund des gut umsetzbaren Abstands niemand so wirklich dran.
Dass wir immer noch in einer weltweiten Pandemie-Situation stecken, habe ich auf dem Weg zwischendurch bis auf die Maske nahezu vergessen. Ich versuchte, einen größtmöglichen Social-Media- und Nachrichten Abstand einzuhalten, und merkte, wie gut es mir tat, mein Wohlbefinden nicht von täglichen Infektionszahlen steuern zu lassen. Alles in allem habe ich mich auf dem gesamten Weg stets sicher gefühlt und in Gesprächen mit Einheimischen immer wieder herausgehört, wie abhängig sie vom Pilgertourismus sind. Für mich war es eine sehr angenehme kurze Alltagsflucht. Für die Einheimischen rund um den Pilgerweg ist es Existenzsicherung, dass endlich wieder Tourismus möglich ist.
Umso trauriger macht es mich, besonders jetzt im Nachhinein, zu sehen, dass es immer noch zu viele unverantwortliche Menschen und Entscheidungen gibt. Als ich am Abreisetag in Santiago beim Frühstück erstmals wieder Nachrichten schaute, wurde von Schüler:innen berichtet, die sich beim Feiern auf Mallorca angesteckt hatten und sich nun wieder in ganz Spanien verstreuten.
Auf meinen Rückflug über Madrid, den zweitgrößten Flughafen in Spanien mit bis zu 61 Millionen Passagieren jährlich, hatte ich auf einmal gar keine Lust mehr.
Den Jakobsweg mit Diabetes im Rucksack – planen, erleben, genießen – auch Beate war mit Diabetes auf dem Jakobsweg unterwegs.
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