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Damit ihr verstehen könnt, was Sport heute für mich bedeutet, müsst ihr mich auf einen kleinen Ausflug in meine Kindheit begleiten. Ich war eines dieser Kinder, die sehr früh sprechen und sehr spät laufen lernen. Im Alter von einem Jahr saß ich herum und sagte den Erwachsenen in meiner Umgebung ganz genau, was sie mir als Nächstes bringen sollen. Das funktionierte ziemlich gut, so dass es mich lange Zeit überhaupt nicht reizte, mein Umfeld auf eigene Faust und mit eigener Muskelkraft zu erkunden. Mein Bruder, knapp drei Jahre jünger als ich, war genau das umgekehrte Kaliber: Er krabbelte bereits mit sieben Monaten und trabte mit einem Jahr längst routiniert durch die Gegend – konnte sich aber deutlich länger als ich nicht verständlich artikulieren.
Während unserer Kindheit war ich immer diejenige, die nur ungern nach draußen zum Toben ging, dafür umso mehr Bücher verschlang und so viele Brieffreundschaften pflegte, dass unsere Eltern die Briefmarken rationierten (was hätte ich damals um das Versandmedium E-Mail gegeben!). Mein Bruder hingegen war immer in Bewegung und probierte jede Sportart aus, hatte aber wenig Interesse am Lesen oder Schreiben. Für unsere Eltern war der Fall schnell klar: Antje ist das Kind mit dem Sprachtalent, dafür eben unsportlich. Bruderherz ist die Sportskanone, dafür eben nicht so sprachbegabt. Bezeichnenderweise arbeite ich heute als Journalistin, er in einer Spezialeinheit der Polizei, in der es auf körperliche Fitness ankommt.
Im Alter von 30 Jahren trat ich aus purer Vernunft einem Fitnessstudio bei, um ein wenig Ausgleich zu meiner sitzenden Bürotätigkeit zu haben. Ein paar Jahre später begann ich, regelmäßig im Naturschutzgebiet vor unserer Haustür eine kleine Joggingrunde zu drehen. Immer dieselbe Runde von weniger als drei Kilometern, für die ich vermutlich eine knappe halbe Stunde brauchte (ich schaute eigentlich nie auf die Uhr, mein Tempo war mir egal, auch meine Distanzen wollte ich gar nicht steigern). Ich empfand mich weiterhin nicht als besonders sportlich, und Ehrgeiz war mir auf diesem Gebiet völlig fremd.
Das änderte sich, als ich im März 2010 die Diagnose Typ-1-Diabetes erhielt. Anders als der Sport entfachte der Diabetes sofort meinen Ehrgeiz. Ich war fest entschlossen, ihn gut zu managen, um möglichst lange gut und ohne Folgeerkrankungen mit diesem unliebsamen Begleiter zu leben. Ich wusste, das jegliche Bewegung sich positiv auf den Blutzucker auswirkt (von allen weiteren positiven gesundheitlichen Effekten einmal ganz abgesehen). Und ich wusste, dass das Blutzuckermanagement beim Sport nicht ganz trivial ist. Also begann ich, mich an diese neue Herausforderung heranzutasten. Natürlich ist auch mein Mann nicht ganz unschuldig daran, dass ich mittlerweile regelmäßig bei Volksläufen und Volkstriathlons an den Start gehe – er hatte bereits vor unserem Kennenlernen mit dem Laufen begonnen und es mit den Jahren auf immerhin zwei Marathons, drei Triathlons und mehrere Halbmarathons gebracht. Und irgendwann wollte ich auch einmal wissen, wie sich so ein Zieleinlauf anfühlt. Doch meine Hauptmotivation bleibt der Diabetes: Ich möchte mir und dem Rest der Welt zeigen, dass auch mit Typ-1-Diabetes sportlich eine Menge möglich ist.
Sport hat aber noch einen weiteren wichtigen Effekt auf mein Leben mit Typ-1-Diabetes: Er schenkt mir Vertrauen in meinen Körper zurück, das mit der Diagnose doch einen gewaltigen Knacks erfahren hatte. Zu wissen, dass ein ganzes Organ mit einer sehr zentralen Funktion auf einmal ausgefallen ist und nie wieder seinen Dienst antreten wird, ist ein herber Schlag. Da kann man schon einmal mit seinem Körper hadern und ihm böse Vorwürfe machen: „Warum funktioniert bei dir nicht mehr, was doch bei fast allen anderen Menschen geräuschlos im Hintergrund läuft? Warum hast du mich im Stich gelassen?“ Wenn ich Sport treibe, Wettkämpfe bestreite, meine Beine routiniert traben, dann tritt diese Enttäuschung in den Hintergrund. Warum sollte ich auch enttäuscht sein? Meine Muskeln sind stark, mein Herz pumpt Blut, meine Lungen atmen Sauerstoff, meine Arme schwingen im Takt, meine Füße stoßen sich kräftig ab, mein Körper funktioniert. Er bewältigt Dinge, von denen ich als Bewegungsmuffel ohne Diabetes nie geträumt hätte. Und das ist ein unheimlich tolles Gefühl. Vor allem für einen eigentlich unsportlichen Menschen wie mich. Doch halt, heute empfinde ich mich gar nicht mehr als unsportlich. Wäre auch komisch, wo ich doch dank Laufen, Triathlon, Krafttraining, Tanzen (Standard/Latein zusammen mit meinem Mann) und orientalischem Tanz beinahe jeden Tag auf irgendeine Weise sportlich ins Schwitzen gerate. Der Blutzucker spielt übrigens überwiegend brav mit.
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