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Beim Brainstorming für diesen Text wurde ich von einer Masse Situationen überrollt, von denen ich hier berichten könnte. Erlebnisse in der Uni und am Arbeitsplatz. Aber auch in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Restaurants oder mit der Familie. Oder bei Antragsstellungen, wie in dem Beispiel: Ein Antrag auf Nachteilsausgleich – zwei Urteile. Diese Reihe könnte ich jetzt noch lange so weiterführen.
Alle Situationen, die in meinem Kopf aufpoppen, haben gemeinsam, dass ich mich auf Grund von Diabetes und/oder anderen Be_hinderungen oder (chronischen) Krankheiten unwohl gefühlt habe oder benachteiligt wurde. Dass mein Handeln ungefragt kommentiert wurde, ich Sprüche abbekommen habe, die offene Wunden gefüttert haben, oder mir meine Kompetenzen abgesprochen wurden.
Früher haben mich solche Situationen in der Regel hilflos und verletzbar zurückgelassen und bei mir immer wieder die Frage nach dem „Warum?“ eröffnet.
Auf der Suche nach „Schuldigen“, nach einer Person, die ich für meine Erfahrungen verantwortlich machen kann, schien es häufig der logischste Schluss, dass ich selbst diese Person sein müsse. Natürlich kam diese Schlussfolgerung immer im Komplett-Paket mit Gedanken wie: „Hätte ich mich nur mehr angestrengt“, der kleinen Schwester von: „Stell dich nicht so an“, und auch immer dabei war: „Du steigerst dich da rein.“
Irgendwann ist dieses Gefühl der Hilflosigkeit und eigenen Schuldzuweisung einer brodelnden Wut gewichen. Mittlerweile lassen mich solche Situationen meistens einfach nur wütend und ernüchtert zurück.
Zu verstehen, was für strukturelle Probleme hinter meinen persönlichen Erfahrungen stecken, hat einen großen Beitrag dazu geleistet, dass ich in meinem eigenen Umgang mit Diskriminierungserfahrungen heute bin, wo ich bin.
Damit möchte ich weder ignorieren, wie wichtig auch der Austausch über eigene Erlebnisse sein kann und wie sehr es mich häufig bekräftigt hat (und immer noch tut) zu hören, dass ich mit meinen Erfahrungen nicht alleine bin. Noch möchte ich solch eine Auseinandersetzung als selbstverständlich und notwendig darstellen. Ich bin mir bewusst, wie privilegiert es ist, dass ich heute hier sitze und diesen Text so schreiben kann. Strukturen in ihrer Komplexität mehr und mehr verstehe und die Ressourcen hatte, meinen heutigen Wissensstand erreicht haben zu dürfen. Kein Wissen dieser Welt oder Verständnis für strukturelle Gegebenheiten kann persönliche Diskriminierungserfahrungen ersetzen oder nachvollziehbar machen.
Diskriminierung findet in der Regel strukturell statt. Sie betrifft verschiedene Minderheiten oder Gruppen, die in existierenden Herrschaftsverhältnissen weiter unten positioniert werden.
Als Ableismus (aus dem engl. to be able = fähig sein) wird die Diskriminierungsform bezeichnet, die sich gegen be_hinderte oder chronisch kranke Personen richtet. „Der Ableismus geht von einem physischen Standard des Menschen aus, den eine behinderte Person nicht leisten kann. Der behinderte Mensch ist demzufolge ‚minderwertig‘. Auf sozialer Ebene bedeutet es, dass Menschen mit Behinderung als ausgeschlossen und unsichtbar gelten.“ (https://leidmedien.de/begriffe/)
Aus diesem vorausgesetztem physischen Standard resultieren Barrieren, stereotype Vorstellungen und Vorurteile, die sich bei uns als betroffene Personen in nervigen Kommentaren, großen bürokratischen Hürden oder ungefragtem Anfassen unserer Pumpen oder Sensoren niederschlägt.
Ableismus bedeutet auch, dass diese vermeintlich kleinen Erfahrungen, die wir im Alltag machen, seit vielen Jahren strukturell verankert sind. Sie lassen sich in der Regel in ein großes Netz aus ähnlichen Erfahrungen einordnen. Die Tatsache, dass Strukturen es für bestimmte Personen nahezu unmöglich machen, an bestimmte Macht- und Entscheidungspositionen zu gelangen, trägt maßgeblich dazu bei, dass dieses System unhinterfragt weiter (re-)produziert und aufrechterhalten wird.
Als ich angefangen habe, das zu verstehen, sind die Schuldzuweisungen in meinem Kopf, die mich immer wieder selbst getroffen haben, langsam leiser geworden. Manchmal kann ich mich nicht „einfach mehr anstrengen“. Unterzuckerungen kommen und gehen, wann, wie und wo sie wollen. Ein weniger ableistisches System würde Raum dafür schaffen. Es würde Lösungen finden, damit ich mich nicht hin und wieder doch dabei erwische, verstecken zu wollen, dass ich gerade unterzuckere, weil die Situation einfach unpassend ist.
Wie sehr Ableismus in unseren gesellschaftlichen Strukturen verankert ist und dabei weder unabhängig von Kapitalismus noch von anderen Herrschaftsstrukturen (z.B. Sexismus, Rassismus oder Klassismus) wirkt, ist schwer greifbar. Ableismus schlägt sich in unserer Sprache nieder. In Standardarbeitszeiten von 40 h pro Woche. Oder darin, was Menschen über Krankheiten (nicht) wissen/lernen und wie diese medial dargestellt werden.
Wir leben in einer Gesellschaft, die den Wert einer einzelnen Person an deren Produktivität misst. Die logische Folge ist: Alle, die langfristig oder temporär nicht mithalten können oder mehr Barrieren im Alltag haben, müssen deutlich mehr Aufwand betreiben, um dasselbe Ziel wie viele ableisierte Personen erreichen zu können.
Für all das gibt es pauschal keine Lösung. Strukturelle Veränderungen sind immer langfristige Kämpfe. Aber ein Anfang wäre es, anderen Personen mit Diabetes ihre (Diskriminierungs-)Erfahrungen anzuerkennen und uns, sowie andere be_hinderte und kranke Personen, in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen, um möglichst viele unterschiedliche Realitäten und Alltage abbilden zu können und Lösungen anhand unserer Bedürfnisse gestalten zu können.
Auch Vivi kennt den Moment, in dem die äußeren Strukturen zu Selbstzweifeln führen: SELBSTDISKRIMINIERUNG – die Verinnerlichung gesellschaftlicher Vorurteile. Ihr Umgang damit ist aber ein anderer.
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