Jugendliche mit Diabetes: Die Pubertät bringt alles durcheinander

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Jugendliche mit Diabetes: Die Pubertät bringt alles durcheinander | Foto: ehrenberg-bilder – stock.adobe.com
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Jugendliche mit Diabetes: Die Pubertät bringt alles durcheinander

Die Pubertät ist ein normaler Teil der Entwicklung, aber sie verläuft auch bei jedem Menschen anders. Dabei funktionieren die körperlichen Abläufe auch mit Typ-1-Diabetes genauso wie ohne. Bei manchen Teenagern setzt die Pubertät früher ein als bei anderen und bei manchen verläuft sie schneller als bei anderen. Aus diesem Grund können Jugendliche im gleichen Alter sehr unterschiedlich aussehen – ihre Körper wachsen unterschiedlich schnell und auch das Gehirn wird umgebaut.

So wie in der Familie von Benny (siehe folgenden Kasten) geht es den meisten Eltern von Jugendlichen mit Diabetes. Während der Pubertät fällt es fast allen Jugendlichen schwer, ihren Diabetes gut zu behandeln. Das hat viele Gründe: Jugendliche streben weg vom Elternhaus, sie wollen selbstständig und eigenverantwortlich ihren Tag gestalten, Partys feiern und Sachen erleben. Der Diabetes tritt in den Hintergrund, wird vernachlässigt und verdrängt.

Fallbeispiel: Benny ist 15 Jahre alt …

Benny kommt seit vielen Jahren in die Diabetes-Sprechstunde. Er behandelt sich jetzt mit dem neuesten Modell einer Kombination von Sensor zum kontinuierlichen Glukose-Monitoring (CGM) und Insulinpumpe mit automatisierter Insulin-Dosierung (AID, „Hybrid-Closed-Loop“).

Benny ist inzwischen 15 Jahre. Seine Mutter sitzt neben ihm und klagt: „Seitdem er in der Pubertät ist, erreichen wir das Ziel einer Zeit im Zielbereich von 70 Prozent nicht mehr, das HbA1c ist höher als vor der Pubertät und er vergisst immer wieder, vor dem Essen Insulin abzurufen!

Seine Nachlässigkeit geht so weit, dass er sogar den Sensor nicht regelmäßig wechselt, und es geht oft alles durcheinander. Gleichzeitig hält er sich nicht an Regeln und geht unerklärliche Risiken ein, z. B. mit Alkohol. Es hat deshalb schon viel Streit in der Familie gegeben.“ Als sie einmal kurz Luft holt, sagt Benny nur: „War’s das jetzt, Mama?“

Tatsächlich führen die hormonellen Veränderungen in der Pubertät zu ausgeprägten Schwankungen der Stimmung bei den Jugendlichen. So kommt es oft zu heftigen Auseinandersetzungen. Aber auch vonseiten der besorgten Eltern gibt es manchmal Probleme: Nach vielen Jahren intensiver Fürsorge fällt es ihnen verständlicherweise schwer, loszulassen und gelassen zu bleiben. Obwohl die meisten Eltern wissen, dass man in dieser Lebensphase mit Empathie mehr Erfolg hat als mit immerwährender Kritik, fällt das Umsetzen dieser Vorsätze im Alltag schwer.

Das Gehirn wird neu verkabelt

Das risikoreiche und auch ansonsten manchmal verwirrt erscheinende Verhalten Jugendlicher hängt auch damit zusammen, dass in dieser Phase neue Verknüpfungen von Nervenzellen im Gehirn geschaffen werden. Man geht davon aus, dass ungefähr 60 Prozent der Nerven-Verbindungen im Gehirn von kindlichen Leitungsbahnen zum Gehirn der Erwachsenen umgebaut werden. Dabei werden nicht alle neuen Strukturen gleichzeitig fertig.

Vor allem führen Veränderungen im limbischen System, dem Belohnungs-Zentrum, aufgrund einer früheren Entwicklung zu einem größeren Einfluss auf das Verhalten von Jugendlichen. Demgegenüber ist das Kontroll-System des Gehirns, der präfrontale Kortex (Stirn-Hirn), erst viel später vollständig ausgereift. Dieses Ungleichgewicht hat zur Folge, dass Jugendliche Risiko-freudiger sind und häufiger gefährliche Dinge tun.

In der Pubertät suchen Jugendliche daher nach Erfahrungen, um das körpereigene „Belohnungs-System“ anzuregen, während die Kontroll-Funktion des Gehirns bis in die späte Pubertät noch nicht voll entwickelt ist.

Startschuss zur Pubertät im Gehirn

Die sexuelle Reifung beginnt, wenn bestimmte Nervenzellen im Gehirn aktiv werden. Wie der Startschuss fällt, ist aber noch unklar. Eigentlich ist die gesamte Zeit vor der Pubertät eine Phase der Hormon-Unterdrückung. Gehemmt wird dabei das Hormon-System, das die Pubertät einleitet. Von Geburt an ist es vollständig ausgebildet und wartet auf seinen Einsatz.

Die Pubertät beginnt mit der Aktivierung des Hormon-Systems in einer Hirn-Region namens Hypothalamus. Den Startschuss dafür geben Nervenzellen, die der Hirnanhangdrüse signalisieren, mit dem Ausschütten des Follikel-stimulierenden Hormons (FSH) und des luteinisierenden Hormons (LH) zu beginnen. Über die Blutbahn gelangen diese Hormone in die Hoden oder Eierstöcke, woraufhin dort die Produktion der Sexualhormone Östrogen und Testosteron angekurbelt wird.

Hormone lassen die Glukosewerte schwanken

Diese Hormone haben neben ihren Geschlechts-typischen Eigenschaften jedoch weitere Auswirkungen: Sie setzen u. a. die Wirkung des Insulins herab. Dies bedeutet, dass in der Pubertät verhältnismäßig mehr Insulin notwendig ist, um eine normnahe Stoffwechsellage zu erreichen. Hinzu kommt, dass die Hormone Östrogen und Testosteron in sehr schwankender Konzentration im Körper kreisen, ihre Wirkung somit nicht vorhersehbar ist und es folglich zu stärker schwankenden Glukosewerten kommt.

Neben den Geschlechts-Hormonen wird in der Pubertät ein weiteres Hormon vermehrt ausgeschüttet: das Wachstums-Hormon. Die Phase des stärksten Wachstums und somit der stärksten Sekretion des Wachstums-Hormons liegt bei Jungen etwa im Alter von 14 Jahren, während Mädchen im Jahr vor der ersten Regelblutung ihren Wachstums-Spurt haben. Auch dessen Ausschüttung bedeutet, dass die Insulindosen entsprechend anzupassen sind, vor allem zur Nacht.

Jugendliche mit Diabetes: der Insulinbedarf wechselt

Das Wachstums-Hormon ist also verantwortlich für den Wachstums-Schub in dieser Phase des Lebens. Daneben reduziert aber auch das Wachstums-Hormon die Wirkung des Insulins. Das Wachstums-Hormon wird regulär im Schlaf ausgeschüttet und führt somit zu erhöhten Glukosewerten beim Aufstehen. Bekannt ist dies als „Dawn-Phänomen“ (Morgendämmerungs-Phänomen). Dieses Problem beklagen viele Jugendliche, wenn sie in der Pubertät sind.

Ein weiterer Faktor, der erschwerend hinzukommt, ist, dass das Wachstums-Hormon pulsatil (d. h. nicht regelmäßig, sondern schwankend) ausgeschüttet wird. Die Glukosewerte sind entsprechend schwankend und auch nicht regelmäßig jeden Morgen erhöht. Mit der automatisierten Insulin-Dosierung (AID, Hybrid-Closed-Loop) sieht man bei Jugendlichen, dass die aus den Sensor-Glukosewerten berechnete Insulin-Abgabe keine zwei Nächte hintereinander vergleichbar ist. Von medizinischer Seite gibt es damit jetzt endlich einen erfolgreichen Therapie-Ansatz, sodass viele Eltern und Jugendliche sagen: „Jetzt kann ich nachts ohne Alarm des Glukosesensors durchschlafen.“

Bei Kindern mit einer intensivierten Insulintherapie (ICT) mit Insulinpen muss manchmal auf ein anderes Basalinsulin gewechselt werden, bei der Insulinpumpen-Therapie ohne Kopplung an einen Glukosesensor kann die Basalrate in den frühen Morgenstunden entsprechend erhöht werden.

Besonders bei Mädchen ein beherrschendes Thema: das Gewicht

Bei Mädchen kommt zusätzlich ein Problem mit dem Körpergewicht hinzu. Das weltweite SWEET-Register untersuchte die Daten von 23 026 Kindern mit Typ-1-Diabetes im Alter von 2 bis 18 Jahren, die in 42 Zentren in 25 europäischen sowie 13 Ländern außerhalb Europas behandelt wurden.

Es zeigte sich ein vergleichbares Bild. Gemessen am Körper-Masse-Index (Body-Mass-Index, BMI), bezogen auf Alter und Geschlecht, waren 32 Prozent der Kinder übergewichtig, wobei es einen U-förmigen Zusammenhang zwischen HbA1c und BMI gab: Sowohl Kinder mit Über- als auch mit Untergewicht wiesen die höchsten HbA1c-Werte auf. Hier spielen unzureichende Insulingabe mit höheren Glukosewerten (was Untergewicht fördert) und gestörte Insulin-Empfindlichkeit (die bei Übergewicht oft besteht) eine große Rolle.

Schon bei Kleinkindern und präpubertären Kindern fanden sich höhere Raten an Übergewicht. Diese reduzierten sich bei beiden Geschlechtern vor der Pubertät zunächst. Allerdings kam es bei Mädchen mit Typ-1-Diabetes in der Pubertät ab 13 Jahren zu einem kontinuierlichen Wiederanstieg des relativen BMI bis zum Alter von 18 Jahren, während die Zahlen bei Jungen auf niedrige Werte fielen.

Sport in der Mannschaft fördern

Genauso wie bei Kindern ohne Diabetes geht die körperliche Aktivität um das sechste Lebensjahr zurück und dann nochmals um das 13. Lebensjahr, wobei bei Mädchen gegenüber Jungen generell ein deutlich ausgeprägterer Rückgang der Aktivität zu finden ist. Eine Motivation zum Mannschafts-Sport kann dabei in zweierlei Hinsicht nützlich sein.

Einerseits wird durch die Motivation der anderen Mannschafts-Mitglieder die regelmäßige Teilnahme verbessert, gleichzeitig reduziert die soziale Kontrolle der sportlichen Peer-Group riskante Verhaltensweisen und verringert die Tendenz zur Isolation im digitalen Leben. Die sportliche Betätigung verbessert die Insulin-Empfindlichkeit, die durch Pubertät und Übergewicht abgenommen hat.

Kontakt zum Diabetes-Team behalten

All dies sind einige wichtige Gründe für die Schwankungen der Glukosewerte in der Pubertät. Es kommt jetzt darauf an, den Jugendlichen auf der einen Seite die Freiheit und Verantwortung teilweise zu übertragen, ihnen aber nach wie vor bestimmte Regeln und Grenzen zu setzen, damit sie die Diabetes-Behandlung nicht komplett vernachlässigen.

Das Fördern von Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit als Beginn des Übergangs (Transition) zur Erwachsenen-Diabetologie ist dabei ebenso wichtig, wie es Erfolgs-Erlebnisse in der Therapie sind. Wenn dennoch eine festgelegte Regel gebrochen wird, sollte von Anfang an klar sein, welche Konsequenz darauf folgt. Diese sollte dann auch konsequent durchgesetzt werden, um die eigenen Regeln nicht zu unterlaufen. Übertriebene Strafen und das Einengen der Jugendlichen hingegen sind eher kontraproduktiv. Auf jeden Fall sollten Eltern immer wieder den Kontakt und das Gespräch mit dem eigenen Kind suchen.

Auch im Umgang mit dem Diabetes sollten sie immer mehr Freiraum geben und der oder dem Jugendlichen auch bei Therapie-Entscheidungen immer mehr zutrauen, um die Entwicklung der Persönlichkeit zu unterstützen. All diese Themen sind nicht nur durch die Eltern zu leisten, sondern sollten im Rahmen der Schulung der Jugendlichen durch das Diabetesteam unterstützt werden.

Schwerpunkt: Was Kinder und Jugendliche mit Diabetes brauchen“

von Prof. Dr. Thomas Danne

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2024; 72 (7) Seite 26-29

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