Diabetes: eine unserer Lebensaufgaben

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Diabetes: eine unserer Lebensaufgaben

Nadine Stellmach ist 44 Jahre alt und hat seit 30 Jahren Typ-1-Diabetes – bei der Dia­gnose war sie fast 14 Jahre alt. Auch zwei ihrer drei Kinder – Marvin, 10 Jahre alt, und Lena, 4 Jahre alt –, haben Typ-1-Diabetes; Marvin hat zudem noch Zöliakie. Nadine Stellmach hat ihr Diabetes-Schicksal freundlich angenommen. Diese Haltung versucht sie auch ihren Kindern zu vermitteln.

Die Geschichte beginnt mit der Diabetesdiagnose von Nadine Stellmach. Sie ist damals fast 14 Jahre alt und geht in die 8. Klasse.

Diabetes-Eltern-Journal (DEJ): Frau Stellmach, wie war das damals, als bei Ihnen Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde?
Nadine Stellmach:
Es wurde sehr schleppend diagnostiziert, ich hatte über lange Zeit Symptome, aber damals war es meines Wissens noch nicht üblich, dass bei Bluttests der Blutzucker immer mit untersucht wurde. Es wurde ein halbes Jahr „herumgedoktert“. Zwischenzeitlich vermuteten die Ärzte und Psychologen sogar eine Magersucht bei mir.

Letztendlich brachte ein Anruf meiner Mutter die Wende, die gesagt hat: „Da stimmt was nicht; Nadine trinkt so viel und hat nachts Krämpfe.“ Das war für den Arzt dann doch der Impuls, zu sagen, wir sollen sofort kommen. In der Praxis wurde dann ein Blutzuckerwert von 586 mg/dl (32,5 mmol/l) gemessen, das weiß ich noch wie heute.

Am nächsten Tag sind wir nach Bad Mergentheim in die Diabetesklinik gefahren und dort für drei Wochen geblieben. Meine Familie hat mich unterstützt; meine Mutter war die meiste Zeit mit dabei.

DEJ: Wie sind Sie behandelt worden?
Stellmach:
Erst einmal mit Insulinspritzen, bis wir alles im Griff hatten. Ich musste sofort selbst spritzen, das war oft ein sehr großes Problem, auch zu Hause: Wer spritzt mich – oder spritze ich mich selber? Ich hab es nicht immer geschafft, und auch meine Mutter konnte sich nicht immer überwinden. Dann musste meine Schwester als gelernte Arzthelferin kommen und helfen. Das war schon eine harte Zeit.

Nach ca. fünf Jahren bekam ich eine Pumpe. Die sehr gute Betreuung und Schulung im „Pumpendorf“, dem Diabetes-Dorf Althausen, gibt mir bis heute sehr viel Sicherheit und stärkt mein Tun.

DEJ: Wie war die Diagnose erst bei Ihrem Sohn und dann bei Ihrer Tochter? Hatten Sie schon einen Verdacht?
Stellmach:
Bei Marvin war es so, dass ich Symptome bemerkt, aber tatsächlich verdrängt habe. Ich wollte es nicht wahrhaben, das kann man ganz klar sagen. Zudem habe ich auch nicht mit meinem Mann darüber gesprochen. Ich habe es weiter verdrängt, bis mich irgendwann doch mein schlechtes Gewissen zum Blutzuckertest geführt hat. Und natürlich war der Wert hoch.

Am nächsten Tag sind wir in die Klinik. Ich war zu der Zeit noch im Wochenbett mit Julian, unserem zweiten Sohn. Da kam alles zusammen, Marvins Diabetes wurde eingestellt und nebenher habe ich Julian gestillt. Das war natürlich nicht ganz einfach.

Bei Lena habe ich es nicht so lange verdrängt. Bei ihr waren die Symptome noch kaum wahrnehmbar, aber irgendwann sagte sie: „Ich habe so Durst!“ Ich habe einen Zuckertest gemacht, und der Wert lag bei ungefähr 380 mg/dl (21,1 mmol/l). Wir mussten mit ihr aber nicht in die Klinik, weil wir durch Marvin schon so viel Erfahrung hatten und der Diabetes schon im Frühstadium erkannt wurde.

Marvin mit ca. 1,5 Jahren zur Zeit der Diabetesdiagnose (2011), rechts im Sommer 2019.

DEJ: Wie behandeln Sie, Marvin und Lena den Diabetes mittlerweile?
Stellmach:
Wir haben alle drei die gleiche Insulinpumpe – das macht es für uns einfacher. Marvin trägt außerdem im Moment zeitweise den FreeStyle
Libre, aber nicht durchgängig. Lena und ich messen noch blutig. Auch Lena misst den Blutzucker schon selbst; beide sind da sehr selbständig.

In der Schule ist FGM oder auch CGM natürlich sehr hilfreich; das wird sicher kommen. Ich selber finde es für mich schwierig. Ich habe ja schon den Fremdkörper Pumpe an mir. Ich finde es gut, dass ich die Pumpe auch mal abnehmen kann – einfach, um für mich Freiheit zu fühlen. Wie wichtig das für mich ist, haben meine Kinder sicher ein Stück weit mitbekommen, vor allem Marvin.

Beim CGM ist ja auch interessant, dass man eine Verbindung zum Handy der Eltern herstellen kann.

Den Unterzucker kann man meistens sehr gut rechtzeitig fühlen, wenn man auf seinen Körper hört. Ich möchte, dass die Kinder dieses Gefühl wahrnehmen lernen und nicht nur auf den Alarm des Sensors reagieren und somit das Gefühl der Unterzuckerung nicht kennenlernen, nur weil der Sensor bei 90 eingestellt ist und gleich gegensteuert. Ich finde es auch sehr wichtig, dass man den Blutzucker messen kann, genauso, wie man auch spritzen können muss.

DEJ: Wer kümmert sich bei Ihnen in der Familie um das Diabetesmanagement?
Stellmach:
Als nur ich Diabetes hatte, habe ich meinen Mann nicht groß involviert. Ich habe ihm schon gesagt, wie er reagieren soll, wenn etwas mit mir sein sollte, aber in der Hoffnung, dass nie etwas sein würde. Bei Marvin hat mein Mann eine sehr intensive Schulung mitgemacht, und seitdem ist er auch voll im Bilde. Es ist für mich wichtig, dass er sich ebenfalls darum kümmert, denn ich muss auch nach mir schauen.

Marvin denkt in Sachen Diabetes zunehmend mehr mit. Das macht er toll, das letzte Jahr hat sich bei ihm viel getan. Er ist jetzt auf der weiterführenden Schule und meistert seinen Mittagsunterricht ganz alleine und ohne Hilfe. Bislang sind wir immer sehr gut unterstützt worden, auch in der Grundschule und im Kindergarten. Auf der weiterführenden Schule sind ebenfalls alle informiert und hilfsbereit.

DEJ: Also hatten Sie keinerlei Probleme in Kindergarten und Schule?
Stellmach:
Na ja, als Lena Diabetes bekommen hat und ich das im Kindergarten gesagt habe, hieß es zuerst: „Kein Problem, wir haben es ja bei Marvin schon gemacht!“ Und dann kam tatsächlich jemand von der Stadt und sagte, dafür gäbe es Betreuer. Ich musste Lena sagen, dass sie erst einmal noch nicht in den Kindergarten darf.

Die Erzieherin hat dann zum Glück doch die Betreuung übernommen; aber letztendlich ist schon der Wunsch da, dass Lena extern betreut wird.

DEJ: Julian ist ja nicht von Diabetes betroffen. Haben Sie Bedenken, dass er zu kurz kommt?
Stellmach:
Er kommt definitiv zu kurz. Nach den anderen beiden muss man einfach mehr schauen. Julian ist ein guter Mitläufer, sowohl schulisch als auch privat. Manchmal jammert er aber doch, z. B. wenn die anderen wegen einer Unterzuckerung etwas Süßes bekommen. Er hilft uns, er darf Lena Insulin geben, darf sie messen. Wir nehmen ihn mit ins Boot, das macht er richtig gut.

Links Lena im Sommer 2017, ungefähr zur Zeit der Diagnose, rechts im Sommer 2019.

DEJ: Glauben Sie, dass es Marvin in der Pubertät schwerfallen wird, den Diabetes zu akzeptieren?
Stellmach:
Ich kann darüber ganz gut mit Marvin reden und tue es auch immer wieder. In der Kindheit muss die Basis gelegt werden, denn in der Pubertät vergessen die Jugendlichen wohl viel und sind nicht mehr ganz so konsequent wie zuvor.

Ich musste mich damals mit 14 entscheiden, den Diabetes entweder als Freund oder Feind zu sehen – und ich habe mich für den Freund entschieden. Ich sehe es so, dass man sein Schicksal freundlich annehmen muss, und das lehre ich die zwei jetzt natürlich auch. Marvin ist im Moment sehr zuverlässig und konsequent in vielen Dingen. Meine Hoffnung ist, dass er das auch in der Pubertät nicht ganz verlieren wird.

DEJ: Haben Sie Kontakt zu anderen Familien mit Kindern mit Diabetes?
Stellmach:
Ja, wir waren im März zum ersten Mal mit Diabetes-Kids Ski fahren. Das war ganz toll. Es war für Marvin und Lena sehr wichtig, einmal zu sehen, dass es noch andere Kinder mit Diabetes gibt.

Und vor allem: Diese Kinder waren in dieser Woche einfach die „Normalen“, das war eher für Julian wieder schwierig. Vor dem Schulwechsel hat Marvin zudem noch ein Selbständigkeitsseminar besucht, das seine Diabetologin angeboten hat. Beide Veranstaltungen haben ihn sehr gestärkt.

DEJ: Haben Sie die Möglichkeit genutzt, testen zu lassen, ob ein Diabetesrisiko besteht?
Stellmach:
Nein, was hätte es uns gebracht, es zu wissen? Wir haben uns dafür entschieden, Kinder zu bekommen – ohne Wenn und Aber. Meine Meinung ist: Ich konnte immer gut mit Diabetes leben, und ich habe durch den Diabetes tolle Menschen kennengelernt – das möchte ich nicht missen.

Dass ich Kinder will, war für mich immer klar. Das Risiko der Vererbung ist ja auch gar nicht so hoch. Warum es bei uns jetzt so gekommen ist, weiß ich nicht. Ich denke, es ist einfach unsere Lebensaufgabe. Was wir für uns haben, ist ein göttlicher Anker: Wir glauben daran, dass es gut so ist, wie es ist, und wir glauben daran, dass wir es schaffen.

DEJ: Haben Sie einen Wunsch für die Zukunft? Und was könnte sich aktuell für Sie und Ihre Kinder noch verbessern?
Stellmach:
Zu mir hat man damals gesagt: In 10 Jahren kann Diabetes geheilt werden. Jetzt habe ich seit 30 Jahren Diabetes, und es ist noch keine Heilung in Sicht. Ich hoffe natürlich für meine Kinder, dass sie irgendwann unbeschwert vom Diabetes leben können.

Und natürlich wünsche ich mir, dass meine Kinder weiterhin gut leben können und gut unterstützt werden. Wir haben bislang Glück gehabt. Ich hoffe, es gibt weiterhin so viele tolle Menschen um uns herum, die uns unterstützen.


Interview: Nicole Finkenauer
Redaktion Diabetes-Eltern-Journal, Kirchheim-Verlag,
Wilhelm-Theodor-Römheld-Straße 14, 55130 Mainz,
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90,
E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2019; 11 (4) Seite 16-18

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