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Diabetes hat Simon Lemmer seit 2010. Den Schulalltag konnte er bald gut meistern, und als in der vierten Klasse eine Klassenfahrt geplant wurde, war für Simons Eltern klar, dass er möglichst ohne Begleitung mitfahren sollte. Wie sich die Familie zusammen mit Simons Lehrerin vorbereitet hat und was während der Fahrt passiert ist, erzählen Simons Mutter, seine Lehrerin und Simon selbst jeweils aus ihrer eigenen Perspektive.
Mit Diabetes auf Klassenfahrt gehen? Na klar! Oder gibt es da Probleme? Diese Frage stellen sich viele Eltern von Kindern mit Diabetes. Als für Simons Klasse die Klassenfahrt immer näher rückte, machte sich auch seine Mutter Heike Lemmer so ihre Gedanken. Und seine Lehrerin Silke Clüter auch, ebenso Simon selbst …
Da wäre es doch interessant, von allen dreien zu erfahren, wie die Vorbereitungen und die Fahrt selbst gelaufen sind. Heike Lemmer hat also ihre eigenen Eindrücke aufgeschrieben und Silke Clüter und Simon gebeten, das gleiche zu tun. Lesen Sie hier, was vor und während der Klassenfahrt passiert ist – aus drei Perspektiven. Den Anfang macht Simons Mutter.
„In der vierten Klasse geht`s auf Klassenfahrt“ – das war bei mir so und bei meinem Mann und bei fast allen anderen bestimmt auch. Auch für Simon sollte es in der vierten Klasse auf große Fahrt gehen. Aber unser Sohn hat seit seinem sechsten Lebensjahr Typ-1-Diabetes. Und nun? Wie soll das laufen? Man liest so viel über Probleme von Eltern von Kindern mit Diabetes, wenn es um Schulausflüge und Klassenfahrten geht. Aber unser Sohn und auch wir haben das Glück, dass er eine ausgesprochen tolle Klassenlehrerin hat.
Ich möchte vorausschicken, dass ich selber seit über 20 Jahren Typ-1-Diabetikerin bin und so vielleicht aufgrund meiner eigenen Erfahrungen eine andere Sichtweise auf den Umgang mit dieser Erkrankung habe. Daher habe ich von Anfang an versucht, unserem Sohn einen selbstständigen Umgang mit seiner Krankheit zu vermitteln. Auch wollte ich es Simon ermöglichen, ohne Mama oder Papa die Klassenfahrt mitmachen zu können. Tagesausflüge hat immer Papa mitgemacht, der ist cooler!
Die Vorbereitung begann schon im Jahr zuvor
So begann unsere Vorbereitung auf die Klassenfahrt schon ein Jahr vorher. Es ging zu einer vierwöchigen Reha nach Westerland auf Sylt. Hier ging es mir besonders um das Schätzen von BEs, die Hypo-Wahrnehmung und darum, sich selber eine Nadel setzen zu können. So weit, so gut. Tolles Wetter, nette Leute und mehr Selbstständigkeit mit dem Diabetes – geschafft! Simon hat außerdem angefangen, sich selbst sein Frühstück für die Schule zu machen, selbst abzuwiegen und für Joghurt z. B. die BEs berechnen. Was man täglich übt – wird zur Gewohnheit.
Auch die jährlichen Schulungen in dem Krankenhaus, in dem Simon behandelt wird, haben für die Grundlagen sehr geholfen. Aber ohne die Unterstützung der Lehrerin geht es nicht. Daher habe ich das Gespräch mit Frau Clüter, Simons Lehrerin, gesucht. Sie war bereit, Simon ohne ein Elternteil als Begleitung mitzunehmen. Ich war glücklich und dankbar für diese mutige Entscheidung der Lehrerin.
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Praktisch: die Zucker-Sachen-Tasche
Deshalb galt es, alles gut vorzubereiten, um es Simon und Frau Clüter leichter zu machen. Für beide gab es eine kleine und übersichtliche BE-Tabelle mit den überlebenswichtigen Lebensmitteln für einen 10-Jährigen (Nutella, Marmelade, Brötchen, Nudeln, Ketchup,…). Für Notfälle lag auch noch das Buch „Kalorien mundgerecht“ mit in der praktischen „Zucker-Sachen-Tasche“ und natürlich auch Ersatznadeln, Setzhilfe, Desinfektionsmittel, Schwimmpflaster, Traubenzucker, Schokoriegel etc.
Die Bauchtasche – für den (unwahrscheinlichen) Ober-GAU
Falls Simon sich durch irgendeinen Zufall die Nadel rausreißen sollte (ist in drei Jahren ca. zweimal vorgekommen und dann immer beim Abziehen des Schwimmpflasters nach dem Schwimmtraining) oder die Teststreifen unterwegs ausgehen oder runterfallen oder irgendetwas anderes – man weiß ja nie – hatte ich für die Lehrerin eine eigene Bauchtasche gefüllt mit allen Utensilien, die eventuell gebraucht werden könnten:
Damit war sie für alle Fälle und für den „diabetischen Ober-GAU“ gerüstet, denn so etwas passiert ja immer zu den unmöglichsten Zeiten.
Ein letztes Gespräch mit Frau Clüter
Zwei Wochen vor der Klassenfahrt habe ich mich noch einmal mit Frau Clüter zusammengesetzt, um die „Notfallbauchtasche“ mitsamt BE-Übersicht abzugeben und noch einmal die letzten Sorgen und Bedenken wenn möglich zu minimieren. Da fielen Sätze wie:
Nach dem Gespräch hatte ich das Gefühl, dass sich Simons Lehrerin einigermaßen sicher fühlt, um nicht die ganze Klassenfahrt über vor ihrem geistigen Auge Simon im diabetischen Koma zu sehen – auch sie sollte doch Spaß an dieser Klassenfahrt haben!
Den Rest schaffen Simon und sein Papa alleine
Mehr Vorbereitungen konnte ich nicht treffen, denn zehn Tage vor der Klassenfahrt habe ich mich (ganz „verantwortungslos“) ganz allein auf eine große Reise nach Denver in die USA begeben. Den Rest mussten also mein Mann und mein Sohn alleine bewältigen. Die beiden packten dann noch eine Sporttasche mit allen notwendigen anderen Dingen, fertigten eine Excel-Tabelle, damit auch hoffentlich alle Dinge den Weg nach Hause finden würden, und als ich auf meinem Rückweg im Flieger saß, da brachte mein Mann Simon zum Bus.
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Mein Mann und ich hatten immer unsere Handys dabei und zuhause das Telefon in der Hosentasche – auch nachts lag alles griffbereit neben dem Bett. Doch es kam KEIN Hilferuf! Es war seltsam, ohne Simon zuhause – aber ich gönnte ihm diese tolle Zeit und den Schub für sein Selbstbewusstsein von Herzen.
Beim Abholen vom Bus habe ich mich mit Vegas, unserem Diabetikerwarnhund, ganz an den Rand des Getümmels gestellt. Das war gut so, denn ich hörte von mehreren Elternteilen, dass sie von ihren Kindern wegen einer zu stürmischen Begrüßung peinlich berührt weggeschickt wurden. Simon kam nur kurz zu mir, um mir seinen Rucksack und die Sporttasche vor die Füße zu werfen und mir mitzuteilen, dass er mit zu seinem Freund Thore geht. Seinen Bauchgurt mit Messgerät und Notfall-BEs hätte er dabei. Und weg war er. Muss eine schöne Klassenfahrt gewesen sein!
Die auf den Nägeln brennende Frage nach den Zuckerwerten habe ich mir verkniffen. Sekunden später stand er noch einmal kurz vor mir und meinte trocken: „Schön, dass du heil aus Amerika wieder da bist. Hab dich vermisst! Tschüss, Mama, bis heute Abend!“ – und schon war er wieder weg.
Mein Fazit: Es ist alles super gut gelaufen! Alles fasste wie Zahnräder in einander – o.k., wir hatten wirklich Glück, dass kein Sand ins Getriebe geraten ist. Aber selbst wenn es so gewesen wäre … Simons Zuckerwerte lagen zwischen 110 und 157 mg/dl (6,1 und 8,7 mmol/l), also traumhaft und besser als das eine oder andere Mal zuhause und besser als so manches Mal bei mir selber. Aber auch, wenn es nicht so perfekt gelaufen wäre und der eine oder andere 200er oder 300er Wert dazwischen gewesen wäre: Egal, es war nur eine Klassenfahrt und nicht sein ganzes Leben!
Simon hat die Fahrt in vollen Zügen genossen, er war immer voller Begeisterung dabei und hat sich durch seinen blöden Zucker von NICHTS, aber auch von GAR NICHTS abhalten lassen – und das ist gut so! Dank einer fantastischen und mutigen Lehrerin, eines zur Selbstständigkeit erzogenen Kindes und einer gehörigen Portion Glück ist diese Klassenfahrt für alle Beteiligten ein voller Erfolg geworden.
Als Eltern eines Kindes mit Diabetes hat man so allerhand Nöte und Ängste. Aber wenn man diese Ängste einem Lehrer verpasst, der eh schon seine eigenen Sorgen und Ängste in Bezug auf den Diabetes seines Schülers im Gepäck hat, dann macht so mancher Lehrer verständlicherweise „dicht“. Gut vorbereitet kann man den Diabetes auch mal für ein paar Tage in den Hintergrund schieben… Ich persönlich lebe sowieso nach dem Motto, dass sich mein eigener Diabetes MEINEM Leben anpassen muss und nicht ich mich mit meinem Leben an den Diabetes. Aber das ist ein anderes Thema …
Vielen Dank an dieser Stelle – ganz öffentlich und von ganzem Herzen –an Frau Clüter, Simons Lehrerin von der Grafen-Grundschule in Dortmund-Deusen, für ihren Mut, ihre Unterstützung und Hilfe. Sie haben unserem Sohn die Möglichkeit gegeben, ein ganz normaler Junge in der Grundschule zu sein. Hoffentlich haben wir in der neuen Schule wieder so viel Glück.
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Schon ab dem 1. Schuljahr stellten mir die Eltern meiner Klasse die Frage, ob ich denn auch mit den Kindern auf Klassenfahrt gehen würde. Grundsätzlich bejahte ich dies, war es doch noch sooo lange hin bis in Klasse 4… Wie es dann so ist: Die Zeit vergeht wie im Flug, im 4. Schuljahr steht das Thema wieder auf dem Plan, und endlich war eine dreitätige Klassenfahrt in die Nähe von Warstein in trockenen Tüchern.
Natürlich ist es kein Pappenstiel, für so viele Kinder rund um die Uhr die Verantwortung zu tragen und sie alle heil und unversehrt und möglichst gut gelaunt wieder mit nach Hause zu bringen. Sämtliche Herausforderungen sollten gemeistert und Extrawünsche im Hinblick auf jedes einzelne Kind berücksichtigt werden. Kein Problem, die Fähigkeit zum Multitasking gehört ja irgendwie zum Berufsprofil dazu.
Die Frage war nicht ob, sondern wie
Dieses Mal gab es jedoch auch für mich eine Premiere: Mit von der Partie war Simon, mein Diabetes-Kind. Bei ihm wurde erst im Laufe der Grundschulzeit der Diabetes diagnostiziert. Von Anfang an ging er damit sehr souverän um und konnte selbständig seinen Schulvormittag bewältigen. In meinem Pult lagert sein Vorrat an Traubenzucker und Schokoriegeln, und wir achten gemeinsam darauf, dass immer genug da ist. Simon misst und berechnet alleine, und lediglich manchmal kommt er während des Unterrichts zu mir und meint: “Mir ist komisch, ich mess mal…”
Alles läuft super, aber eine Klassenfahrt ist ja nochmal eine ganz andere Baustelle. Auf Tagesausflügen begleitete ihn teilweise sein Vater. Und auf die Klassenfahrt? Entgegen einiger “Horrorgeschichten”, dass Kinder wegen ihrer Diabetes-Erkrankung von so einer Fahrt sogar ausgeschlossen wurden, stand für mich nie das OB, sondern immer nur das WIE zur Debatte. Klar kommt Simon mit, keine Frage.
Ohne Eltern ist es natürlich viel cooler
Im Vorfeld fragte ich vorsichtig bei den Eltern an, ob sie evtl. bereit wären, ihren Sohn zu begleiten. Immerhin wäre ich dann auf der sicheren Seite, sie kennen sich schließlich am besten damit aus und merken, wenn etwas nicht stimmt. Waren sie. Aber es ist natürlich cooler, wenn man Mama und Papa nicht im Schlepptau hat, kann ich ja verstehen.
Im Stillen habe ich sogar daran gedacht, zu fragen, ob Vegas mitkommen kann, Simons Diabetes-Warnhund, denn meine absolute Horrorvorstellung war, dass Simon nachts unterzuckert und keiner es merkt. Und was ist, wenn ihm beim Spielen die Nadel rausrutscht? Wenn mit der Pumpe was nicht in Ordnung ist? Wenn die Werte plötzlich aus unerfindlichen Gründen in ungeahnte Höhen schießen oder in den Keller stürzen? All das geisterte mir durch den Kopf.
Sehr beruhigend: das Gespräch mit Simons Mutter und die Notfalltasche
Nach intensiven Gesprächen mit seiner Mutter einigten wir uns darauf, dass Simon allein mitfährt. Kurz vor der Klassenfahrt trafen wir uns noch einmal. Ich bekam eine perfekt gepackte Notfalltasche mit sämtlichen Reservematerialien und Hilfsmitteln, und wir sprachen noch einmal sämtliche Eventualitäten durch. Das trug dazu bei, dass ich relativ beruhigt war, dass es klappen würde mit Simon und mir.
Bei der Vorbesprechung der Fahrt mit der gesamten Klasse wies ich dann noch einmal darauf hin, dass Simons Schokoriegel etc. als Medizin und nicht als Süßigkeit gelten und bitte niemand sie anrührt. Aber da es auch in der Klasse funktioniert und die Kinder eigentlich Bescheid wissen, war das keine große Sache.
Nächste Seite: Simon bei den Mahlzeiten +++ das Messgerät beim Barfuß-Parcours +++ Daumen hoch – dank perfekter Vorbereitung +++ noch drei Frikadellen … +++ gute Werte
Gutes Wetter ist bei einer Klassenfahrt schon die halbe Miete. Da es der Wettergott äußerst gut mit uns meinte, verbrachte auch Simon jede mögliche Minute im Freien, stets ein Lächeln auf den Lippen und ein Grinsen im Gesicht. Ich wusste, dass er sich sehr auf die Fahrt gefreut hatte, und er genoss es in vollen Zügen.
Bei den Mahlzeiten kam seine mitgebrachte Waage kaum zum Einsatz, und auf meine vorsichtige Frage bei der ersten Mahlzeit, wie er denn nun seine BEs berechnet habe, antwortete er ganz lässig: „Zwei Esslöffel Reis sind eine BE, ich hab erstmal genau zwei Löffel genommen.” Prima, klappt! Simon aß mit Begeisterung, schlenderte immer nochmal am Buffet vorbei und berechnete sicher seine Einheiten. Nach und nach reduzierte sich meine Fragerei auf ein „Hast du schon gemessen?”, „Kommst du klar?” oder „Alles okay?” , was er stets bejahte, meistens mit der passenden Begründung. Wieder ein Stein, der mir vom Herzen fiel.
Den abendlichen Wert über 100 hatten wir auch jedes Mal. Vor dem Schlafengehen prüfte ich noch einmal, ob seine Apfelsaftflasche am Bett ausreichend gefüllt war. Einzige Mini-Verletzung: Kopf gestoßen an der Zimmerdecke, das Hochbett heißt ja nicht umsonst so.
Simon denk (fast) immer an sein Equipment
Einmal hat er die Pumpe abgenommen, beim Bauen von Dämmen am Biberbach und beim Planschen im Wasser. In dieser Zeit habe ich sie für ihn verwahrt. Fast immer hat Simon an sein Equipment gedacht, lediglich einmal hat er das Messgerät liegen lassen, im Eifer des Gefechtes, als die Kinder nach einem Barfuß-Parcours durch ein Wassertretbecken wateten. Als sich alle zur nächsten Action-Station aufmachten, war er wieder ganz vorn dabei und hat nicht mehr daran gedacht. Ich habe es dann mitgenommen und ihm wiedergegeben.
Auf jeden Fall den Daumen hoch!
Simon hatte drei Tage ein Dauerlächeln im Gesicht, hat sich, soweit ich es beurteilen kann, wohl gefühlt und war stets begeistert und mit Feuereifer bei der Sache. Er kann stolz auf sich sein, dass er das allein gemeistert hat. Dass die Klassenfahrt mit ihm so entspannt ablief, lag zum einen an seiner Art, in seinem Alter so sicher und souverän mit seiner Krankheit umzugehen, und zum anderen an seiner Mutter, die es mir durch die perfekte Vorbereitung sehr erleichtert hat und mir einen großen Teil meiner Sorgen nehmen konnte.
Die Vorbereitung hat mich eigentlich gar nicht interessiert – und sie hat genervt! Sie war aber wichtig.
Als wir da waren und gegessen haben, hat das Messen und Spritzen mich nicht aufgehalten. Ich konnte alles essen, was sie angeboten haben, zum Beispiel: Pommes mit Ketchup, Mayonnaise und Frikadellen. „Das war lecker“, dachte ich und nahm noch drei Frikadellen.
Der Zucker war gut, ich hatte Werte zwischen 90 und 150 mg/dl (5 und 8,3 mmol/l). Ich konnte alles machen, was die Anderen gemacht haben, und der Zucker hat nicht gestört. Ich habe einmal mein Messgerät liegen gelassen, aber meine Lehrerin hat es mitgenommen.
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