Mitlese-Apps für CGM sinnvoll nutzen, Herausforderungen meistern

5 Minuten

© Guido Weinberger, UKSH, Campus Lübeck
Mitlese-Apps für CGM sinnvoll nutzen, Herausforderungen meistern

Seit 2016 sind Geräte zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) für Menschen mit Diabetes eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Sehr zeitnah kamen auch die ersten Apps zum Mitlesen der Glukosedaten auf den Markt. Die Vorteile waren offensichtlich: Endlich konnten „Vertrauenspersonen“ oder „Follower“ (Eltern, Partner …) genauso Warnmeldungen erhalten wie Nutzerinnen oder Nutzer eines CGM-Systems. Was für eine großartige Hilfe für Familien!

Ich erinnere mich noch an eine alleinerziehende Mutter, die ebenso wie ihr Kind an Typ-1-Diabetes erkrankt war. Sie erzählte mir, dass sie jeden Morgen zweimal das Telefon bei ihren Eltern klingeln lasse, damit ihre jetzt schon betagten Eltern sicher wüssten, dass sie gut erwacht sei. Die Art, wie diese Mutter ihre damals berechtigte Angst vor nächtlichen Unterzuckerungen in der Zeit vor CGM-Systemen gelöst hatte, berührte mich sehr. Eigentlich können also CGM-Systeme und Apps nur positiv sein, oder?

Eine Kollegin von mir hat ein Kind mit Typ-1-Diabetes. Ich erinnere mich noch gut an eine Situation am Vormittag, an dem ihr Smartphone den Signalton „Niedrige Glukose“ ausgab. Ein Blick auf das Display zeigte das gespiegelte Pumpendisplay mit einer Sensorkurve im Hypo­glykämie-­Bereich trotz zeitiger Abschaltung der Basalrate der Insulinpumpe.

„Hm, hoffentlich isst er jetzt was … schon ganz schön tief … er schreibt gerade in diesem Augenblick seine Matheklausur … “ Noch ein paarmal schaute sie auf das Display. „Naja, ich kann jetzt auch nichts machen, er muss es regeln lernen …“, und sie legte das Smartphone zur Seite. Meine Kollegin war jahrelang eher zwiespältig Mitlese-Apps gegenüber, die ja für CGM-Systeme und auch für Insulinpumpen angeboten werden. „Ich möchte eigentlich nicht immer für seine Werte verantwortlich sein. Er ist jetzt im Kindergarten, da ist er betreut … und ich arbeite jetzt.“

Vorteile liegen auf der Hand

Die Vorteile von Mitlese-Apps vor allem nachts liegen allerdings auf der Hand: Das Aufstehen und vorsichtige Herantasten an die Insulinpumpe am schlafenden Kind entfallen. Ein Blick auf das Smartphone am Bett und man weiß als Eltern, wie es gerade um die Glukosewerte des Kinds steht. Allerdings muss dafür auch das Kind, und sei es ein Kleinkind, ein Smart­phone in Reichweite haben, damit die Daten von CGM-Gerät oder Insulinpumpe an einen Server gesendet werden können. Nicht alle Eltern finden es optimal, ein Smartphone im Schlafzimmer der Kinder zu haben.

Tagsüber erlauben die Mitlese-Apps den Eltern, immer wieder einen Blick auf den Verlauf zu werfen. Wenn der Verlauf akzeptabel ist, eröffnen sich dem Kind damit auch wieder altersgerechte Freiräume. Vor 2016 waren es meist die Eltern, die am Spielfeldrand oder beim Kindergeburtstag ständig auf das betroffene Kind ein Auge werfen mussten, um eine Unterzuckerung zu erkennen. Nun eröffnen Mitlese-­Apps die Chance, dass diese Aufgabe über eine App mit Warnfunktion erfolgt. Fragt man Kinder, Teenager und Jugendliche mit Dia­be­tes zu Mit­lese-­Apps, wird die Meinung dazu mit dem Einsetzen der Pubertät immer kritischer.

Vorteile und Nachteile


Vorteile der Mitlese-Apps für Eltern und Erziehende
nachts: kein Aufstehen, um den CGM-Sensor abzuscannen, einen Blick auf das CGM-Gerät zu werfen oder an den Körper des Kinds heranzumüssen, um die ­Pumpe hervorzuholen. Vor allem im Teenager- und Jugendalter gilt es hier, auch das Schamgefühl und den Wunsch nach ungestörtem Schlaf des Kinds zu würdigen. Mitlese-Apps sind eine große Entlastung für Eltern.
tagsüber: rechtzeitige Warnmeldung bei sehr hohen oder sehr tiefen Werten möglich, auch wenn das Kind in der Schule, beim Sport oder bei Freunden ist. Eine drohende Stoffwechselentgleisung kann rechtzeitig erkannt und ihr kann vorgebeugt werden. Das Fragen der Eltern nach dem aktuellen Sensorwert oder Trend kann entfallen und damit entfallen auch weniger angenehme Gesprächsthemen.

Nachteile der Mitlese-Apps für Eltern und Erziehende
nachts: Die Technik braucht eine durchgehend stabile Internetverbindung und Verbindung von Sensor/Insulinpumpe zum Smartphone des Kinds. Nicht wenige Familien schalten nachts das WLAN aus, damit aber auch die Übertragung der Daten. Nicht selten kommt es auch zu Problemen der Datenübertragung von Sensor zu Pumpe, von Pumpe zu App oder vom Sensor zur App. Dann liegen keine Daten zum Mitlesen vor.
tagsüber: Bei niedrigem Batteriestand können die meisten Smartphones nicht entscheiden, welche App weiterlaufen muss und welche abgeschaltet werden kann. So können gerade dann keine Daten vorliegen, wenn die Eltern sie gern sehen würden.
generell: Das Mitlesen der Daten kann als große Erleichterung empfunden werden, aber auch mit Ängsten einhergehen. Eltern müssen lernen, es auszuhalten, dass sie nicht immer direkt eingreifen können. Das Smartphone liegt z. B. empfangsbereit im Rucksack des Kinds, das Kind spielt mit anderen zusammen Tischtennis, der Hypo­glyk­ämie-Alarm der App auf dem Smartphone des Kinds geht an, aber das Kind hört ihn nicht, die Eltern aber schon, und zwar auf ihrem Smartphone mit Mitlese-App. Während das Kind mit niedrigen Glukosewerten weiter Tischtennis spielt, versucht ein Elternteil, das Kind anzurufen, aber es hört den Anruf auch nicht. So eine Situation aushalten zu müssen, ist für Eltern nicht ganz einfach. Auch müssen Eltern akzeptieren, dass Personal in Kitas oder Schulen nicht unbedingt eine App mit medizinischen Daten ihrer Schüler auf dem privaten Smartphone haben möchte. Das mag bei einer Klassenfahrt für wenige Tage sinnvoll sein, aber nicht für jeden Tag.

Während sich bei besonderen Aktivitäten wie Festival-Besuch, erster Auslandsreise mit Freunden oder Klassenfahrt die Vorteile noch erschließen, wird die Kontrollfunktion der Eltern kritisch gesehen. Eltern sollten hier sehr zurückhaltend mit mahnenden Nachrichten reagieren, obwohl sie nachvollziehbar sind. Zu viel Kontrolle führt bei jungen Menschen genau zum Gegenteil, nämlich zur Ablehnung der gesamten Mitlese-App. Mit Absprache, welche Alarme auf das Eltern-­Smart­phone gesendet werden sollen, und Zurückhaltung der Eltern auf Warnmeldungen ist aber eine gute Balance möglich.

Ein paar allgemeine Anmerkungen

Grundsätzlich setzen Mitlese-Apps voraus, dass das Kind ein zum System kompatibles, zumeist höherwertiges Smartphone bei sich trägt. Das ist eine finanzielle Belastung für Familien, und Kleinkinder benötigen nun Pumpen­gurte mit extra Smartphone-Tasche oder andere clevere Ideen, wo das Smart­phone platziert werden kann. Das Nutzen von Smartphones in der Schule muss mit den Lehrkräften besprochen werden, um Missverständnissen vorzubeugen.

Apps für Smartwatch und Co

Der nächste logische Schritt ist die Spiegelung der CGM-Alarme auf eine App, die auf der Smartwatch angezeigt wird. Diesem Trend können wir uns nicht entziehen. Die junge Generation möchte ihre körperliche Leistungsfähigkeit messen und optimieren. Ein Vibrieren der Watch bei Hypo- oder Hyperglyk­ämie-Alarm kann eine sehr gute Lösung sein, da Kinder und Jugendliche eben nicht immer das Smartphone am Körper tragen. Ob in der nahen Zukunft Smartwatchs sogar eigenständig die Glukose messen können, bleibt abzuwarten, aber der Trend geht hin zur Smartwatch, die einiges messen kann, vermutlich aber vor allem als Life­style-­Komponente.

Zusammenfassend ist die Mitlese-App eine gute Idee, wenn daraus keine Dauerkontrolle entsteht. Eltern müssen lernen, ihren berechtigten Wunsch nach Korrektur hoher Glukosewerte so zu vermitteln, dass ihr Kind gelegentliche „Erinnerungen“ als Hilfe erkennt und akzeptieren kann. Mit einem Ausschalten der Alarme oder der Mitlese-Funktion würden alle auch auf die nächtliche Schutzfunktion verzichten müssen. Für Klassenfahrten, Auslandsreisen ohne Eltern und das Ausziehen von zu Hause sollten Eltern und Kind bzw. erwachsenes Kind gemeinsam überlegen, welche Kontrolle sinnvoll und gewünscht ist.


Autor:

Dr. Simone von Sengbusch
Diabetologin DDG
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin UKSH Lübeck

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (1) Seite 22-23

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