8 Minuten
Warum bringt sich jemand intensiv für Kinder mit Typ-1-Diabetes ein? Weil ein eigenes Kind mit der chronischen Erkrankung lebt, klar! Wie aber fing die Geschichte bei Kathy Dalinger an, als der Diabetes ihrer Tochter ins Familienleben platze? Und wie kam es, dass aus dieser persönlichen Erfahrung großes Engagement für andere Kinder mit Diabetes wurde? Wir stellen Kathys Geschichte hier ausführlich vor.
Im November 2012 hatte die fünfeinhalbjährige Leonie die typischen Symptome eines Typ-1-Diabetes: „Viel gepieselt, viel getrunken, sie hat abgenommen, aber das haben wir natürlich auf den Wachstumsschub geschoben“, berichtet Mutter Kathy Dalinger rückblickend. „Aber es ging ihr einfach immer schlechter.“ Eines Tages hatte Leonie im Kindergarten Bauchschmerzen.
„Ich hatte an dem Tag schon ein ganz komisches Gefühl, kam in der Arbeit an und schon war der Kindergarten das erste Telefonat, dass es ihr gar nicht gut geht und ich sie wieder abholen soll.“ Es ging zum Kinderarzt, der direkt die Diagnose Typ-1-Diabetes stellte. Der Blutzucker lag um 500 mg/dl (27,8 mmol/l). In einer Viertelstunde waren sie im Krankenhaus.
Dort wurden noch einmal alle Tests durchgeführt. „Eine Stunde später haben wir dann die Diagnose bekommen: ‚Herzlichen Glückwunsch, Ihr Kind hat Typ-1-Diabetes.‘“, erinnert sich die Mutter an den Schreckmoment. Den Eltern Dalinger wurde ein bisschen zum Thema Typ-1-Diabetes und die lebenslang notwendige Insulintherapie erzählt, „dann wurden wir schon überrumpelt mit dem Thema: ‚So, was hätten Sie gerne? Ihr Kind braucht ja Insulin. Hätten Sie gerne einen Pen oder eine Pumpe?‘“
Vorher hatte die Familie aus Weichering in Bayern nichts mit der Erkrankung zu tun. „Da waren wir dann etwas überfordert, weil wir ja überhaupt nicht wussten: Was ist ein Pen, was ist eine Pumpe?“ Nachdem die Ärzte und Diabetesberater ihnen die Unterschiede erklärt hatten, entschieden sie sich für eine Insulinpumpe, um ihrer Tochter das häufige Piksen mit dem Insulinpen zu ersparen.
Glück hatte Leonie insofern, als sie bei Diagnose trotz des sehr hohen Blutzuckerwerts nicht in einer Ketoazidose, also einer massiven Übersäuerung des Körpers aufgrund des Insulinmangels, war. „Sie ist noch quietschfidel rumgelaufen im Krankenhaus“, ist Kathy Dalinger heute noch froh.
Und Leonie nahm die Diagnose gelassen auf, wie sich ihre Mutter erinnert: „Sie war davor schon mal im Krankenhaus und für sie war es immer so: Sie geht ins Krankenhaus, jetzt hat sie was und wenn sie rauskommt, ist sie wieder gesund. Aber natürlich war sie nach der Diagnose nicht mehr gesund. Ich habe dann versucht, ihr das zu erklären. Ich weiß noch, dass ich, als sie gefragt hat, ob das, wenn wir nach Hause kommen, wieder weg ist, ihr nur erklärt habe, dass sie das noch hat, wenn sie Oma ist. Das hat sie für sich so akzeptiert.“
Schwieriger war der Alltag: „Alle drei Tage Kathetersetzen, das war schon mit Geschrei, aber das war eher die Angst vor dem Katheter, vor dem ‚Klick‘ beim Setzen.“ Als Leonie neun Jahre alt war, wechselte sie von einer Insulinpumpe mit Schlauch auf eine schlauchlose Pumpe, die sie heute noch verwendet. Für die Blutzucker-Kontrolle hatte sie zu Beginn ein Blutzucker-Messgerät, bis zu 12-mal täglich wurde Leonie in die Fingerbeere gepikst.
„Mit CGM haben wir tatsächlich angefangen mit dem FreeStyle Libre, als er rauskam, im Oktober 2014.“
Kennengelernt hatte Kathy Dalinger das System zum kontinuierlichen Glukose-Messen (CGM) in der Blogger-Szene und ihr Entschluss stand sofort fest: „Den will ich!“ Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren sie und ihr Mann jede Nacht mindestens einmal aufgestanden, um Leonies Blutzuckerwert zu messen und bei Bedarf Kohlenhydrate oder Insulin zu geben.
Wachstumsschübe, Ereignisse im Kindergarten, Schwimmen am Tag – es gab diese und viele weitere Gründe für die nächtliche Kontrolle. Wenn ein Eingreifen nötig war, klingelte der Wecker eine Stunde später wieder, um den Erfolg zu kontrollieren. „Wir haben uns abgewechselt, sodass jeder mal schlafen konnte …“ Mit dem CGM-System bzw. damals noch mit dem System zum intermittierenden Scannen wurde es etwas einfacher: „Du musstest nur noch scannen und du hattest den Trend, was du ja früher auch nicht hattest.“
Mutter und Vater Dalinger bilden ein tolles Team und helfen ihrer Tochter Leonie bei ihrem Typ-1-Diabetes, wo immer sie können. Inzwischen ist Leonie erwachsen. | Fotos: marko priske
Inzwischen verwendet Leonie, die Anfang März 18 Jahre alt wurde, seit etwa fünf Jahren ein System zur automatisierten Insulin-Dosierung (AID-System), Marke Do it yourself. „Den Loop hat mein Mann aufgesetzt, und ansonsten macht sie mittlerweile alles allein.“ Kathy Dalinger freut sich über die enormen Fortschritte, die es in der Therapie in den letzten Jahren gab: „Wenn ich an die Anfänge denke, wo wir bis zu zwölf Mal am Tag gepikst haben, nachts aufgestanden sind, ist das jetzt wirklich der Himmel auf Erden. Eltern, die jetzt erst die Diagnose Typ-1-Diabetes bei ihrem Kind bekommen und die ganze Technik schon haben, die können sich das gar nicht mehr vorstellen, wie das früher mal war.“
Zwischen der Diagnose und dem 18. Geburtstag war natürlich noch einiges andere passiert. Mit fünfeinhalb ging sie noch in den Kindergarten – wo der Diabetes überhaupt kein Problem war, strahlt Mutter Kathy: „Wir haben ganz, ganz tolle Erzieherinnen gehabt, die sich sofort haben schulen lassen. Und wir haben eigentlich zusammen den Diabetes von Leonie kennengelernt. Wir sind gemeinsam da reingewachsen.“ Für sie war auch wichtig, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen. „Die Kinder haben nie eine gerade Linie im Kindergarten. Aber das haben die daheim ja auch nicht…“ Sie empfiehlt, wenn mal was schief läuft, darüber zu sprechen, nicht vorwurfsvoll, sondern sachlich: „Das ist jetzt nicht so gut gelaufen. Lasst es uns beim nächsten Mal anders probieren.“
In der Grundschule stieß die Familie dann auf komplette Ablehnung. Aber Glück im Unglück: „Wir wohnen in einem Dorf mit 2.500 Einwohnern. Unsere Schule und der Kindergarten sind nebeneinander. Das hieß, wenn es Schulfrühstück gab und die Lehrer ja nicht abgewogen haben und gar nichts taten, sind die Erzieherinnen aus dem Kindergarten gekommen und haben ihr geholfen.“ Auch während der Hausaufgabenbetreuung, die zum Kindergarten gehört, war Leonie deshalb in guter Betreuung und Kathy Dalinger konnte ungehindert ihrem Beruf nachgehen. „Das war wirklich unser Traum-Team.“
Der dörfliche Charakter brachte es auch mit sich, dass Leonie selbstverständlich zu Kindergeburtstagen eingeladen wurde. „Da ist auch einiges schiefgegangen, mal viel zu viel gebolt für den Kuchen…“ Entspannt meint Kathy Dalinger: „Dann haben wir sie abgeholt, bis es ihr wieder gut ging, und sie dann wieder hingefahren.“ Ein bisschen hatte die Mutter schon vorbereitet: „Das Einzige, was ich gemacht habe: Ich habe immer den Kuchen oder den Muffin – was sie essen wollte – abgewogen, berechnet und dann musste sie das halt aufessen.“ Und die Süßigkeiten, die es gab, sammelte Leonie und durfte sie später zu Hause nach und nach genießen.
In der weiterführenden Schule war es wieder unproblematisch. Die Eltern Dalinger informierten zu Beginn den Klassenlehrer über Leonies Typ-1-Diabetes, boten Informations-Material an und auch eine Schulung. Auch, dass sie ihr Smartphone bei sich haben musste, wurde besprochen. „Das war eigentlich nie ein Problem. Sie war auf Klassenfahrten dabei, sie war bei der Ski-Freizeit dabei, immer ohne Extra-Betreuung.“ Notfälle gab es nie, aber eben das Wissen, dass jemand hätte helfen können. Und mit der Follower-App, mit der Dalingers Leonies Glukosewerte aus der Ferne mit überwachen konnten, gab ihnen und den Lehrern zusätzliche Sicherheit.
Leonie bekam auch viel Unterstützung, um schnell mit ihrem Diabetes selbstständig umgehen zu können. „Uns war es wichtig, dass sie alle zwei Jahre bei uns in der Klinik oder in Bad Mergentheim oder wo auch immer irgendwas macht, um selbstständiger zu werden, dass sie selber schon immer Kinder- und Jugendkurse besucht hat, um den Diabetes kennenzulernen.“ Dadurch hatte sie viel Kontakt zu anderen Kindern mit Diabetes – wie auch in der Selbsthilfegruppe, in der sich Eltern und Kinder trafen und heute noch treffen. „Mit denen sind wir auch mal zum Wochenende in die Jugendherberge gefahren.“
Mit Mandy Leinfelder, der Leiterin dieser Selbsthilfegruppe, baute Kathy Dalinger auch einen Blog auf, in dem sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus ihrem Leben mit ihren Kindern mit Typ-1-Diabetes schilderten. „Das hat uns auch sehr geholfen, uns selber über viele Dinge klarerzuwerden bei dem Thema.“ Dass ein solcher Blog fehlte, wie die beiden Mütter fanden, zeigte sich an den Aufrufen: eine Million im Jahr.
Auch Leonie half der Blog, denn auf diesem Weg lernte sie zum Beispiel die Sportler mit Typ-1-Diabetes Daniel Schnelting und Anja Renfordt kennen, die für sie Vorbilder wurden. „Diese Personen hätte sie in der Form nicht kennengelernt, wenn ich nicht gebloggt hätte.“ Sie ergänzt: „Auch Erwachsene zu sehen, die das haben, das bewirkt bei einem Kind noch mal was.“ Der Blog brachte viel Gutes, aber die beiden wurden auch von anderen angegangen: „Das Schlimmste war, als mir eine gesagt hat, mein Kind hat nur Diabetes, weil es zu wenig Mutterliebe gekriegt hat, als es klein war.“
Dass Leonie selbst schnell selbstständig werden wollte, lag auch an ihren Hobbys. Sie ist aktiv bei den Pfadfindern „und da ist sie trotz Diabetes oder mit Diabetes auch immer auf die Sommercamps gefahren“. Nur nach Rumänien „mitten im rumänischen Urwald“ haben die Eltern ihre Tochter nicht mitgelassen, denn zu diesem Zeitpunkt konnte sie selbst noch keinen Sensor setzen. „Wir haben gesagt: Wenn sie sowas machen will, dann muss sie das können.“
Auch auf den Reiterhof zum Voltigieren wollte sie so schnell wie möglich allein. Das war für Leonie ein großer Ansporn: „Dann hat sie angefangen, sich den Sensor selber zu setzen.“ Ihre Pubertät verlief auch ohne jede Rebellion, das Mutter-Tochter-Gespann funktioniert. Kathy Dalinger lacht: „Jetzt bin ich eigentlich nur noch da, um in den Kühlschrank zu schauen, ob noch genug Insulin da ist.“
Seit drei Jahren ist Kathy Dalinger Vorsitzende der Stiftung Dianiño, gegründet im Jahr 2004. Gedacht war die Stiftung als Familienhilfe, von Eltern für Eltern. Heute helfen Diabetesberaterinnen und langjährig erfahrene Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes ehrenamtlich Familien, in denen es Probleme in Bezug auf den Diabetes gibt. Dabei geht es nicht um medizinische Fragen, diese bleiben in der Hand der Ärztinnen und Ärzte.
Diabetes-Anker-Podcast: Thomas-Fuchsberger-Preis für „Dianiño Diabetes-Nannies“ – mit Kathy Dalinger
Kathy Dalinger berichtet von einem Fall: Aufgrund einer länger andauernden Erkrankung der Mutter musste sich der gerade erwachsene Bruder um seine kleine Schwester mit Diabetes kümmern. Er hatte keine Ahnung. Eine Diabetes-Nanny ging in die Familie und unterstützte den Jungen. „Ein Arzt hat mal gesagt, wir sind die Feuerwehr, wenn ein Kind mit Diabetes in eine akute Notsituation kommt.“
Die Hilfe wird deutschlandweit angeboten, aber es gibt noch Flecken, in denen es keine Diabetes-Nannies gibt. „Wir sind immer dankbar für zusätzliche ehrenamtliche Mitarbeiter.“ Auch über Spenden freut sich die Stiftung, denn eine Aufwandsentschädigung und bei langen Fahrzeiten – bis zu 200 Kilometer bis zum Einsatzort können es durchaus mal sein – einen Fahrtkostenzuschuss erhalten die Nannies. Zwischen 650 und 800 Anfragen kommen im Jahr von Kinderdiabetologinnen und -diabetologen sowie Kinder-Diabetes-Teams.
Die Stiftung Dianiño wurde 2004 als gemeinnützige Stiftung gegründet. Gemeinsam mit Ärzten, Diabetesberaterinnen, Krankenschwestern, Psychologen und dem Einsatz der Diabetes-Nannies hat sie sich zu einer festen Größe in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes etabliert.
2024 wurde Dianiño mit dem Thomas-Fuchsberger-Preis ausgezeichnet, verbunden mit einem Preisgeld von 10.000 Euro, das vom Diabetes-Anker gestiftet wurde. Wer die Stiftung unterstützen möchte, kann sich selbst einbringen oder spenden. Mehr Informationen gibt es unter www.stiftung-dianino.de.
Spendenkonto:
Stiftung Dianiño
Kreissparkasse Tuttlingen
IBAN: DE30 6435 0070 0000 0448 84
BIC: SOLADES1TUT
Für die Vorsitzende bedeutet der Einsatz bei Dianiño, dass sie dafür täglich mindestens zwei, drei Stunden am Rechner sitzt, „manchmal geht auch der ganze Sonntag drauf“. Aber: „Es ist eine Herzenssache und da schöpfst du Kraft aus dem Tun. Mit der Arbeit bewirkst du ja was Gutes. Bis jetzt habe ich schon die Erfahrung gemacht: Wenn du was Gutes in die Welt trägst, kommt auch Positives zu dir zurück.“ Leonie hilft auch, sie verschickt die Spendenbriefe. Aber aktuell steht erst mal das Abitur an, danach möchte sie Wirtschafts- oder Rechtspsychologie studieren.
Erschienen in: Diabetes-Anker, 2025; 73 (4) Seite 56-59
Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.
3 Minuten
4 Minuten
Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.
Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.
Beliebte Themen
Ernährung
Aus der Community
Grundwissen Diabetes
Push-Benachrichtigungen