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SowohlADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) als auch Diabetes Typ 1 haben genetische Ursachen und treten häufiger in Kombination auf. Außerdem verläuft die Reifung des Gehirns bei Diabetes manchmal anders. Das kann verschiedene Ursachen haben: Der Alltag mit Diabetes führt oft zu einer Überstimulation. Ständig muss man die Glukosewerte im Kopf haben, die KE-Tabelle usw. Hinzu kommen Zweifel, ob man auch alles richtig macht, und Frustrationen, wenn man keine Fehler entdecken kann und die Einstellung trotzdem nicht funktioniert. Das Gehirn kommt kaum zur Ruhe, ähnlich wie bei ADHS. Es entsteht Stress, und unter Stress kann niemand klar denken, die Hirnreifung wird weiter verzögert. Bei ADHS ist u. a. die Fähigkeit zu seriellen Handlungen gestört. Die Betroffenen können außerdem schlecht vorausplanen, sich Ziele setzen und das eigene Handeln an die aktuellen Erfordernisse anpassen. Selbstkontrolle und Arbeitsgedächtnis sind also gestört. Und genau diese Funktionen sind bei einer chronischen Erkrankung wie Diabetes Typ 1 erforderlich.
Dass Zucker im Gehirn wirkt, weiß jeder, der mal von einer Über- in eine Unterzuckerung (Hypoglykämie) gerutscht ist. Und auch für das Insulin kann man im Gehirn Rezeptoren nachweisen. Auch wenn durch Blutzuckerschwankungen meist keine bleibenden Schäden entstehen, kann man sich vorstellen, dass sie die Hirnreifung beeinflussen können. Das Gehirn ist ein Organ und steht in ständigem Austausch mit allen Organen.
Auch wenn es heute Systeme zur automatisierten Insulindosierung (AID-Systeme) gibt, die die Stoffwechseleinstellung erheblich erleichtern: Das wichtigste Hilfsmittel ist und bleibt bei Diabetes das Gehirn. Wir wissen heute, dass bei ADHS die Hirnreifung prinzipiell nicht anders verläuft als bei Menschen ohne ADHS, aber zeitlich verzögert. Die Ritualisierung, die Automatisierung gewisser Handlungen benötigt länger, braucht mehr Übungsrunden. Bei Diabetes sollte aber genau dies möglichst früh reif sein. So kommt es im Sinne eines Teufelskreises zu einer Verstärkung der ADHS-Symptome. ADHS, welches bei vielen Menschen nur unterschwellig vorhanden ist, tritt nun zutage und macht das Leben mit Diabetes umso schwerer.
Und wie man einem Menschen mit einer Sehstörung eine Brille verordnet, so benötigt ein ADHS-Patient zumindest für eine gewisse Zeit eine Brille, um seine Hirnzellen besser zu sortieren, um alle eintreffenden Reize besser filtern zu können, um alltägliche Tätigkeiten zu ritualisieren. Der Erfolg führt dann wiederum zu einer positiven Verstärkung der Entwicklung, zu Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein. Was man einmal gelernt hat, geht so schnell nicht wieder verloren. Eine medikamentöse Therapie ist meist nicht lebenslang notwendig bei ADHS.
Gerade beim sich noch entwickelnden jugendlichen Gehirn kann dies Folgen für das gesamte spätere Leben haben. Das Gefühl, etwas stets zu versuchen, aber nicht erfolgreich meistern zu können, führt zu einer fortdauernden Frustration. Der junge Mensch entwickelt ein geringes Selbstwertgefühl, verdrängt und resigniert und empfindet permanenten Stress. Ständige Frustrationen können im ungünstigen Fall sogar zu Depression, zu Aggression, zu Suchtmittelgebrauch oder sonstigen psychischen Störungen wie Bulimie oder Anorexie führen. Auch Übergewicht ist eine Substanzabhängigkeit, die Droge heißt in diesem Fall oft Zucker. Die Therapie solcher Störungen im jungen Erwachsenenalter ist deutlich schwieriger und oft langfristig erfolglos, da der Beginn stets in der Kindheit und Adoleszenz liegt. Deswegen sind eine frühe Diagnose und Therapie dringend erforderlich.
Wenn Eltern einen entsprechenden Verdacht haben, sollten sie den betreuenden Kinder-Jugend-Arzt darauf ansprechen. Bei einer chronischen Erkrankung wie Diabetes mellitus Typ 1 lohnt es sich oft, auch eine ADHS in Betracht zu ziehen, zumindest dann, wenn die Stoffwechselziele trotz ausreichenden Wissens über Diabetes nicht erreicht werden können, wiederholt Hypoglykämien oder Ketoazidosen, also Übersäuerungen des Körpers bei hohen Glukosewerten, auftreten oder bei Übergewicht ein Double-Diabetes vorliegt. Letzterer ist das gleichzeitige Vorliegen eines Typ-1- und eines Typ-2-Diabetes.
Selbstverständlich können auch Blutzuckerschwankungen zu Konzentrationsproblemen oder Impulsivität führen. Bestanden jedoch Auffälligkeiten bereits vor der Diabeteserkrankung oder liegen solche in der Familie (Eltern, Geschwister) vor, liegt wahrscheinlich eine psychische Erkrankung wie ADHS vor.
Nach diagnostischer Bestätigung einer ADHS sollte man nicht nur eine Psychotherapie beginnen, sondern begleitend zeitnah auch eine medikamentöse Therapie mit möglichst langwirksamen Stimulanzien erwägen. Die Idee, die Pubertät einfach auszusitzen, funktioniert bei Diabetes nicht. Es gibt keine Auszeit vom Diabetes, die Folgeerkrankungen sind möglicherweise irreversibel! Eine erfolgreiche Therapie der ADHS kann man bei Patienten mit Diabetes messen und zwar an der Verbesserung des Stoffwechsels, zum Beispiel am HbA1c oder am Glukoseverlauf (Time in Range).
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