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Die Glukosewerte kontinuierlich zu messen, hat viele Vorteile. Auch die Follower-Funktion, mit der Eltern die Glukosekurve ihres Kindes einsehen können, kann sinnvoll genutzt werden. Professor Karin Lange gibt dazu wertvolle Tipps – damit die „folgenden Eltern“ nicht übers Ziel hinausschießen und das Diabetesmanagement zu dominant wird.
Seit fast drei Jahren werden Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM-Systeme) bei Diabetes durch die Krankenkassen finanziert. Seitdem ist die Zahl der Nutzer sprunghaft gestiegen. Und das mit vielen guten Gründen: Kinder, Jugendliche und Eltern berichten, dass ihnen große Lasten abgenommen würden und sie sehr viel an Sicherheit dazu gewonnen hätten.
Nicht mehr so oft in die Finger stechen, die Hornhaut an den Kuppen verschwindet nach und nach. Man kann mit einem Blick kontrollieren, ob das wackelige Gefühl mit einer Hypo zu tun hat oder ob es schlicht die Aufregung vor einer Klassenarbeit ist. Nachts steigt das Gefühl von Sicherheit, wenn Eltern besonders bei jüngeren Kindern durch einen Alarm geweckt werden, bevor es zu einer Unterzuckerung kommt.
Vielen Eltern gelingt es so erstmals nach Jahren, wieder durchzuschlafen. Und selbst auf dem Spielplatz können Eltern ihre Vierjährigen unbeschwert toben lassen, ohne ständig ein Auge darauf zu haben, ob sich Anzeichen einer Hypoglykämie ankündigen.
Die Follower-Funktion des CGM-Systems zeigt Eltern auf deren Smartphone an, wie sich der Glukosewert des Kindes entwickelt. Und das ist nicht nur über ein paar Meter Entfernung möglich, sondern auch über Tausende von Kilometern.
Die Trendpfeile erlauben nicht nur einen Blick auf den aktuellen Glukosewert, das CGM-System zeigt auch, wie er sich in den letzten Stunden entwickelt hat und in welche Richtung es wahrscheinlich weitergehen wird. Auch diese Informationen können das Gefühl von Sicherheit stärken, sie können aber auch zusätzlich verunsichern.
Das ständige Auf und Ab der Glukosekurve, wiederholte Alarme wegen zu hoher oder zu niedriger Werte, wegen eines steilen Anstiegs oder Abfalls, bei fehlendem Kontakt zum Empfänger oder kurz vor Ende der Laufzeit des Senders, können nicht nur stören und „nerven“, sie können auch den Gewinn an Lebensqualität für alle Familienmitglieder erheblich reduzieren.
Schließlich müssen sich Eltern Gedanken dazu machen, wie sie die Follower-Funktion des Systems im Alltag sinnvoll nutzen können und wollen. Jeder kann sich wahrscheinlich lebhaft vorstellen, wie eine Dreizehnjährige (wie Leonie, siehe „Brief an Nadine“) reagieren würde, wenn die Eltern sie und ihren Diabetes über die Follower-Funktion des CGM-Systems überwachen. Pubertät ist schwierig, sie wird aber noch schwieriger, wenn man durch die besorgten Eltern fernüberwacht wird.
Der meiste Stress durch CGM-Systeme kann durch die menschliche Psyche erklärt werden. Es ist in unserem Erbgut verankert, dass wir auf Alarme sofort mit Stress reagieren und handeln (Alarmreaktion). Gerade zu Beginn der Sensornutzung fällt es fast allen Betroffenen und Eltern schwer, auf einen Hoch-Alarm beim Überschreiten der Grenze von 180 mg/dl (10 mmol/l) nach dem Frühstück nicht mit zusätzlich Insulin zu reagieren.
Erfahrene Nutzer kennen die Folgen zu häufiger, schneller Korrekturen: wiederholte Hypoglykämien und starke Schwankungen. Und auch bei Hypoglykämien kommt es immer wieder vor, dass viel zu viel Traubenzucker, Saft oder die weniger geeigneten Gummibärchen genommen werden, weil es nach der ersten Warnung noch einige Folgealarme in kurzen Abständen gibt.
Die Sensorunterstützte Pumpentherapie mit Hypo-Abschaltung der Insulingabe funktioniert besser, wenn die Abschaltung den Eltern und Kindern nicht gemeldet wird. Warum? Sobald Eltern und Kinder die Abschaltung durch ein Signal gemeldet wird, fangen sie an, etwas zu tun, es gibt zusätzlich Traubenzucker. Die Folge sind viel zu hohe Anstiege nach dem niedrigen Wert.
Diese menschlichen Reaktionen werden heute in den Schulungen zu CGM-Systemen angesprochen und hilfreiche Strategien zur Vermeidung von Überreaktionen vermittelt:
Diese Frage kann nur sehr individuell beantwortet werden. Dazu ein Beispiel: Eine Kollegin, die seit über 50 Jahren gut mit Typ-1-Diabetes lebt und nie eine schwere Hypo hatte, wurde von einer engagierten jungen Ärztin gefragt, wer die Follower ihrer CGM-Daten seien.
Die erfahrene Patientin, die die ersten zehn Jahre Diabetes in der Kindheit ohne Blutzuckerkontrollen erlebt hatte und heute noch jede Hypo frühzeitig spürt, hatte die Frage der Ärztin zunächst nicht verstanden. Sie fühlte sich ihr Leben lang sicher, hatte Respekt vor Hypos, aber keine Angst, und kam gar nicht auf die Idee, dass jemand anderes wegen ihres Diabetes nach ihr schauen müsste.
Heute bedeutet es für viele Eltern von Kleinkindern mit Typ-1-Diabetes eine enorme Entlastung und Sicherheit, wenn sie den Verlauf der Glukosewerte auf ihrem Smartphone verfolgen können. Wenn sie dabei gelassen bleiben, nur ab und zu kurz auf das Display schauen, nur handeln, wenn es wirklich nötig ist, und dem Kind sonst eine ganz normale Kindheit ermöglichen, dann trägt das CGM-System zu guter Lebensqualität der ganzen Familie bei.
Sehr besorgte Eltern schauen dagegen ständig auf die Glukosekurven, geben Insulin zur Korrektur, dann wieder zusätzliche Nahrung, um Hypos zu vermeiden und fühlen sich immer hilfloser. Das Kind gerät immer mehr in den Hintergrund, die Glukosewerte beherrschen die Familie. Durch die Follower-Funktion kommen die Eltern sogar dann nicht zur Ruhe, wenn das Kind im Kindergarten betreut wird.
Die Eltern rufen wiederholt im Kindergarten an, die anfangs engagierten Erzieherinnen reagieren zunehmend abweisend. Die ständige Angst der Eltern überträgt sich auf Kind und Betreuer. Die Eltern sind damit an einem Punkt, an dem der Wunsch nach noch mehr Sicherheit für das Kind in das Gegenteil umschlägt, die seelische Entwicklung und Gesundheit des Kindes wird ebenso beeinträchtigt wie die wichtige Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen. Hier sollten Eltern umdenken.
von Prof. Dr. Karin Lange
Diplom-Psychologin, Leiterin Medizinische Psychologie,
Medizinische Hochschule Hannover,
E-Mail: Lange.Karin@MH-Hannover.de
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2019; 11 (3) Seite 14-16
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