Diabulimie – wenn man selbst betroffen ist

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Diabulimie – wenn man selbst betroffen ist

Ich schreibe hier meinen ersten Blogpost für die Blood Sugar Lounge und starte direkt mit einem meiner Meinung nach ziemlich ernsten Thema: Diabulimie – eine Kombination aus Diabetes und Bulimie also.

Ich selbst war betroffen. Oder sage ich besser: Ich bin betroffen? Von einer psychischen Krankheit ist man ja nie so wirklich ganz und 100%ig geheilt.

Der Beginn der Diabulimie

Im Jahr 2000, also vor 18 Jahren und mit einem Alter von knapp neun Jahren, bekam ich Diabetes.

Zehn Jahre später, also mit Beginn meiner Volljährigkeit, zog ich zu Hause aus. Ich wohnte immer noch im selben Ort wie meine Mama, ihr Lebensgefährte und dessen jüngere Tochter. Ich hatte regelmäßig und viel Kontakt zu meiner Mama, weil sie schon immer meine Bezugsperson und meine beste Freundin ist.

Zu dieser Zeit hatte ich auch ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Das war auch ärztlich bestätigt und nicht nur meine eigene Ansicht. Laut BMI lag ich im leichten Übergewicht und brachte 83 kg bei 1,64 m Köpergröße auf die Waage. Wohl gefühlt habe ich mich nicht, aber ich liebte es, zu essen.

In meiner kleinen, eigenen Wohnung habe ich mich sicher gefühlt. Da hat keiner gefragt, ob ich gemessen, mein Essen berechnet und dafür gespritzt habe. Ich habe immer mehr Insulindosen ausgelassen, vor allem das Basalinsulin. Zunächst aber unbewusst! Für Diabetes war einfach keine Zeit, ich war in der Oberstufe am Gymnasium, jobbte nebenbei an der Tankstelle, wollte meinen Freunden und meiner Familie gerecht werden und hatte auch noch einige Babysitter- und Tageskinder. Die Priorität lag ganz klar woanders: arbeiten. Fleißig sein. Lob bekommen.

Als ich immer mehr an Gewicht verlor und dafür einige Komplimente erntete, war mir bewusst, dass das am Weglassen des Insulins lag. Klingt ja auch logisch: Insulin ist der Schlüssel zu den Zellen, der die Nahrung in die Zellen bringt. Spritzt man kein Insulin, schwimmt die Nahrung im Blut rum. Klar, die Folge waren enorm hohe Blutzuckerwerte, aber dafür war ja sowieso keine Zeit da.

Funktionieren, trotz Krankheit

Ich wurde im Laufe der Monate und ja, sogar im Laufe der Jahre, immer schwacher. Meine Werte lagen bei 500-600 mg/dl (27,8-33,3 mmol/l). Mein HbA1c-Wert weit über 10%. Aber das war alles zweitrangig. Ich funktionierte. Quasi wie eine Maschine. Immer weiter. Die Komplimente wurden irgendwann weniger, man machte sich in meinem Umfeld Sorgen: „Kind, du musst was essen, du bist ja nur noch Haut und Knochen!“ oder: „Lesley, du kannst nicht mit uns in die Stadt shoppen gehen, du brichst uns ja zusammen!“ waren Aussagen, die ich nicht nur einmal hörte.

Quelle: privat

So oft habe ich mir gesagt: „Ab Montag kümmerst du dich wieder um den Diabetes, Montag ist doch ein guter Tag, wieder mit neuer Motivation anzufangen!“ – ihr glaubt nicht, wie viele solcher Montage es gab, vergebens…

Therapie-Versuche

Einen Menschen kann man nicht zwangstherapieren. Ich nutze immer gern das Beispiel mit einem gebrochenen Bein, welches man eingipsen kann. Dann ist es ruhiggestellt und kann heilen. Einen Menschen, der in der Therapiestunde sitzt, nicht redet, sein Verhalten nicht ändern will, den kann man nun mal nicht zwingen. Genau so war es bei mir. Ich hatte inzwischen meine Schule abbrechen müssen, lag immer mal wieder im Krankenhaus, um künstlich über die Vene ernährt zu werden, oder schlief erschöpft und kraftlos tagelang bei Mama auf der Couch.

Mein großes Ziel, das Abitur, habe ich vermasselt. Ich fühlte mich nun nicht nur schwach und erschöpft, sondern wie der größte Versager. Mein ganzes Leben habe ich immer auf mein Abitur hingearbeitet. Und jetzt das…

Nach einiger Zeit fasste ich neuen Mut und meldete mich für eine Ausbildung an, die ich dann mit voller neuer Kraft beginnen wollte. Naja, so viel Kraft, wie man eben mit 45 kg und weiteren hohen Blutzuckerwerten hatte. Aber ich war bereit, motiviert und wollte es. Meine Ausbildung zur Erzieherin meisterte ich nicht lang. Im ersten Halbjahr habe ich mich durchgeschleppt, oft im Unterricht geschlafen, immer wieder auf der Schultoilette erbrochen und hing schlapp und kaum anwesend im Unterricht. Den Nebenjob an der Tankstelle kündigte ich natürlich nicht, ich wollte ja weiter funktionieren.

Letztendlich war es mein damaliger Englischlehrer in der Ausbildung, der mit mir immer und immer wieder das Gespräch suchte und tatsächlich auch zur ersten Therapiestunde gegangen ist.

Die ambulante Therapie startete zeitnah, aber war alles andere als erfolgreich. Ich war einfach nicht bereit, etwas zu ändern. Ich wollte zwar an dem Schwach und Erschöpft etwas ändern, aber nicht an dem Nicht-Spritzen. Ich hatte so schreckliche Angst, wieder dick zu werden! Und wenn ich wieder auf den Diabetes aufpasse, dann werde ich ja dick…

Die Therapie habe ich irgendwann abgebrochen, genauso wie weitere ambulante und auch stationäre Versuche.

Mein niedrigstes Gewicht lag damals bei 36 kg. Ich weiß bis heute nicht, wie ich noch stehen und überhaupt überleben konnte. Von Leben konnte man ja nicht mehr sprechen, es war ausschließlich ein Überleben.

Folgeschäden – „und trotzdem machte ich weiter“

Sämtliche Folgeerscheinungen, und da gibt es einige, haben mich nicht wachgerüttelt. Ich war wie in Trance, konnte einfach nicht anders. Es war wie eine Droge, ich wollte und konnte nicht aufhören. Meine Augen wurden aufgrund von Rissen auf der Netzhaut zweimal gelasert, meine linke Niere wurde entfernt, ich konnte meine Blase nicht mehr eigenständig entleeren, mein Magen-Darm-Trakt hat kein Essen mehr vertragen und meine Haut sowie Haare und Nägel waren dünn und schmerzten. Und trotzdem machte ich weiter. Meine Familie und ein großer Teil meiner Freunde wendeten sich ab, nur meine Mama ist tagtäglich an meiner Seite geblieben. Und trotzdem machte ich weiter.

Es war ein Kreislauf, aus dem ich nicht mehr rauskam, oder wollte. Immer wieder missglückte Therapien, Krankenhausaufenthalte mit künstlicher Ernährung, der Versuch, zu Hause zur Vernunft zu kommen…

Was mich letztendlich aus dem Ganzen rausgeholt hat, kann ich pauschal nicht sagen. Es waren sicher viele kleine Dinge. Zum einen habe ich einen neuen Ausbildungsplatz bekommen, ich durfte meine Ausbildung zur Automobilkauffrau beginnen, welche mir ganz sicher auch bei der Genesung geholfen hat. Meine Schwester erzählte mir, dass sie ein Baby erwartet, und für mich war klar: Ich muss fit werden! Der kleine Wurm braucht ja eine Tante. Und meine Mama war am Ende ihrer Kräfte, jetzt musste ich mal für sie da sein.

Alles auf Anfang

Es war ein langer Weg zurück in ein normaleres Leben, ich habe dann wieder eine ambulante Therapie gestartet, aber diesmal mit Mut und der Willensstärke, es durchzuziehen und gesund zu werden, und habe diese dann letztes Jahr im März erfolgreich beendet. Zusätzlich habe ich meinen Diabetologen gewechselt, weil ich einfach nochmal neu starten wollte.

Momentan läuft es ganz o.k., nicht gut, aber in Ordnung. Ich merke, dass ich oft in alte Muster zurückfalle, was aber kein Drama ist! Warum? Weil ich es erkenne und daran arbeite, mir Hilfe suche und es offen zugebe, dass es gerade so ist. Nur so kann man mir helfen – und vor allem: nur so kann ich mir helfen!

Und wisst ihr, was noch anders ist? Ich habe meine Freunde wieder! Einige alte und einige neue, aber ich habe Freunde, mit denen ich Dinge unternehme. Meine Familie ist wieder so eng zusammengewachsen, inzwischen habe ich zwei Neffen und verbringe so unendlich gern Zeit mit ihnen. Ich habe einen Job, ich habe eine wieder starke Mama, eine tolle Wohnung im schönen Mainz, ich gehe zum Sport, fahre mein Traumauto, hab KEINE Nebenjobs mehr, ich kann wieder mit Freude und Lust essen und… mache seit 6. August mein Abitur an der Abendschule nach. Könnt ihr euch vorstellen, dass ich stolz und glücklich bin? Bestimmt! 🙂


Über das Thema Diabulimie hat Lesley-Ann auch bei unserem #Sofatalk in Saarbrücken geredet: „Wissen was bei Diabetes zählt: Gesünder unter 7 PLUS“ – Diabetes-Aufklärung beim #Sofatalk

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