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Eine hühnereigroße Kartoffel enthält etwa zehn Gramm Kohlenhydrate und damit eine KE, eine Scheibe Schwarzbrot etwa zwei KE. Zwei Esslöffel gekochter Reis entsprechen einer KE, ebenso wie eine halbe Banane. Mit solchen Faustformeln wurde ich – wie vermutlich jeder insulinpflichtige Diabetiker – vor knapp fünf Jahren aus meiner Schulung entlassen und stehe seither mehrmals täglich vor der Herausforderung, den Kohlenhydratanteil meines Essens korrekt abzuschätzen, damit ich die richtige Dosis Insulin spritzen kann.
Das finde ich nicht immer leicht – und damit bin ich nicht allein. Wie die Ingenieurin und Forscherin Dr. Stavroula Mougiakakou beim Diabetes Mediendialog des Unternehmens Roche Diagnostics am 13. März 2015 auf Schloss Hohenkammer berichtete, fällt es auch erfahrenen und gut geschulten Diabetikern häufig schwer, die Kohlenhydratmenge richtig zu schätzen: „Ein Verschätzen um plus-minus zehn Gramm Kohlenhydrate hat zwar nur geringen Einfluss auf die Blutzuckerwerte nach dem Essen, doch bei plus-minus 20 Gramm Kohlenhydrate verändern sich die postprandialen Blutzuckerwerte signifikant.“ Und das passiert Diabetikern eben ziemlich häufig. Mougiakakou und ihre Forscherkollegen von der Diabetes Technology Research Group an der Universität Bern glauben deshalb, dass künstliche Intelligenz das Leben mit Diabetes in diesem Punkt erleichtern sollte. Sie haben gemeinsam mit 25 weiteren internationalen Forschungsgruppen das Projekt GoCarb ins Leben gerufen.
„Wir wollen ein Tool entwickeln, das automatisch und nahezu in Echtzeit den Kohlenhydratgehalt einer Mahlzeit berechnet“, sagte Mougiakakou vor rund 40 Fachjournalisten und Diabetes-Bloggern. Herausgekommen ist ein Prototyp, der mittlerweile seine ersten Alltagstests bestanden hat. Ziel ist es, aus GoCarb eine Smartphone-App für den Massenmarkt zu entwickeln. Mit GoCarb können insulinpflichtige Diabetiker zunächst einmal ihr Essen fotografieren. Die Anwendung verbindet sich dann mit einer webbasierten Datenbank, in der viele Fotos von ähnlichen gemischten Mahlzeiten gespeichert sind. Durch den Datenbankabgleich erkennt das System die Nahrungsbestandteile auf dem aktuellen Foto und berechnet durch 3D-Rekonstruktion ihre Menge. Auf Knopfdruck spuckt das System dann die berechnete Kohlenhydratmenge aus, anhand derer der Diabetiker seinen Insulinbolus berechnen kann. In ersten Studien in Bern war der Prototyp bereits erfolgreich: Die Trefferquote von GoCarb war mit gut 80 Prozent ziemlich hoch, während die „Selbstschätzer“ der Kontrollgruppe mit nur knapp 59 Prozent eine recht schlechte Trefferquote erzielten.
Klingt erst einmal toll – doch wie fast immer im Leben steckt der Teufel natürlich im Detail. Einige dieser Details gab die Forscherin Mougiakakou selbst unumwunden zu: „Das System ist noch recht langsam, und der Abgleich mit der webbasierten Datenbank ist auch von einer stabilen WiFi-Verbindung abhängig.“ Bei einer guten WiFi-Verbindung braucht der GoCarb-Prototyp derzeit 14 Sekunden, um den Kohlenhydratgehalt einer fotografierten Mahlzeit zu berechnen. Zählt doch in Gedanken einmal langsam bis 14 – das wäre in meinem Augen sogar eine vertretbare Wartezeit. Das Hauptproblem liegt aber in der Bilddatenbank: Derzeit sind darin rund 3800 Bilder von gemischten Mahlzeiten gespeichert, in Klassen unterteilt und mit den entsprechenden Nährwertangaben versehen. Das sind noch viel zu wenige Referenzdaten, um jedes fotografierte Essen einer bereits ausgewerteten Mahlzeit zuordnen zu können.
Außerdem setzt GoCarb zwingend voraus, dass die Bestandteile der Mahlzeit ordentlich nebeneinander auf dem Teller angeordnet sind und nicht etwa aufeinandergeschichtet werden. Logisch: Wenn ich eine Lasagne von oben fotografiere, sehe ich nur eine Schicht Käse und habe keine Ahnung, wie viele Nudelplatten sich darunter verbergen. Ordentlich portionierte Essen kommen einem in der Mensa oder Betriebskantine sicherlich häufiger mal vor die Linse – doch bei mir zu Hause ist das eher der Ausnahmefall. Ich esse gern Quiches und andere Aufläufe, türme aus verschiedensten Gemüsesorten Salate auf und dekoriere sie mal mit Hülsenfrüchten, mal mit Käse, mal mit Putenbruststreifen, mal mit Apfelspalten. Ich koche gern orientalische Gerichte wie zum Beispiel das persische Essen „Shirin Polo“, bei dem der Reis schon im Topf mit verschiedenen anderen Zutaten vermengt wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass GoCarb an meinen Essgewohnheiten grandios scheitern würde und bleibe deshalb erstmal skeptisch.
Meine Zweifel beruhen auch auf einer weiteren Überlegung: Selbst wenn die Einzelbestandteile ordentlich sortiert auf dem Teller liegen, kann GoCarb nur die Oberfläche und nicht die genaue Zusammensetzung erahnen. Ich denke da an eine Situation, die ich relativ kurze Zeit nach meiner Diagnose in einem Saunabad erlebt habe. Zwischen Schwimmen und Saunagängen gönnten mein Mann und ich uns eine Portion Waffeln mit heißen Kirschen. Ich spritzte für beides so viel Insulin, wie ich auch für hausgemachte Waffeln und Kirschen berechnet hätte – und das war leider viel zu wenig. Denn während ich zu Hause viele Eier und wenig Mehl in den Waffelteig menge und heiße Kirschen auch nicht mit Mondamin und großen Mengen Zucker andicke, verwendete man in der Küche des Saunabades mehr von den billigen Zutaten (sprich: Mehl, Stärke und Zucker) und weniger von den teuren Zutaten (also Eier und Früchte). Optisch wäre der Unterschied zwischen meinen hausgemachten Waffeln und der Saunabad-Variante sicher nicht sehr groß gewesen – doch der Unterschied im Kohlenhydratgehalt war gigantisch. Mein Blutzucker schoss auf einen Wert von über 350 mg/dl (19,4 mmol/l) und musste mühsam herunterkorrigiert werden. Ich fürchte, vor diesem Desaster hätte mich auch GoCarb nicht bewahren können.
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