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Im Vollrausch kann ich mich ziemlich bescheuert aufführen. Wie bescheuert, das wissen am besten mein Mann Christoph und meine Schwester Caro, denn ich kann mich absolut nicht erinnern, was genau gegen Ende von Caros Geburtstagsparty wirklich vorgefallen ist.
Es ist nun zwei oder drei Jahre her, dass meine Schwester Caro in Münster ihren Geburtstag mit einer großen Party feierte. Sie hatte extra eine Location mit Tresen, großer Tanzfläche und DJ-Pult angemietet und viele Leute eingeladen – darunter meinen Mann Christoph und mich. Wir quatschten, lernten Menschen kennen, belagerten die Tanzfläche, wie das auf Partys eben so ist.
Und wie das auf Partys halt ebenfalls so ist, gab es Unmengen Alkohol. Nicht nur Bier, Wein und Sekt, sondern auch Longdrinks. Ich fand Gefallen an Gin Tonic und gab meinem Mann irgendwann den nicht ganz ernst gemeinten Rat, er möge bitte darauf achten, dass mein Glas niemals leer ist. Was er dann dummerweise ziemlich wörtlich nahm.
Wer keine Zeit oder Lust hat weiterzulesen, der möge bitte nur den Ratschlag mitnehmen, dass es keine gute Idee ist, Gin Tonic gegen den Durst zu trinken. Ich hatte jedenfalls ziemlich viel und ziemlich oft Durst, weil ich so viel tanzte – und immer wartete ein volles Glas Gin Tonic auf mich, wenn ich kurz eine Pause einlegte und mich zu den anderen gesellte.
Irgendwann funktionierte das leider nicht mehr so gut, und ab genau da fehlt mir jegliche Erinnerung an den weiteren Verlauf des Abends. Ich übergebe daher das Wort an meine Schwester Caro, die mit ein paar Promille weniger Zeugin meines Verhaltens wurde.
Caro also erzählt:
„Du warst sehr betrunken. Christoph sprach mich irgendwann darauf an, dass wir dich unbedingt dazu bringen müssen, deinen Zucker zu messen, denn das war überfällig. Wir versuchten dann gefühlt zwei, drei Stunden lang, dich davon zu überzeugen, aber du hast dich gegen das Messen gewehrt. Du wolltest einfach tanzen und Spaß haben, die Party und den Moment genießen. Du hast es abgetan, dass wir uns Sorgen machten.
Es hat mir wahnsinnige Sorgen bereitet, dass du diese Kontrolle so lange verweigert hast. Denn ob du tatsächlich in einem kritischen Bereich warst, konnte ich als Laie erst einmal gar nicht einschätzen. Als du endlich deinen Zucker gemessen und die Zahl, den Wert gesehen hast, ist irgendetwas mit dir passiert. Ich hatte das Gefühl, dass du in dem Moment von deiner Gefühlsebene wieder auf eine rationale Ebene gerutscht bist – so gut das halt mit all dem Alkohol ging.
Ich vermute, dass du genau deshalb so lange nicht messen wolltest. Du hattest ein ganz starkes Bedürfnis, auf einer Party einfach nur Antje sein zu können, zu tanzen und zu saufen und nicht darüber nachdenken zu müssen, was dein Zucker gerade macht. Als du nach dem Messen begonnen hast zu reflektieren, was das alles bedeutet, hattest du einen kleinen Breakdown, da ging es dir ziemlich schlecht.
Wir saßen vor dem Partyraum auf der Treppe und du sagtest immer wieder Dinge wie ‚Was soll die ganze Scheiße, ich werde doch eh blind, das lässt sich doch gar nicht verhindern, ich werde ohnehin früh sterben!‘ Es war für mich das erste Mal, dass ich eine so extreme Situation live mitbekam. Ich habe Christoph da als sehr stark empfunden: Der gar nicht so viel gesagt hat, sondern einfach nur da war, wie ein Fels.
Es war toll, wie er dich stützte und dich dann auch wieder beruhigen konnte. Ich hatte das Gefühl, dass du in diesem Moment ganz tiefe, tiefe Ängste äußerst, die im Alltag bei all deinem Wissen und bei deinem sehr guten Umgang mit deiner Erkrankung nicht an die Oberfläche kommen. Dass du offenbar Momente hast, in denen all dieses Wissen nichts nützt, in denen einfach Angst und Schmerz vorherrschen. In denen alles, was im Kopf ist, nichts taugt und nur noch das da ist, was im Herzen Angst macht.
Es war erschreckend für mich zu sehen, wie viel Angst dir der Diabetes macht. Und es war auch krass zu erleben, was für eine Veränderung eine Zahl, eine Scheißzahl auf einem Display, bewirken kann. Ein Messwert, der komplett verändert, wie man als Nächstes agiert und reagiert. Das war ein Moment, in dem ich tiefer verstanden habe, wie dauerhaft und penetrant der Diabetes wirklich ist. Ich hatte nach deiner Diagnose zwar schon auf verschiedenen Portalen gegoogelt – aber was ich mir anlese oder an dir beobachte, ist natürlich überhaupt nicht vergleichbar damit, wie du jeden Tag von morgens beim Aufwachen bis abends vor dem Schlafengehen mit deinem Diabetes konfrontiert bist.
Der Vorfall bei der Party hat mich lange beschäftigt und dazu geführt, dass ich noch eine Menge mehr gelesen habe über die langfristigen Auswirkungen von Diabetes. Und dass ich mich fragte, was ich als Schwester tun kann und ob ich in der Situation anders hätte reagieren sollen. So einschneidend die Situation für mich auch war, war sie dennoch auch ein bisschen befreiend.
Ich fand es schön, dass du dieses Gefühl von Rebellion hattest, nicht alles an deinem Diabetes ausrichten zu wollen. Mir hat das eine Zerrissenheit deutlich gemacht, die ich mir nur schwer vorstellen kann als ein Mensch, der keinen Diabetes hat. Denn vorher habe ich dich vom Moment deiner Diagnose an als so ungeheuer kompetent, routiniert und sicher im Umgang mit deinem Diabetes empfunden.
Natürlich liegt es auch an deiner Vorbildung, deiner Intelligenz und deinem Zugang zu Informationen, dass du es von Anfang an ziemlich gut hinbekommen hast. Aber weil du meine große Schwester bist, die ich unter anderem für ihre Intelligenz, Durchsetzungskraft und Resilienz in so vielen Lebenssituationen bewundere, war es krass, dich in einer Situation ganz schwach zu erleben.“
Was meinen Zuckerverlauf angeht, klärte sich erst am nächsten Tag auf, was an jenem Abend auf der Party passiert war. Als ich nämlich den Verlauf der Werte in meinem Blutzuckermessgerät anschaute, stellte ich fest, dass ich in jenem verzweifelten Moment auf der Treppe einen Blutzuckerwert von über 300 mg/dl (16,7 mmol/l) gemessen hatte.
Als Verantwortlichen für den hohen Wert identifizierte ich (nun wieder mit verkatertem, aber nüchternem Kopf) das süße Tonic Water aus meinen zahllosen Longdrinks. So viel Zucker hatte ich offenbar nicht wegtanzen können. Kurz vor dem Schlafengehen am frühen Morgen hatte ich dann noch einen viel zu niedrigen Wert um die 60 mg/dl (3,3 mmol/l) gemessen. Der Schuldige hierfür war aller Wahrscheinlichkeit nach der Gin aus den Longdrinks.
Über alles Weitere sprach ich mit Caro erst Monate später – sie hatte sich zuvor nicht getraut, mich darauf anzusprechen. Eher zufällig erwähnte sie in einem Telefonat meine Ängste, wegen des Diabetes zwangsläufig zu erblinden. Meine Reaktion: „Was redest du denn da für einen Quatsch? Wenn ich meinen Diabetes gut manage – und das mache ich – stehen die Chancen ziemlich gut, dass mir solche Folgeschäden erspart bleiben!“
Erst da erzählte sie mir, wie sie meinen Absturz auf der Party erlebt hatte und dass sie meine düsteren Prophezeiungen tatsächlich eine Weile für bare Münze genommen und mir geglaubt hatte, dass schwere Folgeschäden unausweichlich sind. Das traf mich ziemlich hart, denn schließlich möchte ich nicht, dass meine Liebsten meinetwegen schlaflose Nächte haben – vor allem, weil sie so wunderbar zu mir halten, mich stützen und sich so große Mühe geben, sich in meine Lage zu versetzen.
Wenn ich euch also ein paar Gedanken mit auf den Weg geben darf, dann diese: 1. Bekämpft euren Durst nicht mit Gin Tonic. 2. Wenn ihr abstürzt, habt ihr hoffentlich auch Menschen um euch, die euch auffangen. 3. Fragt eure Lieben, ob ihr im Suff vielleicht beunruhigende Dinge gesagt habt, denn vieles lässt sich mit klarem Kopf ja rasch wieder zurechtrücken. 4. Wenn jemand seinen Diabetes überwiegend gut im Griff hat, heißt das noch lange nicht, dass er keine Angst vor ihm hat und ihm nicht auch mal mit aller Kraft entfliehen möchte.
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