Lebensecht: Loslaufen statt wegrennen

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Lebensecht: Loslaufen statt wegrennen

Georg Schnell ist gern unterwegs und erkundet die Welt, am liebsten zu Fuß oder mit dem Rad. Als er im Urlaub erfährt, dass er Diabetes hat, stellt er sich der neuen Situation und probiert aus: Was geht noch? Die Antwort ist schnell klar: Alles!

Raus aus dem Hamsterrad. Neue Eindrücke sammeln. Zeit für das Buch, was man schon lange lesen wollte. Den Kopf mal wieder richtig frei kriegen. So der Plan von Georg Schnell, als er mit seiner Familie nach Korsika aufbrach. Auf diese drei Wochen hatten sich alle gefreut. Von Tagmersheim aus, einer kleinen Gemeinde zwischen Augsburg und Nürnberg, waren mit dem Auto Zwischenstopps in Innsbruck und am Gardasee geplant. Am Ende kam alles ein bisschen anders: Der Gardasee musste von der Reiseroute gestrichen werden, aus einem Tag in Innsbruck wurden fünf und Amos Oz’ Geschichte von Liebe und Finsternis wich verschiedenen Diabetes-Ratgebern und -Kochbüchern.

Foto: privat

Die Symptome hatte Georg Schnell schon einige Wochen zuvor bemerkt. Ständig musste er aufs Klo, hatte Durst und er nahm immer mehr ab. Er schob es auf den beruflichen Stress. “Im Urlaub gibt sich das wieder”, war er sich sicher. Als er an der Tankstelle den Preis-Aushang nicht mehr richtig lesen konnte und die Fahrt immer wieder von Toiletten-Pausen unterbrochen werden musste, drängte seine Frau darauf, etwas zu unternehmen. Sie googelte und kam zum Schluss: Es könnte Diabetes sein. Ein Blutzucker-Test in der Apotheke ergab die Zahl 700. “Was heißt das?”, fragte Georg Schnell. “Notaufnahme”, antwortete die Apotheken-Angestellte.

Ausprobieren und experimentieren

Nach fünf Tagen im Uniklinikum Innsbruck entließ sich Georg Schnell selbst. Eins stand für ihn fest, den Urlaub wollte er sich nicht nehmen lassen. Im Nachhinein war das genau die richtige Entscheidung. Auf Korsika hatte er den Freiraum, den er brauchte, um sich mit dem Diabetes auseinanderzusetzen. Er las, recherchierte im Internet, probierte Rezepte aus und nutzte die Zeit, den Alltag mit dem Diabetes zu erleben.

Wie ändert sich der Blutzucker, wenn ich eine Viertelstunde im Meer schwimme und schnorchele? Sind die Werte in der Frühe beim Wandern so wie am Mittag oder am Abend? Wie schlagen Brot-Einheiten zu unterschiedlichen Zeiten an? In kurzen Intervallen testete er den Blutzucker, damals noch per Piks, und notierte die Werte, um seinen Diabetes so gut wie möglich zu verstehen. Er stellte fest: Radtouren, Wandern, Städtetrips – all das geht noch gut, auch mit dem Diabetes. “Das war die erfreulichste Erkenntnis des Urlaubs”, sagt er.

Das war 2017. Gehadert mit der Diagnose habe Georg Schnell nie, dafür sei er nicht der Typ, berichtet er. “Viele Menschen tragen einen Rucksack und das ist jetzt eben meiner. Ich bin dankbar, dass ich in einer Zeit lebe, in der man mit der Krankheit sehr gut leben kann, und in einem Land zu Hause bin, in dem es ein funktionierendes Gesundheitssystem gibt”, so Schnell.

An der Krise wachsen

Dennoch machte er sich anfangs Sorgen darüber, wie der Diabetes von anderen wahrgenommen werden könnte. Zu dieser Zeit war er amtierender Bürgermeister. “Ich fürchtete, dass es Zweifel von außen geben könnte, ob ich noch in der Lage wäre, mein Amt auszuüben”, so Georg Schnell.

Besuche zu Geburtstagen und Jubilaren habe er bewusst vormittags angetreten. Denn da gab es meist Weißwürste und Semmeln, bei denen er einschätzen konnte, wie sie auf den Blutzucker wirken. “Torten sind für mich unberechenbar. Wenn jemand zu mir sagte ‚Sie müssen doch die gute Schwarzwälder von meiner Frau probieren‘, war es schwierig, das abzulehnen”, erzählt er. Nach eineinhalb Jahren habe er seinen Diabetes schließlich öffentlich gemacht. “Meine Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Ich bin auf viel Verständnis und Neugierde gestoßen.”

Einmal habe sich ihm auf einer Feier eine Frau im Gespräch anvertraut. Ihr Ehemann lebe nun schon zehn Jahre mit Diabetes und habe die Diagnose immer noch nicht überwunden. So etwas bestürzt Georg Schnell. Für ihn steht fest: “Eine Krise kann immer beides sein. Man kann daran zerbrechen oder man wächst.” Er selbst habe die Diagnose als Herausforderung gesehen und nicht als Schicksalsschlag. “Ich bin auch psychisch stärker geworden”, sagt er.

Sicher unterwegs – nicht ängstlich

Heute ist Georg Schnell im Ruhestand und arbeitet nebenher in einer Einrichtung für benachteiligte Jugendliche, die er früher einmal leitete. Aber auch hier ist dieses Jahr Schluss. Am Haus und im Garten gibt es genug zu tun, und umso mehr Zeit hat er nun für seine große Leidenschaft, das Reisen. Neben dem Entdecken anderer Kulturen spornt ihn vor allem an, sich Ziele sportlich zu erlaufen oder zu erradeln. Einmal im Jahr geht es daher ins Hochgebirge auf bis zu 3000 Höhenmeter. Im Winter hält er sich mit dem Rudergerät und Ergometer fit. “Ich möchte so lange wie möglich gesundheitlich vital sein.”

Die Motivation, etwas für sich selbst zu tun, sei groß. “Auch, damit meine Angehörigen so lang wie möglich etwas von mir haben. Was am Ende herauskommt, habe ich nicht in der Hand, aber ich will meines dazu tun”, sagt Georg Schnell. Dafür hält er sein Diabetes-Management konsequent ein. Er wiegt noch viele Mahlzeiten, das sei Routine. Die Werte seines Glukose-Sensors hat er immer im Auge, gerade auf Reisen. Mit dem Diabetes sei gute Planung noch wichtiger geworden. Mehr als einen Ersatz-Sensor packe er aber nicht ein. Er sei kein ängstlicher Mensch und schließlich solle der Rucksack unter zehn Kilo wiegen.

In einigen Tagen geht es für Georg Schnell auf die zweite Etappe des Franziskuswegs, von Assisi nach Rom, rund 280 Kilometer in 15 Tagen. Trotzdem betont er: “Ich bin kein Ausnahme-Mensch oder Extremsportler.” Andere möchte er mit seiner Geschichte ermutigen: “Lasst euch vom Diabetes nicht ins Bockshorn jagen. Man kann gut mit ihm leben.”


von Verena Schweitzer

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2024; 72 (6) Seite 40-41

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 2 Wochen, 3 Tagen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

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    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen, 4 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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