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30 Jahre würde sie nur alt werden, sagten die Ärzte damals. Nun ist Grit Ott 73 Jahre alt, hat seit 65 Jahren Typ-1-Diabetes und lebt bis heute ein ereignisreiches Leben. Sie hat viel ausprobiert, ist viel gereist, hat drei Bücher geschrieben. Dabei musste sie auch immer wieder Schwierigkeiten überwinden, Operationen überstehen, sich Herausforderungen stellen. Wie war es für sie, mit Diabetes aufzuwachsen, im Lauf der Zeit immer mutiger zu werden – und welche Rolle spielt positives Denken für sie?
Normalerweise würde ich an dieser Stelle nicht kundtun, dass ich kürzlich 73 Jahre alt geworden bin – ein Alter, welches eine Frau ja nicht mehr so gern freiwillig herumerzählt und allein von der Zahl her eher „langweilig“ ist … Aber etwas ist daran schon erwähnenswert: Ich habe jetzt somit auch seit 65 Jahren Diabetes! Denn genau an meinem 8. Geburtstag war ich mit einem Blutzuckerwert von 860 mg/dl (47,8 mmol/l) im Kinderspital gelandet – und bekam die Diagnose Typ-1-Diabetes.
Wenn ich daran denke, wie schwierig es zum damaligen Zeitpunkt war, ein „schwer zuckerkrankes“ Kind zu sein, überkommt mich jetzt noch Gänsehaut: keine Schulung, dafür eine rigide Diät mit sechs genau abgewogenen und penibel festgelegten Mahlzeiten. Glasspritzen, die immer ausgekocht werden mussten – mit Kanülen so lang wie mein kleiner Finger. Die Spitzen bildeten nach längerem Gebrauch „Widerhaken“, die dann mit einer Nagelfeile wieder abgeschliffen wurden …
Die Einstellung erfolgte nur mit Depot-Insulin einmal morgens, und es gab zwar alle vier Wochen ein Blutzucker-Tagesprofil – aber die Ergebnisse dieser vier Messungen bekam man erst ein paar Tage später. Die meist viel zu hohen Werte waren oftmals das Ergebnis von heimlichen Naschereien.
Meine alleinerziehende Mutter war ziemlich überfordert und hatte mir aus der Angst heraus, etwas falsch zu machen, sämtliche spaßbringenden Aktivitäten einfach verboten. Der einzige Lichtblick waren immer die Ferienlager des Deutschen Diabetiker Bundes (DDB), in denen ich all das nachholen konnte, was mir bis dahin versagt geblieben war: Ich habe dort nicht nur Schwimmen und Fahrradfahren gelernt, sondern bin mit den anderen „Zuckersüßen“ begeistert im Wald umhergetobt!
Als Teenager war es allerdings auch nicht viel angenehmer, mit einer Krankheit durchs Leben zu laufen, die ich in keiner Weise akzeptiert hatte und der ich deshalb nur mit Verdrängung, Heimlichkeiten und Ausreden begegnen konnte. Bekräftigt wurde diese Einstellung noch durch die damals geltende Aussage von Ärzten, dass diabetische Kinder höchstens eine Lebenserwartung von etwa 30 Jahren hätten – und diese Zeit wollte ich mir keinesfalls durch permanente Einschränkungen und Verbote versauern lassen.
Das hatte natürlich auch zur Folge, dass ich sehr oft entweder mit astronomisch hohen oder auch viel zu tiefen Werten bewusstlos in der Klinik gelandet bin und ständig ein schlechtes Gewissen hatte! Trotz alledem wurde ich im Lauf der Zeit viel selbstsicherer und auch mutiger, denn ich bin Menschen begegnet, von denen ich trotz der Krankheit akzeptiert wurde – die mir die Liebe zur Natur und zum Reisen nahebrachten und somit meine Abenteuerlust weckten.
Als ich dann 30 war und es mir bis auf eine erfolgreich gelaserte erste Augenblutung immer noch gut ging, wurde mir klar, dass sich die Ärzte geirrt haben mussten … Diese Erkenntnis war für mich sozusagen „bahnbrechend“, denn ich war plötzlich hochmotiviert, mich um meinen Diabetes zu kümmern. Ich wurde im DDB Jugendreferentin, gründete wenig später mit ein paar Leuten die bundesweite „Insuliner“-Selbsthilfegruppe und war in Berlin eine der ersten, die eine H-Tron-Insulinpumpe bekamen.
Die folgenden 20 Jahre waren mit aufregenden Ereignissen ausgefüllt: Ich bereiste per Autostopp ganz Europa und Nordafrika, war in Indien, schrieb meine ersten beiden Bücher und hatte unzählige Lesungen sowie Irish-Folk-Auftritte in verschiedenen Städten. Bei meinen Tramp-Reisen war ich noch mit diesen unseligen Glasspritzen unterwegs und konnte meinen Blutzucker lediglich mit Messstreifen testen; das Ergebnis wurde nach 2 Minuten ungefähr anhand der Farbe abgelesen.
Doch ab 1982 war das Leben mit der Insulinpumpe und den schon ziemlich handlichen Blutzuckermessgeräten viel einfacher. Ich war bestens geschult und musste mich nach keinem starren Diätplan mehr richten. Ich testete brav vor und nach den Mahlzeiten und konnte somit schlechte Werte gleich per Knopfdruck auf der Insulinpumpe wieder korrigieren.
Es gab allerdings auch einige sehr unschöne Gegebenheiten, z. B. ein malignes Melanom (schwarzer Hautkrebs) am rechten Handgelenk, bei dem es wahrscheinlich einige Wochen später für eine Operation zu spät gewesen wäre … Auch die Herz-Operation kurz nach meinem 50. Geburtstag wäre um ein Haar schiefgegangen – doch die Reanimation war, wie man sieht, erfolgreich, und ich bin mit den drei Bypässen bereits ein Vierteljahr später wieder voller Elan in den Bergen herumgeklettert!
Mit 60 Jahren wurde mir dann voll bewusst, wie dankbar ich eigentlich sein kann, bereits doppelt so alt zu sein, wie mir prophezeit worden war, – und dass es mir immer noch so gut geht. Deshalb habe ich mich damals entschlossen, dieser Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, indem ich den 800 km langen Jakobsweg quer durch Spanien laufe.
Das war eine sehr abenteuerliche Herausforderung, aus der dann auch mein drittes Buch entstanden ist. Doch diese Erfahrung hat mir ungeheuer gutgetan, und ich war richtig stolz darauf, so eine lange Strecke als Frau allein und trotz diverser körperlicher Beschwerden geschafft zu haben!
Inzwischen sind daraus mehr als 4000 km geworden – ich wandere seitdem im Jahr zweimal auf Pilgerwegen und konnte auch schon so manchen lieben Freund dafür begeistern, mich ein Stück zu begleiten. Zugegeben: Inzwischen laufe ich nicht mehr als 250 km an einem Stück, denn leider hat sich mein Rheuma verstärkt und auch die neuropathischen Schmerzen in den Füßen und Beinen sind manchmal äußerst heftig.
Trotzdem fühle ich mich unterwegs immer besser als zu Hause, es sind wahrscheinlich all diese tollen Eindrücke und wunderschönen Erlebnisse, die meine Schmerzen dann einfach in den Hintergrund schieben. Außerdem sind die Blutzuckerwerte durch die kontinuierliche Bewegung auch bei nur halber Basalrate meistens im grünen Bereich. Das Gleiche gilt für Blutdrucktabletten und Cholesterinsenker – davon brauche ich auf meinen Touren ebenfalls nur die Hälfte.
Wenn ich dieses 65-jährige Diabetes-Dasein Revue passieren lasse, finde ich, dass ich mit meinem Leben trotz aller Widrigkeiten sehr zufrieden sein kann! Dass ich bei diesem chaotischen Lebensstil der ersten 25 Jahre nicht noch viel gravierendere Spätfolgen bekommen habe, liegt wohl an meinen anscheinend recht guten Genen – und natürlich auch an all diesen tollen Neuerungen der letzten Jahrzehnte, die uns jetzt so wohltuend begleiten.
Dazu gehören z. B. Insulinpumpen, Insulinpens, Hybrid-Closed-Loop-Systeme, schneller wirkende Insuline, kontinuierliche und blitzschnelle Messungen und die umfassende Schulung. Auch die Anzahl an Diabetologen, Selbsthilfe-Gruppen und Meetings via Internet tragen sehr dazu bei, ein weitgehend normales Leben führen zu können.
Etwas finde ich jedoch noch äußerst wichtig – und das gilt für jede Krankheit: das so oft zitierte „positive Denken“ mit der dazugehörenden Portion Optimismus zu erreichen. Denn wer alles nur negativ sieht, den ziehen schlechte Werte viel schneller runter, der neigt deshalb zu Depressionen und wird auch Schmerzen stärker spüren. Ich hatte damals nach meiner ersten Augenblutung wahnsinnige Angst, irgendwann blind zu werden.
„So weit mein Herz mich trägt“ …… heißt das dritte Buch von Grit Ott, erhältlich über sie persönlich unter pankreativ@aol.com. Darin schildert sie ihre 800 km lange Wanderung auf dem Jakobsweg. Zu Menschen, die sie um Rat fragen, sagt sie: „Geh los, auch wenn Du unsportlich bist oder durch eine Krankheit gehandicapt. Finde Dein eigenes Tempo (bzw. deine Langsamkeit). Du wirst Deinen ureigenen Rhythmus entdecken und heimkehren mit einem veränderten Blick.“ |
Nachdem mein Kreatinin langsam auf 1,15 mg angestiegen war und sich auch noch das Rheuma dazugesellte, sah ich mich schon zukünftig im Rollstuhl sitzen und an der Dialyse hängen. Und nach dieser schwierigen Herz-Operation dachte ich zuerst, dass es in Zukunft mit meiner Leistungsfähigkeit wohl vorbei wäre. Aber inzwischen weiß ich, dass mir diese Ängste nur unnötig das Leben schwergemacht haben, denn nach all den langen Jahren ist nichts davon eingetreten – lediglich die Schmerzen sind trotz angepasster Therapie meine fast ständigen Begleiter.
Aber ich versuche, mich jeden Tag auf etwas, was ich gern mache, oder über etwas, was mir unterwegs begegnet ist, zu freuen! Und ich habe das Gefühl, dass diese Lebensfreude genau der richtige Weg ist, mit solchen „Stolpersteinen“ gut umzugehen. Deshalb hoffe ich, auch noch nach 70 Jahren Diabetes eine positive Rückmeldung aus meinem „süßen Leben“ geben zu können!
von Grit Ott
E-Mail: pankreativ@aol.com
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (10) Seite 40-42
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