Plötzlich braucht’s: Insulin

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© Bernhard Kölsch - two4food.de
Plötzlich braucht’s: Insulin

Jahrzehntelang konnte unser Kolumnist Hans Lauber seinen Diabetes ohne Medikamente im Zaum halten. Jetzt spritzt er Insulin. Was ist passiert? Das berichtet er in diesem Beitrag.

Tschöpe hatte recht: Es muss über zehn Jahre her sein, als ich auf einem Symposium in Bad Oeynhausen erläuterte, wie ich meinen Typ-2-Diabetes ohne Medikamente im Griff habe. Als ich geendet hatte, sagte halblaut Professor Dr. Diethelm Tschöpe, renommierter Direktor des NRW-Diabeteszentrums in der Kurstadt, fast nur an mich gerichtet: „Auch Sie werden eines Tages Insulin spritzen“.

Da schwang keine Häme mit, es war die nüchterne Prophetie eines erfahrenen Arztes, die sich in den letzten Wochen plötzlich bewahrheiten sollte. Dabei sah es im März diesen Jahres noch gut aus: Da war ich bei meinem jährlichen Gesundheitscheck in der Diabetologischen Schwerpunktpraxis von Dr. Meinolf Behrens in Minden und natürlich wurde auch der Langzeitwert HbA1c bestimmt – und er lag mit 7,1 Prozent gerade noch im Rahmen des vertretbaren. Allerdings habe ich mich danach zum ersten Mal intensiv mit Metformin beschäftigt, dem Standardmedikament, wenn die Insulinleistung schwächelt.

Leider blieb es bei der Beschäftigung – und es kam außer im Rahmen einer Recherche über ein CGM-Gerät (siehe „FreestyleLibre3“ weiter unten) zu keiner regelmäßigen Einnahme dieses Präparats, das die Zuckerausschüttung aus der Leber bremst und das Insulin besser wirken lässt. Aber Diabetes tut nicht weh, lässt sich leicht vergessen – und so war es auch bei mir: Ich genoss den herrlichen Sommer statt den Blutzucker regelmäßig zu messen. Ein Versäumnis, das sich rächen sollte.

Auf einmal verdunkelte ein Todesfall den wolkenlosen Himmel. In die Trauer mischten sich bald nagende Gedanken über die merkwürdigen Umstände des Todes; mischte sich Misstrauen über finanzielle Unstimmigkeiten, die auftauchten; mischten sich dräuende Familienaufstellungen über drohende Erbzwistigkeiten.

Ursprünglich war Schöneres geplant: Wollte im Herbst im Rahmen meiner ECHT-ESSEN-Serie Landgasthäuser in Österreich vorstellen, die den lokalen Ursprung ihrer Produkte kennen – mein bescheidener Beitrag zu einer Welt, die endlich etwas stärker im Einklang mit ihren endlichen Ressourcen lebt. Wollte bei Andreas Döllerer den raren Huchen und das Fleisch von der alten Kuh genießen; wollte beim Josef Floh in der Nähe von Wien seine grandiose Regionalküche kosten; und natürlich wollte ich das faszinierende „Steirereck am Pogusch“ besuchen, wo die Gastronomenfamilie Reitbauer ein einzigartiges Projekt verwirklicht mit eigener Landwirtschaft, bezahlbarer Spitzenküche unter Einbeziehung der Gäste, plus eine atemberaubende ökologische Architektur.

Statt “Steirereck”: Recyclinghof

Doch statt dem Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande fand ich mich plötzlich wochenlang beim Räumen einer Wohnung mit vollgemüllten Kellern; fand ich mich plötzlich in der mir völlig fremden Welt von Recyclinghöfen, lag ich im Dreck, weil die zu entsorgenden Möbel zu schwer waren; fand ich mich beim Kündigen von Verträgen, von deren Existenz ich vorher nichts wusste; fand ich mich beim hartnäckigen Abwehren von Rechnungen, die nichts mit mir zu tun hatten; fand ich mich in einer mir nicht wohl gesonnenen Umgebung, die mir mit Freude Steine in den Weg legte.

Mein Leben war aus den Fugen, es umwölkte mich ein Reigen unseliger Geister. Als wäre das alles nicht genug, plagten mich mit einem Male auch noch Blasenentzündungen, die ziemlich genau zwei Wochen nach der damals noch für vollständig erklärten Corona-Impfung anfingen, was aber auch Zufall sein kann. Jedenfalls führte diese unheilige Melange aus physischer und psychischer Überforderung, gepaart mit einer hartnäckigen Entzündung, zu einem dieser irreversiblen Kipppunkte.

Plötzlich war der Kipppunkt überschritten

Es war Ende November, da gab es auf einmal einen Harnverhalt mit unfassbaren Schmerzen. In höchster Not wurde ein Katheter gelegt, der mich seitdem begleitet. Die Urologen wiesen mich auf den dramatisch überhöhten Blutzucker hin, was sich auch beim Messen bestätigte, wo ich Werte von weit über 400 mg/dl hatte, statt um die 100 wie normalerweise. Groß messen hätte ich nicht einmal müssen, denn der Urin war dickflüssig wie Honig, weshalb die Mediziner von Diabetes mellitus sprechen, was nichts anderes als honigsüßer Durchfluss heißt.

Grüblerisch wollte ich noch herausfinden, ob der überhöhte Blutzucker eine Folge der Entzündung war oder die Entzündung eine Folge des Stresses und des überhöhten Blutzuckers, da brachte mich ein Anruf bei Dr. Meinolf Behrens in Minden auf den Boden der Realität: „Das schreit jetzt nach Insulin“, war sein unmissverständlicher Kommentar – und also machte ich mich auf ins Westfälische. Dort war schon alles vorbereitet, der Arzt machte mir klar, dass bei dem jetzigen Langzeitwert von über 10 nur noch Insulin helfen kann. Gleichzeitig beruhigte er mich auch, weil der unauffällige Ketonwert die Schlussfolgerung erlaubt, dass die Insulin produzierende Bauchspeicheldrüse noch nicht ganz erschöpft ist.

2 Insuline: Lang (grau)- und kurzfristig

Bettina Jeske heißt eine der bestens geschulten und empathischen Assistentinnen der Praxis, die mir im Schnelldurchgang das Spritzen und den dazugehörigen Plan erläuterte. Natürlich schwirrt mir erst einmal der Kopf, aber schon auf der Heimfahrt nach Köln, wo ich alles noch einmal durchlese, klären sich die Dinge. Im Prinzip sind es zwei verschiedene Insulintypen, nämlich ein lang wirkendes Basalinsulin und ein kurzfristiges, schnell wirkendes Insulin, etwa vor dem Essen.

Begeistert bin ich von dem Basalinsulin, das ich abends gegen 22 Uhr spritze – und das mir einen gleichmäßigen, wie von einer Linie gezogenen Blutzuckerverlauf um die 100 mg/dl beschert. Es kommt mir vor, als hätte dieses ABASAGLAR heißende Insulin von Lilly eine eingebaute künstliche Intelligenz, um von sich aus nächtens auf unterschiedliche Ausschüttungen von Glukose aus der Leber reagieren zu können.

Schafft den perfekten nächtlichen Blutzucker: ABASAGLAR

Etwas komplexer wirken die kurzfristigen Insuline, wie etwa bei mir das LISPRO von Sanofi. Sie werden drei bis vier mal am Tag vor den Mahlzeiten injiziert, wobei sich die Dosis danach richtet, wie hoch der jeweilige Wert des Blutzuckers ist. Natürlich hatte ich Angst vor der Spritze. Aber ich bin erstaunt, wie einfach es für mich ist, den Piks zu setzen, sei es das Basalinsulin in den Oberschenkel oder das schnelle Insulin in das Unterhautfettgewebe am Bauch. Früher, so lasse ich es mir erklären, war das nicht ganz so easy. Aber inzwischen sind die Nadeln so dünn, dass kaum noch Probleme auftauchen.

Freestyle Libre3: Taktgeber

Als hätte ich es geahnt, habe ich im Mai 2021 eine der bahnbrechendsten Innovationen der Diabetes-Diagnostik vorgestellt: Das „FreeStyle Libre3“ von Abbott. Das ist ein Messgerät, dessen fünf Cent großer, leicht selbst am Oberarm zu platzierender Sensor zwei Wochen lang einen faszinierenden Einblick in die aktuelle Entwicklung des Gewebezuckers gibt – und das direkt auf das SmartPhone. Natürlich lassen sich diese Werte auch ganz klassisch mit Teststreifen, die einen Tropfen Blut brauchen, ermitteln. Aber gerade am Anfang einer Insulintherapie leistet ein solches Gerät der kontinuierlichen Gewebezucker Messung (CGM) unschätzbare Dienste.

So hat es mir geholfen, den von der Mindener Praxis entwickelten Spritzplan in einem dynamischen Prozess zu optimieren. Wobei es wohl so war, dass der Körper eine Zeitlang gebraucht hat, bis er sich an das künstliche Hormon gewöhnt hat, und ich am Anfang größere Insulinmengen gebraucht habe. Inzwischen bin ich aber ziemlich genau bei den Mengen, die Dr. Behrens für mich vorgesehen hatte. So komme ich inzwischen nachts mit 5 Einheiten des Basalinsulins aus.

DER Insulin-Verstärker: Laufen

Ein interessantes Phänomen habe ich beobachtet: Wenn ich messe, dann spritze, anschließend esse und direkt danach mindestens eine halbe Stunde stramm laufe, dann wirkt das Insulin dramatisch besser. Auch ein Effekt, der sich prächtig mit auf dem Display des Handys verfolgen lässt. Inzwischen ist es so, dass ich auf jeden Fall nach dem Frühstück und dem Abendessen zu meinem „tüchtigen Gehen“, wie Sebastian Kneipp das nannte, aufbreche, selbst wenn es regnet. Ist das Wetter gut, wandere ich gerne noch rund eine Stunde.

„Messen, Essen, Laufen“, ein Déjà-vu für mich, denn so lautet der Untertitel meines Bestsellers „Fit wie ein Diabetiker“.

Mögliche Lauffolge: Unterzucker

So segensreich die Senkung des Blutzuckers durch die Bewegung ist, so tückisch kann der Effekt sein, wenn er über das Ziel hinausschießt. Dann nämlich droht eine Unterzuckerung, eine Hypoglykämie. Das hört sich harmlos an, ist aber eine der gefährlichsten Nebenwirkungen einer Insulintherapie – und ich erinnere mich an den Vortrag eines Diabetologen auf einem der zahlreichen Diabetes-Kongresse, die ich besucht habe. Sein drastisches Fazit: „Fünf starke Unterzuckerungen macht eine Demenz – und das lebenslang“. Das liegt daran, dass bei Unterzucker das Gehirn nicht mit der lebenswichtigen Glukose versorgt wird, weshalb Teile unwiederbringlich geschädigt werden können.

Wie schnell eine Hypoglykämie auftreten kann, habe ich selbst erlebt: Plötzlich spüre ich bei meinem schnellen Gehen ein Zittern, einen Schweißausbruch, leichten Schwindel. Siedend heiß fällt mir die eindringliche Mahnung von Bettina Jeske ein: „Nie ohne Traubenzucker aus dem Haus“. Natürlich hatte ich keinen dabei. Was tun? Langsam weiter tapsen, weil schnelles Laufen wohl den Senkungseffekt verstärkt. Immer stärker trüben sich die Sinne und nur mit Mühe erreiche ich das Haus, wo der Wert inzwischen auf 67 mg/dl gefallen ist.

Fünf Traubenzucker schlinge ich verzweifelt herunter, was natürlich viel zu viel ist – und eine halbe Stunde später liegt der Wert bei fast 300. Ein Traubenzucker hätte gereicht – Lernkurve eines Insulin-Novizen. Übrigens habe ich mir bei 70 mg/dl beim FreeStyle einen Warnton installiert, der mich vor Unterzuckerungen bewahren soll.

So nicht: Zu tief, zu hoch

„Kuchenspritze“? GeMessen essen!

Theoretisch könnte ich jetzt alles essen, vor allem Süßes – und das Zuviel an Glukose einfach wegspritzen, was gerne als „Kuchenspritze“ tituliert wird. Das mache ich aber nicht, denn ich weiß: Insulin ist ein Masthormon, viele nehmen bei einer Therapie bis zu 20 Kilo zu, brauchen dann immer mehr von dem Hormon. Ich will aber das Gegenteil erreichen, immer weniger davon.

Deshalb bleibe ich bei meiner Strategie, mit der es mir gelungen ist, über 20 Jahre meinen Diabetes im Griff zu halten, obwohl ich eine sehr geringe eigene Insulin-Produktion habe: GeMessen essen. Das meint, ich habe immer so gegessen, dass ich schnelle Anstiege des Zuckers vermieden habe, etwa indem ich praktisch nur Vollkornbrot esse, keine Nudeln mit ihren schnellen Kohlenhydraten konsumiere. Genießen werde ich frische Fische, hochwertiges Fleisch und viel Gemüse.

Wie weiter? Schritt für Schritt

Erst einmal freue ich mich, dass es mir mit Hilfe von Dr. Meinolf Behrens und seinem tollen Team gelungen ist, in rund zwei Wochen den Blutzucker mit Hilfe der Insuline soweit zu beherrschen, dass sich die meisten Werte im schicklichen Bereich zwischen 70 und 180 mg/dl bewegen. Schritt für Schritt versuche ich nun, die Insulinmengen weiter zu reduzieren. Ob es mir langfristig gelingt, ohne das künstliche Hormon auszukommen, weiß ich nicht.

Was ich auf jeden Fall versuche: Tagsüber Teile des Insulins durch Metformin zu ersetzen – oder mögliche andere Antidiabetika, wie etwa Gliptine oder GLP-Analoga. Technisch gerüstet bin ich für diese Experimente: Ich habe mir für insgesamt 180 Euro drei Sensoren von Abbott gekauft. So kann ich sechs Wochen lang sehen, wie mein Körper auf die neuen Herausforderungen reagiert.

Meine Vision: Nachts mit wenig basalem Insulin eine solide Grundlage für eine vernünftige Blutzuckereinstellung legen. Tagsüber möchte ich durch kluges Essen, tüchtiges Bewegen und gezielte Metformin-Gaben den Insulinverbrauch minimieren.

Fittes Fleisch, frisches Gemüse: Schönkost


von Hans Lauber
E-Mail: aktiv@lauber-methode.de

Internet: www.lauber-methode.de

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