„Diabetes soll nicht mein Leben regieren!“

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„Diabetes soll nicht mein Leben regieren!“

In der letzten Ausgabe haben wir Ihnen das Projekt von Mirjam Eiswirth vorgestellt: Sie zeichnete die Gespräche zwischen 16 Menschen mit Typ-1-­Diabetes auf und setzte sie gemeinsam mit einem Künstler in Szene. Hier folgt der zweite Teil unseres Porträts, das zeigt: Diabetes hat viele Gesichter, ist auf den ersten Blick unsichtbar und ganz schön viel Arbeit – aber das Leben geht auch nach der Diagnose weiter.

Mirjam Eiswirth hat seit ihrem 5. Lebensjahr Diabetes. Sie ist in Deutschland aufgewachsen und hat für Studium und Promotion 6 Jahre in Schottland verbracht. Heute lebt und arbeitet sie in Essen.
Der Finne Alpo Honkapohja forscht und zeichnet unter dem Künstlernamen „Valkea“ aktuell in Edinburgh (mehr auf Doodle Addicts und deviantART).

Im Diabetes-Journal und auf diabetes-online.de sind weitere Beiträge zu diesem Projekt erschienen:

Tomek ist ein aus Polen stammender Wahl-Schotte. Er arbeitet als Lehrer und schließt gerade seine Promotion ab. Außerdem hat er seit zehn Jahren einen ständigen Begleiter, der viel Aufmerksamkeit und Energie fordert – Typ-1-Diabetes. Noch ist er mit Pen und Messgerät unterwegs, will aber möglichst bald auf Pumpe und Sensor umsteigen.

Typ 2, Typ 1 – und eine falsche Hoffnung

Nach einem Urlaub zu Hause hatte er alle klassischen Symptome: schrecklichen Durst, Gewichtsverlust, Müdigkeit, Konzentrationsprobleme, Energielosigkeit. Damals wohnte er zur Untermiete bei einem älteren Ehepaar. Tomek erzählt: „Ich habe jeden Tag mehrere Liter Cola und Pepsi getrunken, gegessen wie verrückt und hatte trotzdem keine Energie. Und ich war wahnsinnig reizbar und unruhig – meine Vermieter dachten, ich würde verrückt.“

Der Hausarzt diagnostizierte erst Typ-2-Diabetes und schickte ihn mit Ernährungsempfehlungen nach Hause. Kurz darauf landete Tomek im Krankenhaus, bekam die richtige Diagnose – Typ-1-Diabetes –, Insulin und eine Schulung. „Damals erzählte mir eine Krankenschwester, dass man Diabetes entweder bald heilen könnte oder dass es tolle Technologien geben würde, die das Leben damit ganz einfach machen. Bis jetzt habe ich davon leider noch nicht viel gesehen.“

Spontanität will geplant sein

Für ihn bringt der Alltag mit Diabetes nach wie vor viele Einschränkungen und Nachteile mit sich. „Diabetes liebt Routinen. Am besten wäre es, jeden Tag zur gleichen Zeit aufzustehen, das gleiche Frühstück zu essen, gleich viel zu spritzen. Aber wenn man keine Routine hat, wird alles viel schwieriger.“

Und Spontanität geht nur, wenn man sie plant: „Du musst immer zuerst darüber nachdenken, ob du genug Insulin und Traubenzucker in der Tasche hast, falls du unterwegs zu hoch oder zu tief bist. Wenn man reisen will, muss man sich unbedingt um die Krankenversicherung kümmern und über das Gesundheitssystem vor Ort informieren. Dabei würde ich viel lieber sagen: ‚Nein, ich lasse mir von dieser Erkrankung nichts vorschreiben!‘ Aber letzten Endes muss ich mir immer wieder eingestehen, dass meine Gesundheit wichtiger ist.“

Mit Diabetes unterwegs

So fragt Tomek zum Beispiel im Restaurant immer, wie viel Gramm Kartoffeln, Reis oder Nudeln auf seinem Teller liegen, oder wiegt sie gleich selbst ab. „Die Kellner gucken meist erstmal komisch, sind aber verständnisvoll, wenn ich erkläre, dass ich das wissen muss, weil ich Diabetes habe.“

Genauso offen geht er in der Öffentlichkeit auch mit Messen und Spritzen um: „Ich tue es überall. Ich habe es schon im Bus getan, im Restaurant, in der Schule. Allerdings fühle ich mich dabei schon manchmal beobachtet. Angeblich leben wir in einer toleranten Gesellschaft, aber bei Nadeln scheint die Toleranz oft aufzuhören. Ich versuche, Rücksicht zu nehmen auf Menschen, die keine Nadeln sehen können, aber ich brauche eben Insulin. Wenn es ihnen unangenehm ist, sollen sie wegschauen.“

Dass das Spritzen unterwegs ganz praktische Tücken haben kann, hat er bei einem Kinobesuch erlebt: „Da ist mir – zum Glück erst, nachdem ich gespritzt hatte – die Pennadel auf den Boden gefallen. Der Kinosaal war dunkel und ich konnte sie einfach nicht wiederfinden. Ich saß die ganze Zeit wie auf glühenden Kohlen, weil ich Angst hatte, dass sich jemand daran verletzen könnte. Es war zwar eine Kappe auf der Nadel, aber man weiß ja nie.“

Die tägliche Achterbahnfahrt

Was den Alltag anstrengend macht, ist das ständige Achten auf den Blutzucker, die Schwankungen, die Angst vor Folgeschäden und die Angst vor Unterzuckerungen, besonders nachts. Am frustrierendsten findet Tomek es, wenn die Gründe für einen zu hohen oder zu tiefen Wert unklar sind, er überkorrigiert und dann die Werte Achterbahn fahren. Das löst auch viele unwillkommene Gedanken aus: „Manchmal wache ich nachts zu tief auf und kann nicht wieder einschlafen. Dann drehen sich meine Gedanken im Kreis – warum ist das passiert, warum habe ich überhaupt Diabetes, warum ich? Es ist alles zu viel.

Und am nächsten Morgen bin ich völlig fertig.“ Einige Male konnte er nach solchen Nächten nicht zur Arbeit gehen, weil er so erschöpft und niedergeschlagen war. So peilt Tomek eher höhere Werte an, aber wenn der Zucker dann zu hoch ist, wird er reizbar und frustriert. „Mittlerweile fragt meine Frau mich immer zuerst, wie mein Zucker ist, wenn ich schlechte Laune habe. Aber ich darf doch auch einfach mal schlecht gelaunt sein!“

Kritik statt Unterstützung

Das Diabetesteam, bei dem er nur etwa alle 9 Monate einen Termin bekommt, nimmt er nicht als große Unterstützung wahr: „Die Krankenschwestern sind okay, aber die Ärzte kritisieren nur. Anstatt das große Ganze zu sehen und zu sagen, ‚Na, insgesamt läuft es ja ganz gut‘, picken sie sich einzelne Werte raus und sagen: ‚Da waren Sie zu hoch, da zu tief, erklären Sie mal, was da los war.‘ Als wäre ich ihnen Rechenschaft schuldig!

Und bei ihnen klingt das immer so, als wäre es ganz einfach, den Zucker zu managen – aber die sollten mal selbst versuchen, eine Woche damit zu leben!“ Denn nach wie vor findet Tomek: „Es fühlt sich meistens eher an, als würde mein Diabetes mich managen, als dass ich den Diabetes manage.“

Hoffnung auf Heilung

So hofft Tomek nach wie vor auf einen Durchbruch in der Diabetes-Technologie zum Beispiel bei Closed-Loop-Systemen und in der Stammzell- oder Transplantations-Forschung, damit er sich irgendwann keine Gedanken mehr über Insulin, Kohlenhydrate und Blutzuckerwerte machen muss. „Bei Telefonen, Kameras, Uhren, Computern hat es in den letzten zehn Jahren riesige Entwicklungen gegeben – wann kommt das endlich auch in der Diabetes-Technologie an?“ Wichtige Schritte in diese Richtung gibt es ja schon …


von Mirjam Eiswirth
E-Mail: mirjam.eiswirth@gmail.com

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (5) Seite 42-43

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 2 Wochen, 4 Tagen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

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    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen, 5 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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