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Ernährung bei Diabetes: Welches Verhalten ist normal – wann liegt eine Ess-Störung vor?
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Nach der Diagnose eines Diabetes spielen die Themen Ess-Verhalten, Gewicht und Bewegung im Alltag von Betroffenen oft eine große Rolle. Bisherige Routinen bei der Ernährung müssen überdacht und eventuell verändert werden. Was bewegt sich dabei in einem normalen und angemessenen Rahmen, wann könnte eine Ess-Störung dahinterstecken? Dipl.-Psych. Susanne Baulig klärt auf!
Menschen mit Typ-1-Diabetes stehen vor der Herausforderung, Insulingaben an Art, Menge und Zeitpunkt des Essens und die geplante körperliche Aktivität anzupassen. Und vor allem bei Typ-2-Diabetes befindet sich das Körpergewicht nicht nur bei Terminen in der Diabetespraxis, sondern auch im Alltag ständig im Fokus. Einigen Menschen mit Diabetes gelingt es nach einer Weile, neue Ernährungs-Gewohnheiten zu etablieren.
Viele sind jedoch frustriert bei dem Versuch, das eigene Gewicht unter Kontrolle zu halten, indem besonders wenig oder nur sehr ausgewählt (z.B. kohlenhydratarm) gegessen wird. Manchmal entsteht aus einer solchen „Diät“ ein Teufelskreis aus ungünstigen Verhaltensweisen. Für Laien ist es dann schwierig, zu unterscheiden, ob die Beschäftigung mit diesen Themen noch ein für das Diabetes-Management nötiges und angemessenes Ausmaß hat oder ob es darüber hinausgeht und vielleicht eine Ess-Störung vorliegt.
Auf einen Blick: Ess-Störungen bei Diabetes
- Menschen mit Diabetes beschäftigen sich im Rahmen ihrer Erkrankung ausführlicher mit ihrem Ess-Verhalten als Menschen ohne Diabetes. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie grundsätzlich ein gestörtes Ess-Verhalten haben.
- Ess-Anfälle, absichtliches Erbrechen oder eine plötzliche Gewichtsabnahme können ein Hinweis auf eine bestehende Ess-Störung sein.
- Ess-Störungen können bei Menschen mit Diabetes beträchtliche Auswirkungen auf die langfristige körperliche Gesundheit haben und sollten daher immer fachkundig behandelt werden.
Ernährung bei Diabetes: Ess-Anfälle mit „Gegenmaßnahmen“
Zwei mögliche Ess-Störungen, die einiges gemeinsam haben, sind die Bulimie (auch Bulimia nervosa genannt) und die Binge-Eating-Störung. Beide sind gekennzeichnet durch das Auftreten von Ess-Anfällen, bei denen innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit (z.B. eine Stunde) eine große Menge gegessen wird, beispielsweise drei Teller Nudeln mit Soße, zwei Brote mit Schokocreme, ein Joghurt, eine halbe Tüte Chips, zwei Schokoriegel. Typischerweise wird dabei ein Verlust der Selbstkontrolle empfunden, d.h. man sieht keine Möglichkeit mehr, sich selbst zu stoppen und die Menge der aufgenommenen Nahrung zu begrenzen.
Bei der Bulimie werden zusätzlich zu den Ess-Anfällen „Gegenmaßnahmen“ durchgeführt. Damit sind Verhaltensweisen gemeint, die verhindern sollen, dass die übermäßige Kalorien-Aufnahme durch die Ess-Anfälle zu einer Gewichtszunahme führt. Meistens versteht man darunter absichtliches Erbrechen, das Nutzen von Abführmitteln oder das exzessive Treiben von Sport. Ess-Anfälle und Gegenmaßnahmen können langfristig zu schweren körperlichen Folgen führen z.B. im Herz-Kreislauf-System, Knochen-Stoffwechsel oder Hormon-Haushalt.
Große Ess-Mengen können Folgen haben – auch auf die Stoffwechsel-Einstellung
Menschen mit Diabetes sind in besonderer Weise davon betroffen. Zum einen lassen kalorienreiche Ess-Anfälle den Blutzucker besonders stark ansteigen und verringern darüber hinaus die Empfindlichkeit für die Wirkung von Insulin. Zum anderen sind aufgrund des Kontrollverlusts die aufgenommenen Nahrungsmengen, vor allem die Menge der Kohlenhydrate, kaum nachvollziehbar. Dazu kommt, dass das Verhalten rund um die Ess-Anfälle so sehr mit Scham besetzt ist, dass die Patientinnen und Patienten es lieber vermeiden, über die gegessene Menge nachzudenken.
Dadurch wird jedoch verhindert, dass eine für das Essen angemessene Insulinmenge berechnet und gespritzt werden kann. Die Folge sind häufig hohe Blutzuckerwerte. Manchmal wird aber auch zu viel Insulin abgegeben, was Unterzuckerungen (Hypoglykämien) verursacht. Außerdem ist es für Betroffene schwierig, das Zusammenspiel von Gegenmaßnahme und Insulinwirkung gut einzuschätzen. Beispielsweise kann durch selbst herbeigeführtes Erbrechen eine sehr viel kleinere Menge an Kohlenhydraten als vorher berechnet auf noch wirkendes Insulin treffen. Damit steigt das Risiko für sehr niedrige Blutzuckerwerte.
Ernährungsverhalten und Ess-Störungen bei Diabetes
Zum Thema gibt es weitere Informationen sowie Erfahrungsberichte in diesen Beiträgen auf diabetes-anker.de.
Gefährliches Insulin-Purging: Kein Insulin – keine Energie mehr
Bei Typ-1-Diabetes kann noch eine weitere Art der Gegenmaßnahme hinzukommen: das Insulin-Purging. Hier werden die eigentlich notwendigen Insulingaben nach Ess-Anfällen absichtlich stark reduziert oder ganz ausgelassen. Auch ohne das Vorliegen von Ess-Anfällen kann Insulin-Purging als eine eigenständige Ess-Störung bei Typ-1-Diabetes auftreten. Die betroffenen Personen spritzen auch zu regulären Mahlzeiten bewusst zu wenig oder gar kein Insulin.
In beiden Fällen werden die physiologischen Folgen hoher Blutzuckerwerte genutzt, um eine Gewichtszunahme zu verhindern: Die Glukose im Blut wird über die Niere ausgeschieden und steht dem Körper nicht als Energie zur Verfügung. Kurzfristig steigt jedoch durch die sehr hohen Blutzuckerwerte und das fehlende Insulin das Risiko für Ketoazidosen, also starke Übersäuerungen des Körpers. Langfristig wird das Auftreten von Folgeerkrankungen wahrscheinlicher.
Diabetes-Team ansprechen, wenn der Verdacht auf eine Ess-Störung besteht!
Wenn das Thema Essen einen zunehmend großen Teil des Alltags bestimmt und über das hinausgeht, was für den Diabetes notwendig ist, kann das Diabetes-Team eine erste Anlaufstelle sein. Falls sich der Verdacht auf eine Ess-Störung erhärtet, sollte die weitere Abklärung und ggf. anschließende Behandlung immer in die Hände von Psychotherapeutinnen bzw. Psychotherapeuten gelegt werden.
Psychotherapie
In einer Psychotherapeutischen Sprechstunde kann eine erste Einschätzung erfolgen, ob eine behandlungsbedürftige psychische Störung (z. B. eine Ess-Störung) vorliegt. Eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut kann außerdem über verschiedene Möglichkeiten der Behandlung aufklären, die ambulant oder – in schwereren Fällen – auch stationär durchgeführt werden kann. Psychotherapeutische Sprechstunden werden z. B. über die Termin-Servicestelle der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung (Tel.: 116 117, oder online: 116117.de) vermittelt.
Erste Hilfe in einer psychotherapeutischen Sprechstunde
In einer Psychotherapeutischen Sprechstunde kann eine erste Einschätzung erfolgen, ob eine behandlungsbedürftige psychische Störung (z.B. eine Ess-Störung) vorliegt. Eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut kann außerdem über verschiedene Möglichkeiten der Behandlung aufklären, die ambulant oder – in schwereren Fällen – auch stationär durchgeführt werden kann. Psychotherapeutische Sprechstunden werden z.B. über die Termin-Servicestelle der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung (Tel.: 116 117, oder online: 116117.de) vermittelt.
von Dipl.-Psych. Susanne Baulig
Erschienen in: Diabetes-Anker, 2025; 73 (4) Seite 50-51
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