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Zunächst läuft alles gut für Lisa und ihre Familie: Lisa ist beliebt, eine gute Schülerin, und sie hat den Diabetes gut im Griff. Mit der Pubertät ändert sich ihre Einstellung, und sie gefährdet sogar ihre Gesundheit. Wie ist das zu erklären?
Im klinischen Alltag ist es oft erstaunlich, dass Kinder, die früh an einem Diabetes erkranken, die Schulungen und den Umgang mit ihrer Erkrankung relativ leicht lernen. Oft sind sie besser als ihre Eltern oder versorgenden Bezugspersonen in der Lage, die technischen Möglichkeiten zu nutzen und sie entsprechend anzuwenden.
Es scheint so, dass sie in diese, von der Erkrankung geprägte Lebenswelt, ohne größere Schwierigkeiten hineinwachsen. Und oft erleben wir, dass die Erkrankung für die Kinder fast leichter zu meistern ist als für diejenigen, die keinen Diabetes haben.
Umso erstaunlicher ist es, wenn es, nachdem es zunächst oft über viele Jahre sehr gut geklappt hat, dann recht plötzlich, meist mit Beginn der Pubertät, nicht mehr gut funktioniert. Wie ist das möglich?
Bei Lisa wird ein Typ-1-Diabetes diagnostiziert, als sie fünf Jahre alt ist. Kurz davor kam eine Schwester zu Welt, die die Aufmerksamkeit der Eltern sehr beansprucht. Lisa kann recht komplikationslos eingestellt werden. Sie erhält eine Schulung, die weitere Behandlung verläuft recht mühelos.
Die Eltern freuen sich, dass alles gut läuft und teilen auch mit, dass Lisa sich viel besser als sie mit dem Diabetes auskennt, nichts vergisst und auch schon nachts alleine misst. Lisa ist eine gute, lernwillige Schülerin, die Freunde hat, oft zu Geburtstagen eingeladen wird, gerne zum Ballett geht und eine Gymnasialempfehlung erhält.
Als Lisa mit zwölf Jahren in die Pubertät kommt, wird die Behandlung schwieriger. Der Blutzucker schwankt öfter, das HbA1c steigt etwas. Der Kinderarzt beruhigt zunächst damit, dass er mitteilt, dass das infolge der hormonellen Umstellung nicht ungewöhnlich und noch im grünen Bereich sei.
Als Lisa 13 Jahre alt ist, hat sie immer mehr Streit mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester, die, ebenso wie sie noch, glänzend in der Schule zurechtkommt. In den Kontakten mit den Eltern äußern diese Unverständnis und auch Ärger, da die Streits zunehmen und Lisa im Gegensatz zu ihrer Schwester widerborstig zu sein scheint. Zudem wird Lisa schlechter in der Schule.
Lisa scheint etwas an den Rand des familiären Lebens zu geraten. Die Eltern teilen immer wieder mit, dass das wohl auch damit zu tun habe, dass Lisa Diabetes hat und möglicherweise eifersüchtig auf die mindestens ebenso erfolgreiche, gesunde Schwester sei.
Als Lisa 14 Jahre alt ist, beginnt sie sich weniger an die getroffenen Vereinbarungen zu halten. Sie fängt an zu rauchen, bevorzugt dunklere Kleidung, will ihre Haare färben und macht erste Erfahrungen mit Alkohol. In der Folge vernachlässigt sie immer mehr die angemessene Diabetesbehandlung, das HbA1c erreicht schwindelnde Höhen, und es werden im weiteren einige stationäre Behandlungen zur Neueinstellung erforderlich, ohne dass diese in den folgenden Jahren zu einer wesentlichen Veränderung beitragen.
Wenngleich es während der stationären Behandlungen immer wieder zu gehen scheint, denn Lisa passt sich an und macht das, was erforderlich ist. Das scheint zu erleichtern, ist aber nur eine vorläufige Lösung, die auch zunehmend weniger funktioniert.
Lisa macht im Verlauf der folgenden Monate und Jahre immer mehr das, wonach ihr ist. Sie schwänzt häufiger, fällt in der Schule ab, muss Klassen wiederholen und letztlich auch die Schule wechseln. Die Streits mit den Eltern eskalieren, sie bleibt oft von zu Hause weg, auch über Nacht, und chillt mit zum Teil wesentlich älteren Freunden ab, die die Eltern nicht kennen. Der Vater und auch die Mutter suchen Lisa oft, da sie abends nicht nach Hause kommt, und treffen ihre Tochter an stadtbekannten Plätzen an, wo sie sich mit anderen aufhält und so tut, als kenne sie ihre Eltern nicht.
Die Behandlung des Diabetes läuft nicht gut. Alle sind besorgt, es wird auch über eine Zwangseinweisung nachgedacht.
Das alles liest sich wie ein schlechter Roman. Es läuft etwa mit Beginn der Pubertät so, wie es sich niemand wünscht. Alle sind besorgt. Und wenn Lisa wütend und vor allen Dingen gegen alles ist, geht es ihr, wenn die Wut weg ist, oft nicht gut. Sie ist dann, wenn sie es ehrlich zugibt, oft traurig oder verzweifelt. Oft ärgert sie sich über ihre Eltern, die ihr Grenzen setzen, die sie aber ignoriert.
Wenn sie sich mit anderen vergleicht, ist sie oft unsicher und vielleicht auch neidisch, was sie aber nie zugeben würde. All diese Gefühle und Gedanken haben wenig Platz, Lisa lenkt sich lieber ab, ist oft unterwegs, macht, wozu sie Lust hat und nicht das, was sie soll. Sie beamt sich weg. Der Diabetes wird ignoriert. Geht doch!
Solche Entwicklungen sind, wenngleich nicht in dem Ausmaß, keine Seltenheit.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst, was eine Erkrankung bedeutet, um ausgehend davon die Veränderungen zu betrachten, die oft im Zusammenhang mit der Pubertät eintreten und die Entwicklungserfordernisse mit sich bringen. Dies ermöglicht vielleicht, dass neben einem gewissen Verständnis wieder Spielraum entsteht, um leichter weiterzuleben und auch im Hinblick auf den Diabetes einen angemesseneren Umgang zu finden.
Grundsätzlich ist eine Erkrankung eine Grenze, die es kennenzulernen gilt, damit mit ihr gelebt werden kann. Diese Grenze bedeutet im Leben eines Menschen die Aufforderung, neben einer angemessenen Lösung (in Form einer Behandlung) auch und besonders bei chronischen Erkrankungen, einen Umgang und eine individuelle Einstellung zu finden, mit der man leben kann.
Beim Diabetes handelt es sich insgesamt, trotz aller bekannten Komplikationen, die sich im Verlauf einstellen können, um eine Erkrankung, die aus medizinischer Sicht relativ gut behandelt werden kann. Gerade deshalb erscheint es seltsam, wenn Komplikationen infolge Verhaltensproblemen eintreten, die oberflächlich betrachtet eigentlich nicht sein müssten.
Mit der Pubertät ändert sich vieles – wie können Eltern dem begegnen? Im nächsten Heft lesen Sie, wie Eltern ihr Kinder in dieser Lebensphase begleiten können – und was es heißt, respektvoll zu streiten.
Dr. med. Eva-Marie Franck
Oberärztin Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin “Auf der Bult” ,
Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover,
E-Mail: franck@hka.de
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2016; 9 (3) Seite 8-9
5 Minuten
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