Resilienz: Was Kinder und Eltern stark macht

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Resilienz: Was Kinder und Eltern stark macht

Wie widerstandsfähig ist ein Mensch gegenüber Belastungen, wie resilient ist er? Und kann man Resilienz lernen? Prof. Lange erklärt, wie gute Erfahrungen in der Kindheit zu persönlichen Kraftquellen werden können.

Als wir im Frühjahr 2020 den ersten Artikel zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie für Sie formuliert haben, glaubten wir ehrlich gesagt nicht, dass Home Schooling, Home Office und die vielen Veränderungen im Alltag von Familien länger als ein paar Monate andauern würden. Inzwischen wissen wir es alle besser – die Pandemie beherrscht uns nun schon seit weit über einem Jahr. Und viele Eltern fragen sich, was diese Erfahrungen mit ihren Kindern machen. Wie können Kinder mit Diabetes in dieser oft unsicheren Situation seelisch unterstützt und gestärkt werden?

Was bedeutet Resilienz in der ­Psychologie?

Unter Resilienz wird die seelische Fähigkeit verstanden, an Widerständen oder schwierigen Aufgaben nicht zu zerbrechen, sondern flexibel darauf zu reagieren. Resiliente Menschen erleben ebenso wie alle anderen Verluste und Misserfolge, aber sie lassen sich davon nicht so schnell unterkriegen, sie sind widerstandsfähiger.

Selbst in schwierigen Situationen gelingt es ihnen besser als vielen anderen, Ruhe zu bewahren und das Beste aus unangenehmen Situationen zu machen. Und wie in jedem positiven Kreislauf stärkt die erfolgreiche Bewältigung einer schwierigen Herausforderung das Selbstbewusstsein und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Es sind die „sonnigen“ Kinder, die selbst in schwierigen Situationen seelisch stabil und eher optimistisch bleiben. Dabei darf diese Resilienz nicht mit Unverletzlichkeit gleichgesetzt werden, es gelingt diesen Menschen nur besser, mit Einschränkungen und Verlusten umzugehen.

Kann man Resilienz trainieren oder lernen?

Man weiß heute, dass manche Menschen schon robuster auf die Welt gekommen sind, d. h. das Erbgut hat beim Thema Resilienz und Stressstabilität eine gewisse Bedeutung. Das kennen alle Eltern: Es gibt Neugeborene, die bei jedem Unwohlsein sehr schnell und anhaltend schreien, während andere Säuglinge im größten Trubel einfach einschlafen. Aber man weiß aus der kinderpsychologischen Forschung auch, dass Lernen und gute Erfahrungen im Alltag lebenslang eine viel wichtigere Rolle dabei spielen, wie widerstandsfähig ein Mensch gegenüber Belastungen ist.

Gute Erfahrungen in der Kindheit sind die sogenannten persönlichen Kraftquellen, auf die sich resiliente Menschen in schwierigen Situationen verlassen können. Und viele dieser Kraftquellen werden durch elterliche Vorbilder und Anregungen angelegt und durch eigene Erfolge lebenslang gestärkt. Im Folgenden sollen einige der Kraftquellen näher betrachtet werden, die besonders Kindern und Jugendlichen mit Diabetes helfen können, ein gutes Leben mit der Stoffwechselstörung zu führen.

Herausforderungen flexibel ­begegnen

Resiliente Menschen reagieren früher auf besondere Herausforderungen, informieren sich über mögliche Risiken und günstige Verhaltensweisen. Wer dagegen Risiken wie COVID-19 aber ebenso den Diabetes verdrängt, bagatellisiert oder einfach nicht daran denken mag, dem fehlt es an Resilienz. Diese Menschen machen einfach so weiter wie vor dem Ereignis, akzeptieren keine neuen Regeln oder hoffen noch auf ein Wunder.

Je länger sie am Gewohnten festhalten, umso schwerer fällt es ihnen, sich an neue Bedingungen anzupassen. Die Folgen können dramatisch sein. Dies gilt für die Diabetesdiagnose bei einem Kind ebenso wie jetzt im Umgang mit der COVID-19-Pandemie.

Wenn bei Ihrem Kind erst vor kurzer Zeit der Diabetes entdeckt wurde, dann fällt es sicherlich noch schwer, zu akzeptieren, dass diese Stoffwechselstörung immer bleiben und das Leben der Familie beeinflussen wird. Das ist völlig normal. Wenn es resilienten Eltern aber bald gelingt, nicht mehr auf ein Wunder zu hoffen, sondern gemeinsam mit dem Kind zu lernen, wie die Behandlung so gut wie möglich durchgeführt werden kann, dann ist dieses Vorbild eine erste wichtige Kraftquelle für das Kind. Es erfährt, dass es mit seinen Eltern gemeinsam eine schwierige Aufgabe angehen und bewältigen kann.

Das Zutrauen der Eltern in die Zukunft gibt Kindern Kraft. Erwarten Sie dabei aber nicht, dass alles sofort funktioniert. Es ist eher normal, dass es einige Zeit dauert, bis sich ein neuer normaler Alltag mit Diabetes eingespielt hat. Auch hier lernt ein Kind an Ihrem starken Vorbild, dass es Kraft und Zeit kostet, bis man ein Ziel erreicht und dass man nicht zu schnell aufgeben sollte.

Hoffnungsvolle Zukunftssicht

Wenn Eltern nicht mehr insgeheim oder ausgesprochen darauf hoffen, ihr „altes Leben“ wiederzubekommen, sondern flexibel das neue Leben mit Diabetes annehmen und das Beste daraus machen können, dann ist dieses Vorbild die nächste Kraftquelle für Ihr Kind. Die flexible Anpassung an neue Herausforderungen ist ein zentrales Kennzeichen von Resilienz. In der buddhistischen Philosophie wird dies mit dem einfachen Satz „Nothing is permanent“ („Nichts bleibt, wie es war“) beschrieben.

Wenn wir uns seelisch damit einverstanden erklären, dass unsere Zukunft nicht in jedem Punkt berechenbar ist, wir aber auf unsere eigenen Fähigkeiten vertrauen können, dann sinkt die seelische Belastung. Selbstverständlich machen sich viele Eltern junger Kinder mit Diabetes Sorgen wegen möglicher Folgeerkrankungen.

Andererseits wird es noch Jahrzehnte dauern, bis sie vielleicht auftreten oder auch nicht. Angesichts der schnellen Fortschritte in der Diabetologie können selbst Fachleute heute nicht sagen, wie erfolgreich und vielleicht automatisch der Zuckerstoffwechsel in 10 Jahren gesteuert werden kann. Jahrzehntelange Ängste vor Folgeerkrankungen behindern, dagegen hilft es sehr, die Chancen neuer Technologien und Therapien zu sehen und flexibel zu nutzen.

Realistische Sorge, aber keine übertriebene Angst

Nach über einem Jahr der COVID-19-Pandemie haben wir gelernt, dass Kinder mit Typ-1-Diabetes nicht zu den Risikogruppen für schwere Verläufe zählen und sich so verhalten und die Schule besuchen sollten wie alle Gleichaltrigen (Händehygiene, Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, Abstandsregelungen).

Um Kinder mit Diabetes auch hier zu stärken, sollten Eltern mögliche Ängste und Sorgen Ihrer Kinder ernst nehmen und gut zuhören. Denn Kinder sind aufmerksam, schnappen bedrohliche Informationen auf, oder sie werden durch dramatische Fernsehberichte wie derzeit aus Indien verängstigt.

Zeigen Sie Verständnis für die Ängste Ihres Kindes, nehmen Sie dessen Perspektive ein und antworten altersgemäß ehrlich: „Ja, wir alle halten uns an die Hygieneregeln, damit alle Kinder in der Schule und auch deren Omas und Opas gesund bleiben. Kinder mit, aber auch ohne Diabetes werden nicht sehr schwer krank werden, auch wenn sie sich anstecken. Und wenn sich ein Kind angesteckt hat, kümmern sich die Eltern und Ärzte darum, dass es dem Kind gut geht. Aber es wird leider auch einige ältere und sehr kranke Menschen geben, die an COVID-19 versterben.“

Die Möglichkeit, mit den Eltern über ihre Sorgen sprechen zu können und als eigenständige Person wahrgenommen zu werden, ist eine weitere wichtige Kraftquelle. Sie vermittelt Kindern die Erfahrung, dass sie nicht allein sind und Unterstützung, Solidarität und Verständnis finden.

Chancen sehen und nutzen

Sicher hat sich niemand die Herausforderungen durch COVID-19 gewünscht, aber wir haben alle auch etwas gelernt, z. B. dass der extrem durchgeplante Alltag in manchen Familien zu Lasten der persönlichen Begegnungen ging. Auf einmal verbrachten Familien mehr Zeit miteinander, konnten vielleicht auch besser lernen, wie der Stoffwechsel des Kindes mit Diabetes auf bestimmte Mahlzeiten oder spätes Aufstehen reagiert.

Einige erste Studiendaten zeigen, dass das HbA1c von Menschen mit Typ-1-Diabetes während der Pandemie sogar gesunken ist. Und einige Eltern haben die gemeinsame Zeit genutzt, um ihren Kindern mehr Selbständigkeit bei der Diabetestherapie zu vermitteln. Diese „wertvolle“ gemeinsame Zeit und die Anerkennung der Fähigkeiten des Kindes sind weitere Kraftquellen, die ein Kind auch in Zukunft in sich tragen kann.

Vielleicht hat die Pandemie Sie und Ihre Kinder auch in anderen Bereichen zum Nachdenken darüber angeregt, was wirklich wichtig ist. Zeit für gemeinsame Aktivitäten ohne Termin- und Leistungsdruck, miteinander Toben, Kuscheln oder liebevolle Nähe stärken Kinder mehr als viele teure Events, die jetzt wegen COVID-19 ausfallen müssen. Und auch ein „langweiliger“ Waldspaziergang kann mit etwas Phantasie zu einem gemeinsamen Abenteuer werden und die positive Bindung zwischen Kindern und Eltern stärken.

Die notwendigen Einschränkungen und Belastungen durch die COVID-19-Pandemie sollen hier nicht „schöngeredet“ werden, aber wir haben die Freiheit, Chancen für eine andere Zukunft unserer Kinder zu sehen und mit ihnen zu nutzen. Kinder wachsen an Aufgaben, die sie gemeinsam mit ihren Eltern bewältigen.


Autorin:

Prof. Dr. Karin Lange
Leiterin Medizinische Psychologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2021; 13 (2) Seite 16-18

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