Ein Meilenstein ist nicht genug

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Ein Meilenstein ist nicht genug

Menschen mit starkem Übergewicht werden von unserem Gesundheitssystem im Stich gelassen, kritisierte die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) zum Auftakt ihres Kongresses in München. Das soll ein DMP Adipositas beheben – doch das allein wird nicht reichen, betonte die Fachgesellschaft.

Manche Mühlen mahlen langsam. Bis zum Beispiel überkommene Überzeugungen aus dem Alltag verschwunden sind, dauert es oft ernüchternd lange. Das gilt auch für die Medizin, die sich eigentlich mit ständig neuem Wissen auskennt. Und es gilt erst recht für die Politik mit ihren vielschichtigen Abwägungsprozessen.

Ein Paradebeispiel dafür ist die Adipositas. “Die Adipositas-Therapie ist keine Lifestyle-Beratung, sondern die Behandlung einer chronischen Krankheit. Diese Erkenntnis hat sich in der wissenschaftlichen Fachwelt längst durchgesetzt”, erklärte Dr. Christina Holzapfel, Vorstandsmitglied der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und Tagungspräsidentin des Adipositas-Kongresses 2022. “Dass die Adipositas-Therapie in aller Regel eine freiwillige Leistung der Krankenkassen darstellt, ist weder gerechtfertigt noch zielführend. Die fehlende Sicherheit bei der Kostenübernahme erschwert eine evidenzbasierte Behandlung enorm – vor allem im ambulanten Bereich”, ergänzte Prof. Dr. Hans Hauner, ebenfalls DAG-Vorstandsmitglied und Tagungspräsident des in München abgehaltenen Kongresses. “Betroffene erhalten im Moment zu wenig Unterstützung vom Gesundheitssystem”, kritisierte Michael Wirtz, der seit Jahren in der Selbsthilfe aktiv und Vorstandsmitglied der AdipositasHilfe Deutschland ist. “Oft heißt es beim Hausarzt lapidar: Bewegen Sie sich mehr und essen Sie weniger. Wer glaubt denn ernsthaft, dass jemand mit starkem Übergewicht diesen ‚Rat‘ nicht schon kennt? Wenn es so einfach wäre, wäre nicht jeder vierte Erwachsene von Adipositas betroffen. Wir brauchen Therapie-Angebote, wie es bei anderen chronischen Erkrankungen längst selbstverständlich ist”, so seine Forderung.

Krankheit ja, aber keine Arzneimittel-Therapie

Die Politik erscheint hier leicht schizophren: Einerseits hat der Bundesgesetzgeber die Versorgungslücke erkannt und die Adipositas mit Verabschiedung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG)offiziell als Krankheit anerkannt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) soll nun, so der gesetzliche Auftrag, bis Juli 2023 ein strukturiertes Behandlungsprogramm für Betroffene von Adipositas beschließen. Dass ähnlich wie für andere chronische Krankheiten nun auch für Adipositas ein solches Disease-Management-Programm (DMP) kommen soll, stellt aus Sicht der DAG einen “Meilenstein” dar und könne ein Anstoß sein, die defizitäre Versorgungs-Situation zu verbessern. Allerdings kann ein DMP allein das grundlegende Problem der fehlenden Kostenübernahme nicht lösen. Dazu müssen der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen überarbeitet und die rechtlichen Hürden für die Arzneimittel-Therapie beseitigt werden, erinnert die DAG. Noch schließt § 34 Absatz 1 des SGB V eine Verordnung von Präparaten zur Gewichtsreduktion zulasten der gesetzlichen Krankenkassen explizit aus. In der digitalen Welt ist man da schon weiter: Für geprüfte Smartphone-Apps zur Therapie der Adipositas, die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs), müssen Krankenkassen die Kosten übernehmen.

Grundlagen für DMP Adipositas

Im September hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Abschlussbericht seiner Leitlinien-Recherche zur Diagnostik und Behandlung von Adipositas vorgelegt. Dazu war es vom G-BA beauftragt worden. Der Vorgang ist üblich beim Erarbeiten eines DMPs, und tatsächlich haben Fachgesellschaften weltweit schon umfassende Adipositas-Leitlinien erarbeitet, auch wenn in der Breite der Medizin Adipositas als Krankheit immer noch als “Neuland” gesehen wird. Das IQWiG vermeldete denn auch als Erfolg, dass es zu all denjenigen Versorgungsaspekten, die üblicherweise in den Richtlinienvorgaben des G-BA zu DMPs beschrieben werden, in den Leitlinien potenziell DMP-relevante Inhalte identifiziert hat. Ein großer Wermutstropfen dabei: Ausgerechnet die deutsche Leitlinie der DAG wurde bei der Auswertung des IQWiG nicht berücksichtigt. Sie wird derzeit aktualisiert, der Vorgänger stammt aus dem Jahr 2014 und bildet dementsprechend nicht mehr den aktuellen Versorgungsstandard ab, so das Institut.

Ergebnisse seiner Arbeit legt das IQWiG als Vorbericht stets zur Stellungnahme vor. DAG-Präsident Prof. Dr. Jens Aberle mahnte in seinem Kommentar zu den Recherchen, dass aus medizinischer Sicht die Hürden für den Einschluss in ein DMP Adipositas möglichst niedrig sein sollten, um den gesetzlichen Auftrag nicht zu verfehlen, der da lautet, Behandlungsablauf und Qualität der medizinischen Versorgung chronisch Kranker zu verbessern. Medizinisch wird eine Adipositas über den bekannten Body-Mass-Index (BMI) definiert, das IQWiG verweist auf zusätzliche Parameter wie das Edmonton Obesity Staging System (EOSS) aus Kanada. Die Auswirkungen der Einschluss-Kriterien für ein DMP Adipositas sind enorm: Schätzungsweise 17 Millionen Menschen in Deutschland sind nach klassischen Kriterien adipös, so die DAG, doch die allerwenigsten erhielten eine Therapie gemäß medizinischen Empfehlungen. In etwa 9 von 10 Fällen werde die Erkrankung Adipositas nicht einmal diagnostiziert. Positiv betrachtet: Es gibt viel Raum für Verbesserungen.

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (12) Seite 44-45

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