Menschen mit Diabetes – aber ohne Papiere: Jeder hat ein Recht auf Behandlung

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Menschen mit Diabetes – aber ohne Papiere: Jeder hat ein Recht auf Behandlung | Foto: megaflopp – stock.adobe.com
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Menschen mit Diabetes – aber ohne Papiere: Jeder hat ein Recht auf Behandlung

Bis zu 22.000 Menschen leben in Hamburg ohne Papiere. Sie kommen aus unterschiedlichsten Ländern und arbeiten oft in der Schattenwirtschaft in Hamburg. Aus Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden, gehen sie bei Krankheit nicht zu Ärzten – auch bei Diabetes. Hilfe bietet das Diakonische Werk Hamburg mit dem Projekt „Andocken – Ärztliche und Soziale Hilfe für Menschen ohne Papiere“.

© privat
Im Interview: Dr. Michael Trautmann von der Praxis „Andocken“

Dr. Michael Trautmann ist einer der ehrenamtlich tätigen Ärztinnen und Ärzte im sechsköpfigen Team der Praxis „Andocken“ in Hamburg. Die Einrichtung wird getragen von der Diakonie Hamburg und ist eine ärztliche Praxis mit sozialrechtlicher Beratungsstelle für in der Hansestadt lebende Menschen aus Nicht-EU Ländern, die über keine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügen und nicht krankenversichert sind. Hier wird den Menschen eine hausärztliche und gynäkologische Versorgung unter Zusicherung ihrer Anonymität angeboten. Auch Menschen mit Diabetes ohne Aufenthaltspapiere erhalten hier Hilfe und Unterstützung.

Weitere Informationen: www.diakonie-hamburg.de/de/adressen/andocken

Spendenkonto:
Diakonie-Stiftung
MitMenschlichkeit
Hamburger Sparkasse
IBAN: DE76 2005 0550 1230 1432 55

Diabetes-Anker (DA): Herr Dr. Trautmann, Sie arbeiten in einer Praxis in Hamburg , die sich „Andocken“ nennt. Was ist das für ein Projekt?

Dr. Michael Trautmann: „Andocken“ ist eine Praxis, deren Träger die Diakonie Hamburg ist. „Andocken“ betreut Menschen, die keinen Asylbewerberstatus oder Flüchtlingsstatus haben. Dadurch haben sie auch keine Krankenversicherung und auch keine Möglichkeit, eine Krankenversorgung in Deutschland zu bekommen. In der Einrichtung arbeiten aktuell 15 ehrenamtliche Ärzte, die abwechselnd Sprechstunde anbieten.

DA: Spüren Sie da momentan auch, dass Menschen sich negativ äußern oder dass Sie da sogar angefeindet werden, dass Sie diese Menschen überhaupt betreuen?

Trautmann: Angefeindet wäre jetzt zu hart gesagt, aber im Bekanntenkreis, wenn ich mal so erzähle, was ich so treibe, und das dann auch erwähne, da kommt schon oft die Frage: „Wieso macht ihr das denn? Wir wollen doch eigentlich gar nicht, dass die Menschen hier in Deutschland sind, die keinerlei Aufenthaltsstatus haben. Das sind ja keine Flüchtlinge, denn Flüchtlinge fallen unter das Asylbewerberleistungsgesetz und haben im Prinzip einen Anspruch auf Krankenversorgung.“

DA: Was antworten Sie dann?

Trautmann: Wir haben in dieser Praxis zusätzlich eine Sozialarbeiterin, die mit den Menschen arbeitet und schaut, ob es für den Einzelnen möglicherweise nicht doch einen Asylgrund gibt. Da sind immer wieder Menschen dabei, die das Asylrecht aus irgendwelchen Gründen nicht beantragt haben. Die Stadt Hamburg hat erfreulicherweise eine Clearingstelle von der Gesundheitsbehörde, wo sie Menschen auch ohne jede staatliche Anerkennung medizinische Hilfe zukommen lässt, vor allen Dingen bei akuten Problemen, sprich, wenn jemand zum Beispiel eine Operation aufgrund eines Sturzes braucht.

DA: Wie viele Menschen betreuen Sie im Jahr bei „Andocken“ und wie viele Menschen haben Diabetes?

Trautmann: Wir betreuen in der Allgemeinmedizin zurzeit knapp 600 Patienten im Jahr, davon haben ca. vier Menschen einen Typ-1-Diabetes und ca. 30 Menschen einen Typ-2-Diabetes. Wir betrachten uns als Hausarztpraxis. Wir kümmern uns vor allen Dingen im Sinne einer hausärztlichen Praxis um Menschen mit chronischen Krankheiten, Einzelne kommen auch mal mit akuten Dingen. Wir betreuen auch ca. 200 Schwangerschaften im Jahr in der Gynäkologie.

DA: Was sind denn für Sie die Herausforderungen bei diesen Menschen mit Diabetes-Erkrankungen?

Trautmann: Herausforderungen sind vor allen Dingen die Schulung und Sprache. Die Arbeitssprache ist im Wesentlichen Englisch, teilweise auch Französisch, gelegentlich mal Spanisch. Manche Patienten kommen auch mit Kindern oder Freunden, die gut deutsch können.

DA: Wie gehen Sie vor, wenn Sie einen Menschen mit Typ-2-Diabetes hinsichtlich seiner Therapie betreuen? Geht es da nur um Medikamente?

Trautmann: Wir versuchen schon, nach den evidenzbasierten Kriterien zu behandeln, so, wie wir es auch jedem Menschen mit Krankenversicherung zukommen lassen würden.

DA: Sie sprechen also zunächst über Lebensstil-Änderungen hin­sicht­lich einer sinnvollen Ernährung und ­Bewegung bei Menschen mit Typ-2-Diabetes?

Trautmann: Eine Lebensstil-Änderung ist in der Regel bei diesen Patienten kaum möglich, weil sie von einem Tag zum nächsten gar nicht wissen, wie ihr Leben weitergeht. Da sehr stark mit Ernährungsvorschlägen oder Sportprogrammen zu arbeiten, ist in der Regel illusorisch. Wenn man darüber spricht, löst das meistens nur ein Lächeln aus. Die Gründe sind häufig die gleichen wie bei anderen Menschen mit Typ-2-Diabetes. „Wann soll ich denn Sport treiben, ich muss arbeiten. Außerdem habe ich gar kein Geld, um in einen Sportverein zu gehen.“ Diese erste Stufe der Diabetes-Therapie kommt im Grunde nicht zum Tragen und wir müssen medikamentös behandeln. Aber auch da ist es nicht einfach mit der Sprache und, den Grund der Medikation zu vermitteln, über Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente aufzuklären.

DA: Welche Möglichkeiten gibt es denn, Medikamente zu verordnen? Können Sie nur preiswerte Medikamente verordnen?

Trautmann: Wenn wir Medikamente verordnen, dann machen wir das über ein Privatrezept. Auf das Rezept kommt ein Stempel, dass die Rechnung an „Andocken“ geschickt werden soll. Wir versuchen, jeden Patienten dazu zu bringen, dass er, soweit er kann, einen kleinen Eigenanteil leistet. Jeder Mensch soll es auch wertschätzen, was er an Medikamenten bekommt. Wenn jemand mit Diabetes und Bluthochdruck oder Fettstoffwechsel-Störungen alle drei Monate seine Medikamenten-­Ration holt, dann sind das ja oft weit über 100 Euro und der Eigenanteil bewegt sich dann so im Bereich um 5 bis 10 Euro, den wir von den Patienten erbitten. Wir fragen, ob es den Patienten möglich ist. Wir prüfen aber die Aussagen der Menschen nicht nach.


Ich fände es unethisch, nur die preiswertesten Medikamente zu verordnen und nicht die Medikamente, die wirklich medizinisch individuell am besten geeignet sind.

DA: Sie sagten, dass Sie versuchen, nach evidenzbasierten Kriterien zu behandeln. Wie konkret können Sie denn dann auch moderne Antidiabetika verschreiben, die ja nicht gerade preiswert sind?

Trautmann: Wir setzen die Medikamente ein, wie sie im Grunde in den gegenwärtigen Leitlinien vorgesehen sind. Das heißt, der Standard ist Metformin, dann ein SGLT-2-Hemmer, im Einzelfall auch mal ein Sulfonylharnstoff-Präparat. Wir verordnen aber auch die teuren GLP-1-Rezeptor-Agonisten, wenn es erforderlich ist. Das richtet sich vor allen Dingen auch danach, ob der Patient sagt, dass er vorhat, in sein Heimatland zurückzugehen, wo die Verfügbarkeit der modernen Diabetes-Medikamente in der Regel nicht vorhanden ist.

DA: Das hätte ich nicht gedacht, denn so kommen ja nicht unerhebliche Kosten auf Sie zu.

Trautmann: Ja. Was wir als Ärzte uns vorgenommen haben: die Menschen so zu behandeln, wie das in Deutschland Standard ist. Ich fände es unethisch, nur die preiswertesten Medikamente zu verordnen und nicht die Medikamente, die wirklich medizinisch individuell am besten geeignet sind. Erfreulicherweise hat es immer wieder Großspender gegeben, also gerade für die Diabetes-Therapie gab es über mehrere Jahre Spenden aus den Bußgeldfonds der Hamburger Gerichte.

DA: Menschen mit Typ-1-Diabetes in Deutschland werden vorzugsweise mit ICT oder Insulinpumpen mit CGM-Sensoren oder AID-Systemen behandelt. Welche Therapien haben die Menschen mit Typ-1-Diabetes, die zu Ihnen kommen? Ich selber habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen aus außereuropäischen Ländern keine ICT, sondern eine konventionelle Insulintherapie mit Mischinsulin durchführten. Und dann war auch der ein oder andere überfordert, wenn man ihn auf eine ICT umgestellt hat.

Trautmann: Also, ich schaue ganz klar auf die Blutzuckerkontrolle, gemessen am HbA1c. Wenn jemand mit einer konventionellen Therapie kommt und ein HbA1c von 7 % hat, dann versuche ich, das erstmal weiterlaufen zu lassen und nicht aggressiv umzustellen. Eine systematische Schulung können wir bei uns in der Praxis nicht durchführen. Es führen aber auch Patienten ICT mit gutem Erfolg durch. Probeweise setzen wir immer mal für Einstellungsphasen oder auch bei Frauen mit Gestations­diabetes kontinuierliche Glukose-Messsysteme ein. Hier sind wir immer wieder dankbar, wenn wir von den Unternehmen Sensoren zur Verfügung gestellt bekommen. Die meisten Patienten messen weiter Blutzucker regelmäßig oder unregelmäßig.

DA: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hürden hinsichtlich einer guten Glukoseeinstellung?

Trautmann: Man muss sehen, dass wir es bei einem Teil unserer Patienten nicht schaffen, die Therapieziele, die wir uns eigentlich mit den Patienten zusammen vorgenommen haben, zu erreichen. Das liegt meistens an den Lebensumständen der Patienten. Die Patienten leben oft von einem Tag in den anderen. Leben, das heißt, sie kommen nicht zu dem nächsten Termin, der vorgesehen ist, bevor ihre Medikamente zu Ende sind. Sie stellen eines Tages fest, dass die Medikamente zu Ende gehen, und kommen dann zwei Wochen später. Die Patienten kommen, wenn es ihnen schlecht geht. Oder kommen eben nicht, wenn es ihnen gut geht, und nicht wie bei uns im Rahmen regelmäßiger Gesundheitspass-Diabetes-Untersuchungen.

DA: Welche Rolle spielen Folge­erkrankungen in der Versorgung und welche Möglichkeiten haben Sie hier, die Menschen adäquat zu versorgen?

Trautmann: Ich sehe im Moment keinen Patienten vor mir, wo wir mit echten Folgeerkrankungen zu tun hätten. Die meisten Patienten sind relativ jung, auch mit Typ-2-Diabetes, sie sind dann in den Vierzigern, Fünfzigern. Und nur ein Patient hat eine periphere Neuropathie. Wir haben keinen Patienten, der dialysepflichtig wäre, das ginge ja auch gar nicht, wir können ja keine Dialyse machen.

DA: Das heißt, die Menschen haben alle noch nicht so lange Diabetes?

Trautmann: Ja, ­offensichtlich. Durch die Behandlung, die wir ihnen zukommen lassen, hoffen wir, die schlimmsten Folgeerkrankungen abzuwenden.

DA: Was ist Ihre Botschaft in der Versorgung dieser Menschen und was wird gebraucht? Wie und wo kann man unterstützen?

Trautmann: Meine Botschaft ist, dass Menschen mit Krankheiten Behandlung brauchen, völlig unabhängig davon, was für einen Status sie haben. Wir brauchen hauptsächlich Spenden, damit wir unsere Arbeit weiter leisten können. Die Kirche, die ja die Diakonie finanziert, steht unter Druck durch zurückgehende Kirchensteuer-Einnahmen. Wir mussten zu unserem großen Bedauern die Hebammenstellen streichen, die wir in der Praxis hatten. Wir freuen uns auch über Spenden von Hilfsmitteln wie Blutzucker-Messstreifen oder auch CGM-Systemen.

DA: Ich danke Ihnen sehr für das Interview und die spannenden Einblicke in Ihre Arbeit.
Schwerpunkt: Diabetes in schwierigen Lebenslagen

Interview: Dr. Jens Kröger

Erschienen in: Diabetes-Anker, 2024; 72 (11) Seite 15-17

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