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Viele Patienten und Ärzte sind von den mit „Closed-Loop“-Systemen „Marke Eigenbau“ erzielbaren Ergebnissen begeistert. Allerdings wird in mancher Begeisterung oft übersehen, dass der Einsatz solcher Systeme im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass Menschen sterben oder erhebliche Gesundheitsschäden davontragen.
Im Internet kursieren Anleitungen, wie Patienten sich „Closed-Loop“-Systeme selbst bauen können. Man nimmt eine Pumpe, ein CGM und ein Smartphone, installiert eine Software aus dem Internet – und schon hat man einen gut funktionierenden Ersatz für die Bauchspeicheldrüse. Oder?
So einfach ist es natürlich nicht, auch wenn die euphorischen Berichte im Internet oder auf Kongressen es manchmal vermuten lassen. In der Begeisterung wird oft übersehen, dass der Einsatz solcher Systeme schlimmstenfalls dazu führen kann, dass Menschen sterben oder Gesundheitsschäden davontragen. Unlängst war ich auf einem Vortrag, den der Vortragende, ein Arzt, so eröffnete:
„Solche Systeme sind eigentlich nicht zulässig, und ich sage daher auch ganz ausdrücklich, dass Ärzte das weder empfehlen noch dazu schulen dürfen. Aber glücklicherweise kann und darf der Patient ja selbst entscheiden, ob er ein solches System nutzt und mögliche Risiken in Kauf nimmt. Und das hat auch gute Gründe, denn …“
Anschließend wurde ausführlich beschrieben, wie solche Systeme funktionieren, wo es Anleitungen und Hilfe zum Zusammenbau gibt und welche beachtlichen Ergebnisse und Therapieverbesserungen damit beobachtet werden konnten.
Closed Loop – der „geschlossene Kreis“: Was verbirgt sich hinter diesem Begriff, der zunehmend im Zusammenhang mit Diabetes auftaucht? Ein Closed-Loop-System ist ein System, das theoretisch vollautomatisch die Aufgaben der Bauchspeicheldrüse übernimmt in Bezug auf das Steuern des Glukosestoffwechsels – eine künstliche Bauchspeicheldrüse also.
Bisher gibt es offiziell ein solches System nicht. Aber damit geben sich einige Diabetiker weltweit nicht zufrieden und bauen sich ihre Closed-Loop-Systeme selbst. Allerdings sind diese Systeme bisher nicht wirklich vollautomatisch, auch weil ihnen der Gegenspieler des Insulins, das Glukagon, fehlt. Und bevor die Systeme die Steuerung übernehmen, müssen die Anwender einige individuelle Parameter eingeben – wie man das von Insulinpumpen und Systemen zum kontinuierlichen Glukosemonitoring (CGM) kennt. Auch danach ist Aufmerksamkeit gefragt, denn Technik kann ausfallen, die Parameter können sich verändern.
Was aber braucht man für ein Closed-Loop-System als Do-it-yourself (DIY)? Da das System kontinuierlich Glukosewerte des Körpers benötigt, ist ein CGM-System notwendig. Um stetig Insulin abgeben zu können, gehört eine Insulinpumpe dazu. Und diese beiden Systeme müssen über Algorithmen miteinander verbunden werden, damit sie korrekt zusammenarbeiten: Hierfür setzen „Looper“ Apps ein, so dass auch ein Smartphone erforderlich ist. Während Insulinpumpen und CGM-Systeme kommerziell verfügbar sind, wurden und werden die Apps in Eigenregie gebaut. Sie liegen als Software mit öffentlichem Quelltext vor – jeder kann sie nach seinem Bedarf programmieren.
Bei aller Begeisterung von den Möglichkeiten – das halte ich doch für sehr problematisch. Innovation in der Diabetes-Technologie ist wichtig, und man muss oft viele Bedenken (und Bedenkenträger) überwinden, um die Dinge voranzubringen.
Ich erinnere mich gut, als ich 1996 an einem internationalen Diabetes-Kongress vor knapp 1.000 Ärzten die Umsetzung meiner Vision für ein softwaregestütztes Diabetes-Datenmanagement vorstellte und fast nur belächelt wurde. Nur wenige konnten sich damals ernsthaft vorstellen, dass Blutzuckerauswertungen am PC Nutzen für die Diabetestherapie bringen.
Als jemand, der sich seit Langem und intensiv mit Diabetes-Technologie befasst, bin ich absolut begeistert von den Möglichkeiten der Closed-Loop-Systeme. Die Technikbegeisterung darf aber nicht so weit gehen, dass das Leben und die Gesundheit fahrlässig aufs Spiel gesetzt werden. Wer dies dennoch tut, der muss meiner Meinung nach vollkommen zu Recht mit Konsequenzen rechnen.
Und das ist auch einer der Knackpunkte in der Diskussion um das Thema „loopen“: Viele Nutzer wie auch begeisterte Ärzte gehen wie selbstverständlich davon aus, dass die Systeme so sicher sind, dass nichts Schlimmes passieren wird. Tatsächlich dürfte das Risiko aber niemand seriös einschätzen können; man weiß es schlicht nicht!
Das wohl größte Risiko dürfte darin bestehen, dass es aufgrund eines Softwarefehlers oder anderer technischer Komplikationen zu einer unkontrollierten Ausschüttung von Insulin kommt, die zu einer schweren Unterzuckerung führt. Wir können uns dazu das Kind auf dem Fahrrad vorstellen, bei dem das System plötzlich eine unerwartet hohe Insulinmenge abgibt. Oder jemanden, der gerade Auto fährt und dem durch das System unbemerkt eine hohe Insulindosis zugeführt wird.
Auch wenn die Unterzuckerung selbst vielleicht keine Schäden verursacht: Das Kind könnte stürzen und sich dabei schwer verletzen. Auch die Gefahr beim Autofahren dürfte klar sein. Fatal dabei: Wenn es zu einem Unfall kommt, ist eben meist nicht allein der Fahrer betroffen, sondern vielleicht auch der Beifahrer oder die Kinder, die hinten mitfahren. Oder es werden noch andere Menschen geschädigt.
Diese Risiken werden oft schöngeredet: Meist heißt es, dass die Systeme in der „Crowd“ extrem gut getestet seien und man viele Sicherheitsmaßnahmen eingebaut habe, um solche Fehler zu vermeiden. Das mag stimmen und kann das Risiko von Fehlern der Software verhindern. Es muss aber für jeden klar sein: Software ist nie ganz fehlerfrei.
Hinzu kommt, dass selbst die Entwickler-Community die Risiken nicht abschätzen kann: Nachdem die Systeme auf Insulinpumpen zugreifen und diese (teils unter Ausnutzen von Sicherheitslücken) auf nicht vom Hersteller vorgesehenen Weg ansteuern, gibt es im Zusammenspiel der verwendeten Komponenten enormes Risikopotenzial. Denn die in der Pumpe verwendete Software ist der Entwickler-Community ja nicht zugänglich. Und die Pumpensoftware selbst kann ja auch Fehler oder Schwachstellen haben.
Auch die verschiedenen Betriebssysteme können Fehler verursachen: So kann es passieren, dass es bei einem bis dahin tadellos funktionierenden Closed Loop nach einem Betriebssystem-Update plötzlich zu einem gravierenden Fehler kommt. Natürlich wird das die Entwickler-Community wohl schnell beheben. Das bringt aber nichts, wenn der Schaden am eigenen Körper oder am eigenen Kind schon eingetreten ist.
Ich glaube, dass die Systeme zuverlässig funktionieren und heute von der Community so gut ausgetestet sind, dass sich die Risiken in Grenzen halten. Aber wir sollten bedenken, dass renommierte Unternehmen mit klugen Köpfen und viel Geld schon seit Jahren daran arbeiten, Closed-Loop-Systeme in Europa marktreif zu machen.
Ich glaube nicht, dass man dort „unfähig“ ist oder fertige Systeme aus markttaktischem Kalkül „in der Schublade“ hat verschwinden lassen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass man einfach noch nicht so weit ist, um das System ohne Angst vor Haftungsprozessen für Patienten freigeben zu können. Und das ist der entscheidende Ansatz für die damit verbundenen juristischen Fragen.
Ein Rechtsgutachten der Deutschen Diabetes Gesellschaft fasst zutreffend zusammen:
„Für Patienten, die sich aus Medizinprodukten ein geschlossenes System nur zum Eigengebrauch zusammenbauen („Looper“), gilt:
Diese Einschätzung ist meines Wissens bislang unter Juristen nicht umstritten. Auf Vorträgen oder im Internet wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Einsatz solcher Systeme durch den Patienten zulässig sei, der Arzt dürfe das nur nicht offiziell so empfehlen oder schulen. Leider ist dies nur die halbe Wahrheit: Ja, jeder Patient kann frei und eigenverantwortlich entscheiden, ob er ein solches System einsetzt und die Risiken für sich in Kauf nimmt.
Er handelt dadurch nicht illegal und macht sich nicht strafbar. Man macht das dann aber auf eigene Gefahr: Wenn etwas passiert, dann müssen die Hersteller der verwendeten Insulinpumpen bzw. Glukosemesssysteme im Zweifel nicht haften. Die Kehrseite der Medaille wird nur am Rande thematisiert oder gar verschwiegen.
Eine Strafbarkeit und Haftung droht nämlich ab dem Moment, ab dem die Grenze der Selbstgefährdung überschritten wird, d. h. wenn auch andere Menschen in Gefahr kommen können. Dies betrifft dann nicht nur den Patienten selbst, sondern womöglich auch die behandelnden Ärzte und die Hersteller der verwendeten Pumpen bzw. CGM-Systeme.
Stellen Sie sich hierzu vor, wie die obigen Fälle weitergehen könnten: Aufgrund einer Fehlfunktion des Systems kommt es zu einer plötzlichen, überhöhten Insulinausschüttung; das Kind fällt in eine schwere Unterzuckerung und stürzt deswegen vom Fahrrad, dabei fällt es unglücklich und verletzt sich tödlich. Nun stehen die Eltern vor Gericht, man wirft ihnen vor, dass sie am Tod des Kindes mit schuld seien bzw. diese Folge mindestens fahrlässig verursacht hätten.
Sie hätten mit dem Einsatz des Closed Loop zwar in bester Absicht gehandelt. Den Eltern hätte jedoch klar sein müssen, dass sie ihr Kind als Experimentier-Objekt für ein nicht ungefährliches System einsetzen, für welches die gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheits- und Zulassungsvoraussetzungen nicht nachgewiesen sind. Es sei aber absolut unverantwortlich, das eigene Kind einem solchen vollkommen unüberschaubaren Risiko auszusetzen und sich dabei im Wesentlichen nur auf Erfahrungsberichte anderer Patienten zu verlassen.
Halten Sie es wirklich für ausgeschlossen, dass das Gericht einer solchen Argumentation folgt?
Stellen Sie sich ein Ehepaar im Scheidungskrieg vor: Es wird um das Sorgerecht für das Kind gestritten. Dem sorgeberechtigten Elternteil wird mit obigen Argumenten vorgeworfen, dass er/sie leichtfertig und ohne zwingenden medizinischen Grund das Kind einer permanenten Lebensgefahr aussetze, nur weil er/sie technikbegeistert sei und eine „überperfekte“ Diabeteseinstellung anstrebe. Selbst der Arzt habe vom Einsatz des Systems abgeraten.
Halten Sie es wirklich für ausgeschlossen, dass Jugendamt bzw. Gericht einer solchen Argumentation folgen?
Die rechtlichen Fragen gehen weiter: Nehmen wir an, das Kind ist durch den Sturz „nur“ schwer verletzt; glücklicherweise haben die Eltern für das Kind eine Unfall- und Invaliditätsversicherung abgeschlossen. Nun geht es darum, dass die Versicherung bezahlen soll. Die Versicherung verweigert die Zahlung aber unter Hinweis auf grobe Fahrlässigkeit.
Das Kind müsse sich dabei das Verhalten der Eltern zurechnen lassen: Wer absichtlich und unter Inkaufnahme der damit verbundenen Risiken ein solches System einsetze, der könne nicht die Versicherung in Anspruch nehmen, wenn sich ein solches Risiko dann eben tatsächlich auch realisiere.
Halten Sie es wirklich für ausgeschlossen, dass Gerichte einer solchen Argumentation der Versicherung folgen werden?
Der Fall des Autofahrens ist aus juristischer Sicht recht klar: Mit einem nicht zugelassenen System darf man sich nicht ans Steuer setzen. Wer es dennoch macht und hierdurch das Leben und die Gesundheit anderer Personen gefährdet, der macht sich strafbar und muss schlimmstenfalls mit Gefängnis rechnen – auch dann, wenn nichts passiert ist.
Auch Ärzte/Diabetesberatung müssen zumindest bei schweren Folgen damit rechnen, dass man ihnen ein Mitverschulden vorwirft. Das Gericht wird dabei prüfen, ob das Behandlungspersonal wusste bzw. wissen musste, dass am Kind ein solches System „ausprobiert“ wird und ob man dann den Eltern ernsthaft und nachdrücklich davon abgeraten bzw. auf die Risiken hingewiesen hat, was die ärztliche Pflicht gewesen wäre.
Weiterhin wird man prüfen, ob der Arzt den Einsatz des Closed Loops womöglich aktiv gefördert bzw. unterstützt hat. Dies könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn der Arzt „Loopern“ eine Plattform zum Austausch über Erfahrungen im Umgang mit den selbstgebauten geschlossenen Systemen angeboten oder gar selbst Schulungsmaßnahmen durchgeführt hat.
Auch könnte es problematisch sein, wenn der Arzt durch die (Weiter-)Verordnung von passendem Insulin oder Sensoren das Loopen ermöglicht hat, obwohl ihm klar war, dass Insulinpumpe und CGM-System nicht entsprechend der vom Hersteller vorgegebenen Zweckbestimmung eingesetzt werden. Mit Aufklärung über einen solchen „Off-Label-Use“ kann der Arzt zwar sein Haftungsrisiko reduzieren. Gerade wenn aber Kinder betroffen sind, wird man hier sehr strenge Maßstäbe anlegen.
Im Fall des Autofahrers ist auch klar: Wenn der Arzt den Patienten nicht unmissverständlich darüber aufgeklärt hat, dass er mit seinem Closed Loop nicht Auto fahren darf, dann wird er wohl kaum einer (Mit-)Haftung entgehen können.
Auch die Hersteller der Insulinpumpen und CGM-Systeme, aus denen die Closed-Loop-Systeme gebaut werden, werden nicht ganz aus der Verantwortung sein. Man könnte ihnen womöglich vorwerfen, dass sie als Medizinproduktehersteller den Markt beobachten und auf die hochriskante, zweckentfremdende Nutzung ihrer Produkte die vorgeschriebenen Maßnahmen (z. B. Warnungen, Produktrückrufe zur Behebung der Sicherheitslücken) hätten treffen müssen.
Hier bin ich mir sicher: In einem solchen Fall könnte dem betreffenden Hersteller zumindest in den USA ein teurer Prozess drohen.
von Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte
Nägelestraße 6A, 70597 Stuttgart oder
Friedrichstraße 49, 72336 Balingen
E-Mail: Sekretariat@rek.de
Internet: www.diabetes-und-recht.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (4) Seite 56-59
5 Minuten
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