- Soziales und Recht
So kann Inklusion nicht funktionieren
4 Minuten
Ein Rundschreiben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW, LV Rheinland-Pfalz, Landesfachgruppe Grundschulen) sorgt für Empörung (siehe DJ 8, Blickwinkel): Darin wird den Gewerkschaftsmitgliedern nahegelegt, medizinische Hilfsmaßnahmen für Kinder mit Diabetes abzulehnen. Oliver Ebert mit einer Einordnung.
Der Diabetes bringt bei Kindern oft auch in Kindergarten und Schule große Probleme mit sich. Wenn das Kind noch nicht den Blutzucker messen bzw. Insulin spritzen kann, stehen Eltern vor einem Dilemma: Sie können bei Krankenkasse oder Integrationsamt eine Begleitperson beantragen. Aber selbst mit einer solchen Unterstützung ist kaum eine optimale Betreuung möglich, denn oft stehen Begleitperson oder Pflegedienst nur zeitweise zur Verfügung.
Vielerorts ist es schwierig, überhaupt qualifizierte Personen zu finden. Hinzu kommt: Wenn ein Pflegedienst am Tag mehrmals in eine Schule fahren soll zum Blutzuckermessen etc., steht der Zeitaufwand selten in angemessenem Verhältnis zu den Gebührensätzen der Krankenkassen.
GEW dagegen, „zusätzliche Aufgaben auf Lehrkräfte abzuwälzen“
Meist sind Lehrer engagiert und übernehmen Überwachungs- und Hilfsaufgaben. Sie ermöglichen so praktische Inklusion (Eingliederung) und übernehmen die Aufgabe des Staates: Denn nach der UN-Behindertenrechtskonvention haben Kinder und Jugendliche das Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu einer ortsnahen Regelschule.
Für Empörung sorgtdaher ein Rundschreiben der GEW, Landesverband Rheinland-Pfalz, Landesfachgruppe Grundschulen. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte Lehrer zuvor aufgefordert, sich im Umgang mit Kindern mit Diabetes weiterzubilden. Betroffenenverbände, ehrenamtlich engagierte Ärzte bzw. Diabetesberaterinnen oder Krankenkassen bieten den Pädagogen hierzu vielerorts kostenlose Schulungen an.
Mit einem Rundschreiben wendete sich die GEW dagegen, solche “zusätzlichen Aufgaben, für die Fachkräfte erforderlich sind, auf Lehrkräfte abzuwälzen”. Die Gewerkschaft weist darauf hin, dass Lehrer nicht dazu verpflichtet seien, “medizinische Hilfsmaßnahmen an den betroffenen Kindern durchzuführen”.
GEW: Eltern sollen Pflegekräfte beantragen
Statt das Engagement vieler Lehrer zu loben, die freiwillige Aufgaben übernehmen, bzw. auch weitere Lehrer zu entsprechender Unterstützung zu motivieren, legt die GEW nahe, solche freiwilligen Tätigkeiten einzustellen: Hierbei handele es sich um eine fachfremde Leistung – auch nach erfolgter Anleitung und schriftlicher Vereinbarung.
Für die Erstversorgung sei die Teilnahme an Erste-Hilfe-Kursen ausreichend; Eltern von Kindern mit Diabetes sollten bei ihren Krankenkassen Pflegekräfte beantragen, da eine sichere medizinische Versorgung durch die Lehrkräfte nicht gewährleistet sei. Es folgt ein klarer Handlungsaufruf: “Wir empfehlen: Mut zum Ablehnen einer fachfremden Tätigkeit!”
Es ist zwar legitim, dafür zu kämpfen, dass von Lehrern zusätzlich übernommene Aufgaben angemessen vergütet werden bzw. die Lehrer hierbei hinreichend abgesichert sind. Wenn die GEW aber dazu aufruft, ihre Interessen auf dem Rücken behinderter Menschen durchzusetzen, dann ist das schlicht empörend. Allerdings – ohne dass ich dabei Verständnis für die GEW habe – könnte es neben den berufspolitischen Interessen vielleicht doch auch noch andere Gründe für deren Schreiben geben:
Respekt gegenüber den Lehrern nötig
Lehrer sind keine Pflegekräfte und haben keine medizinische Ausbildung. Auch ein paar Stunden Schulung ersetzen nicht die mehrjährige Ausbildung, die in medizinischen Berufen vorausgesetzt wird. Wenn ein Lehrer freiwillig das Spritzen von Insulin übernommen hat, er dabei jedoch versehentlich einen Fehler macht und das Kind zu Schaden kommt, dann dürften die wenigsten Eltern Verständnis und Nachsicht zeigen. Womöglich muss der Lehrer sogar auch mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, selbst wenn die Eltern im Vorfeld eine “Haftungsverzichtserklärung” unterzeichnet haben.
Betrüblicherweise ist es oft so,dass Eltern eine übertriebene Fürsorge an den Tag legen bzw. überzogene Forderungen stellen und von Schule und Lehrer erwarten, dass ihr Kind wegen des Diabetes bevorzugt behandelt wird. Oft wird gegenüber den Lehrern auch jegliches Maß an Höflichkeit und Respekt außer Acht gelassen; dazu wird leider selten versucht,den Lehrern deren ja gar nicht so unbegründete Ängste zu nehmen.
Auch übermäßig fordernde Eltern stellen ein Problem dar
Dagegen wird vielfach überdramatisiert, was alles passieren kann, wenn der Blutzucker nicht rechtzeitig gemessen, nicht die richtige Insulinmenge gespritzt, zu viel oder zu wenig gegessen oder Sport gemacht wird. Auch ich habe häufig mit wirklich unangenehmen Eltern zu tun und kann mir gut vorstellen, warum die Lehrer bzw. die Schule dann mauern. Man braucht sich unter solchen Vorzeichen nicht zu sehr zu wundern, wenn Lehrer zögern, freiwillig irgendwelche zusätzlichen Risiken zu übernehmen.
Besonders schlimm fand ich den Fall einer Mutter, die “aus Prinzip” nicht die von der Schule erbetene Haftungsverzichtserklärung unterzeichnen wollte. Schule und Lehrer hätten sich um das Kind gekümmert; man wollte sich aber gegen Regressansprüche absichern, falls durch dieses freiwillige “Kümmern” etwas passieren sollte. Ich riet der Mutter, dies im Interesse des Kindes doch zu machen, denn selbstverständlich wären die Lehrer auch mit Haftungsverzicht nicht von jeglicher Sorgfaltspflicht im Umgang mit dem Kind befreit.
Trotzdem wollte die Mutter das “aus Prinzip” nicht akzeptieren. Das Kind musste daher auf eine 10 km entfernte Schule wechseln. Da dort die Lehrer zum Messen und Spritzen aber überhaupt nicht bereit waren, wurde letztlich eine Begleitperson bzw. der Einsatz des Pflegedienstes notwendig.
Keine übertriebenen Forderungen stellen und Ängste nehmen
Aufseiten der Eltern ist dringend erforderlich, dass man den Lehrern Ängste nimmt und keine übertriebenen Forderungen stellt; man sollte sich bei engagierten Lehrern auch ruhig einmal bedanken. Umgekehrt haben Lehrer neben dem Bildungsauftrag auch eine Fürsorgepflicht für die ihnen anvertrauten Kinder; sie sind Angestellte oder Beamte des Staates und müssen auch für ihren jeweiligen Bereich dafür bestmöglich beitragen, dass die staatliche Verpflichtung zurInklusion behinderter Menschenerfüllt werden kann.
Berufspolitische Interessen sollten nicht über sozialem Engagement und Mitmenschlichkeit stehen. Und schließlich muss natürlich auch von staatlicher Seite dafür gesorgt werden, dass Lehrer hinreichend abgesichert sind und den Schulen das für eine erfolgreiche Inklusion erforderliche Personal bzw. die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen.
von Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte
Nägelestraße 6A, 70597 Stuttgart oder
Friedrichstraße 49, 72336 Balingen
E-Mail: Sekretariat@rek.de
Internet: www.diabetes-und-recht.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (10) Seite 58-59
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sveastine postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Diabetes und Psyche vor 6 Tagen, 12 Stunden
hallo, ich hab schon ewig Diabetes, hab damit 4 Kinder bekommen und war beruflich unterschiedlich unterwegs, in der Pflege und Pädagogik. Seit ein paar Jahren funktioniert nichts mehr so wie ich das möchte: die Einstellung des Diabetes, der eigentlich immer gut lief, Sport klappt nicht mehr….ich bin frustriert und traurig..so kenne ich das nicht.. Geht es jemanden ähnlich? Bin 53…Viele grüße. Astrid
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stephanie-haack postete ein Update vor 1 Woche
Wir freuen uns auf das heutige virtuelle Community-MeetUp mit euch. Um 19 Uhr geht’s los! 🙂
Alle Infos hier: https://diabetes-anker.de/veranstaltung/virtuelles-diabetes-anker-community-meetup-im-november/
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lena-schmidt antwortete vor 1 Woche
Ich bin dabei 🙂
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insulina postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Reisen mit Diabetes vor 3 Wochen, 1 Tag
Hallo Zusammen,
ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
Wenn ´s weiter nichts ist… .
Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
Nina-
darktear antwortete vor 2 Wochen, 2 Tagen
Hallo Nina,
als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig
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Liebe Astrid! Ich gerade 60 geworden und habe seit 30 Jahren Typ 1, aktuell mit Insulinpumpe und Sensor versorgt. Beim Diabetes läuft es dank des Loop gut, aber Psyche und Folgeerkrankung, Neuropathie des Darmes und fehlende Hypoerkennung, machen mir sehr zu schaffen. Bin jetzt als Ärztin schon berentet und versuche ebenfalls mein Leben wieder zu normalisieren. Kann gut verstehen, wie anstrengend es sein kann. Nicht aufgeben!! Liebe Grüße Heike
@mayhe: Hallo liebe Heike, danke für deine schnelle Antwort, das hat mich sehr gefreut. Nein aufgeben ist keine Option, aber es frustriert und kostet so viel Kraft. Ich hoffe dass ich beruflich noch einen passenden Platz finde. Und danke dass du dich gemeldet hast und von deiner Situation berichtet. Das ist ja auch nicht einfach. Und ich wünsche auch dir eine gewisse Stabilisierung…jetzt fühle ich mich mit dem ganzen nicht mehr so alleine. Was machst du denn sonst noch? Viele Grüße Astrid
Liebe Astrid! Ja, das Leben mit Diabetes ist echt anstrengend. Es kommt ja auf den normalen Wahnsinn noch oben drauf. Ich habe den Diabetes während der Facharztausbildung bekommen und ehrgeizig wie ich war auch damit beendet. Auch meinen Sohn, 26 Jahre, habe ich mit Diabetes bekommen. Hattest bei den Kindern auch schon Diabetes? Leider bin ich von Schicksalsschlägen dann nicht verschont geblieben. Was dann zu der heutigen Situation geführt hat. Ich habe durchgehalten bis nichts mehr ging. Jetzt backe ich ganz kleine Brötchen, freue mich wenn ich ganz normale kleine Dinge machen kann: Sport, Chor, Freunde treffen, usw. Ich würde mich zwar gerne aufgrund meiner Ausbildung mehr engagieren, dazu bin ich aber noch nicht fit genug. Was machst du so und wie alt sind deine Kinder? Bist du verheiratet? Liebe Grüße Heike