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Evidenzbasierte Leitlinien brauchen wissenschaftliche Daten als Quellen. Oft sind das randomisierte, kontrollierte klinische Studien, der Gold-Standard unter den Studien. Ebenfalls wertvoll und bei manchen Fragestellungen der einzige Weg zu validen Informationen sind Register und Versorgungs-Daten. Doch die bürokratischen Hürden zur Nutzung sind hoch, wie jetzt die AWMF beklagte.
Eine medizinische Leitlinie ist im Idealfall die Krönung der evidenzbasierten Medizin. Diagnostisches und therapeutisches Handeln soll sich danach auf wissenschaftliche Belege stützen und nicht nur auf plausibel klingende Theorien oder die Meinung von Experten. In Deutschland liegt das Erstellen von Leitlinien in den Händen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, was laut Prof. Dr. Rolf-Detlef Treede, Präsident der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), im internationalen Vergleich durchaus eine Besonderheit ist. Oft werden sie zum Beispiel in Frankreich oder auch den USA von staatlichen Stellen verfasst.
Eine Folge davon könne eine sinkende Akzeptanz der Leitlinien bei den Behandlern sein, warnte Prof. Josef Hecken auf einer Pressekonferenz der AWMF Ende April. Als „Staatsmedizin“ würden solche Papiere mit einer Versorgung assoziiert, die sich auch an politischen Zwängen orientiert, gab der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu bedenken.
Hecken verwies aber auch auf ein Problem des deutschen Konstrukts: „Wenn Sie die Verantwortung haben, aber kein Geld, haben Sie ein Problem!“, die Fachgesellschaften werden für die Erstellung der Leitlinien nämlich nicht bezahlt. Problematisch sei dies insbesondere für kleinere Fachgesellschaften und bei speziellen, komplexeren Patienten-Gruppen. Er habe sich daher vor dreieinhalb Jahren dafür eingesetzt, dass aus dem vom G-BA verwalteten Innovationsfonds zur Förderung von neuen Versorgungs-Formen und Versorgungs-Forschung jährlich mindestens fünf Millionen Euro für das Erstellen von evidenzbasierten Leitlinien in Bereichen eingesetzt werden, die einen solchen Bedarf haben. „Die jährlich mit am besten angelegten fünf Millionen Euro“ des Fonds, lobte Hecken.
Die Basis für Leitlinien bilden medizinische Forschung und deren Erkenntnisse. „Doch die Gesetzgebung hat in den vergangenen Jahren zunehmend Hürden für die klinische Forschung aufgebaut, was am Beispiel der Digitalisierung besonders deutlich wird“, kritisierte Prof. Dr. Dr. Henning Schliephake, stellvertretender Präsident der AWMF. Weil Gesundheits-Daten bereits heute digital erfasst werden, entstehen in den Registern der Krankenkassen große Mengen an medizinischen Informationen. Sie können dazu beitragen, Kenntnisse über die medizinische Versorgungs-Realität zu gewinnen: Mithilfe dieser Routine-Daten lässt sich beispielsweise der unmittelbare Nutzen bestimmter Behandlungen erforschen. Derzeit stünden diese Daten aber nicht für die Forschung zur Verfügung.
Auch bei der Nutzung von Register-Daten gebe es bürokratische Hürden. „Wir haben einen großen Datenschatz, der sehr gut gehütet wird“, veranschaulichte er – und das prinzipiell aus gutem Grund, Stichwort Datenschutz. „Es besteht die Gefahr, dass hier riesige Daten-Friedhöfe entstehen, deren großes Potenzial für die Gesundheits-Forschung ungenutzt bleibt“, warnte Schliephake vor den Folgen eines überambitionierten Schutzes. Die AWMF fordert die Politik deshalb auf, die Nutzung von Gesundheits-Daten für die Forschung klar zu regeln und den Zugang zu diesen Daten zu erleichtern.
Ein Beispiel für diesen Datenschatz sind die Abrechnungs-Daten aller 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland. Die standen bisher schon nach den Vorgaben der Datentransparenz-Verordnung zur Verfügung, doch die Daten seien zu alt und zu schwer zugänglich gewesen, gestand Prof. Dr. Karl Broich auf der Veranstaltung zu. Der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) berichtete, dass mit dem Forschungsdatenzentrum (FDZ) jetzt ein für Forscher nutzerfreundliches Frontend für diese Daten entwickelt wird. Zurzeit können leider noch keine Anträge zur Daten-Nutzung gestellt werden, da aktuell die rechtlichen, technischen, personellen und organisatorischen Maßnahmen des neuen FDZ definiert und implementiert werden, wie es beim BfArM heißt. Es habe einige Verzögerungen gegeben, so Broich, im Verlauf des Sommers solle das Portal aber an den Start gehen.
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (6) Seite 46-47
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