Weniger Unterzucker durch neue Techniken?

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Weniger Unterzucker durch neue Techniken?

Technische Innovationen – z. B. verbesserte Blutzuckermesssysteme, Insulinpumpen, kontinuierliche Glukosemessung (CGM) oder Flash-Glukosemessung (FGM) – können helfen, Unterzuckerungen (Hypogklykämien, abgekürzt: Hypos) zu vermeiden. Prof. Dr. Lutz Heinemann war an vielen Entwicklungen der letzten Jahre persönlich beteiligt. Im Interview spricht er auch darüber, was die Techniken der Zukunft bringen können.

Diabetes-Journal (DJ): Wenn man bei niedrigen Blutzuckerwerten den Blutzucker misst – wie sehr kann man den gemessenen Werten trauen?
Lutz Heinemann:
Leider immer noch nicht besonders. Es gibt bisher wenige Untersuchungen, bei denen gezielt die Messgüte im niedrigen Blutzuckerbereich studiert wurde. Diese deuten auf beachtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Geräten hin. Hier gilt es dringend, genauer hinzusehen. Also, ich wäre bei Messwerten unterhalb von 65 mg/dl (3,6 mmol/l) vorsichtig, denn der wahre Wert kann durchaus nicht unerheblich anders sein.

DJ: Welche technischen Möglichkeiten gibt es, um mit einer Insulinpumpe in Zukunft noch besser Unterzuckerungen zu vermeiden?
Heinemann:
In der Praxis sind viele Probleme, die bei Pumpen auftreten, durch mangelhafte Infusionssets bedingt. Verbesserungen hierbei sollten helfen, Blutzuckerschwankungen zu reduzieren, was aber erst in größeren klinischen Studien geklärt werden muss. Die Kopplung von Pumpen mit Glukosesensoren und die automatische Überwachung der Insulininfusion durch “clever” reagierende Pumpen werden meines Erachtens zu einer deutlichen Verminderung des Risikos von Unterzuckerungen beitragen.

Die Entwicklung geht schon in Richtung eines künstlichen Pankreas (künstliche Bauchspeicheldrüse), wo durch Abschalten der Insulinzufuhr oder durch gezielte Insulinabgabe nicht nur das Risiko von Unterzuckerungen hoffentlich vollständig vermieden werden kann, sondern gleichzeitig auch zu hohe Zuckerwerte. Solche Systeme wurden bereits unter alltäglichen Bedingungen erfolgreich getestet und sind bald auf dem Markt erhältlich.

DJ: Was haben wir von Studien zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) in Hinblick auf die Häufigkeit von Unterzuckerungen gelernt?
Heinemann:
Wie uns verschiedene zusammenfassende Analysen der klinischen Studien mit CGM-Systemen gezeigt haben, führt die häufige Nutzung dieser diagnostischen Möglichkeit zu einer nachweisbaren Verminderung des Auftretens von Unterzuckerungen. Der Nutzer sieht, wie sein Glukoseverlauf ist, und kann entsprechend direkt reagieren. Diese Aussage gilt leider noch nicht für alle Formen der Insulintherapie; sie gilt vorrangig für Patienten, die bestimmte Insulinpumpen nutzen, und für erwachsene Patienten.

DJ: Können mit der Methode der Flash-Glukosemessung (FGM) Unterzuckerungen früher erkannt und vermieden werden?
Heinemann:
Vermutlich hilft auch diese Methode, allerdings gibt es bisher keinen wissenschaftlichen Beleg dafür – die Ergebnisse von klinischen Studien stehen noch aus. Dabei ist die Nutzergruppe dieser Methode eher anders als die bei CGM-Systemen. FGM wird viel von Patienten mit Typ-2-Diabetes angewendet, die bisher nur einige Male am Tag ihren Blutzucker gemessen haben, CGM-Systeme werden insbesondere von Patienten mit Typ-1-Diabetes genutzt.

Kurz erklärt: Flash Glukose Monitoring
Wie bei der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) wird auch beim Flash Glukose Monitoring bzw. bei der Flash-Glukosemessung (FGM) die Glukose in der Flüssigkeit zwischen den Hautzellen gemessen – nicht im Blut. Es funktioniert so: Ein kleiner Sensor am Oberarm, dessen Fühler dicht unter der Haut liegt, misst und speichert permanent Daten. Bei jedem Scannen des Sensors mit dem Lesegerät werden der aktuelle Glukosewert, der Verlauf der letzten 8 Stunden und ein Trendpfeil angezeigt. Der Pfeil gibt an, ob der Glukosewert steigt, sinkt oder sich kaum ändert.

DJ: Der große Traum von vielen Menschen mit Diabetes ist das Closed-Loop-System. Was verbirgt sich dahinter? Und kann dieser Traum tatsächlich bald Wirklichkeit werden?
Heinemann:
Die konstanteste Aussage in den letzten 30 bis 40 Jahren bei diesem Thema war: “Solch ein System kommt in 2 bis 3 Jahren.” Wenn ich diese Aussage nun auch wieder mache (vielleicht geht es sogar noch schneller, aber nicht unbedingt in Deutschland!), dann läuft man schnell Gefahr, sich lächerlich zu machen. Trotzdem mache ich sie! Die Fortschritte in den letzten Jahren und die Geschwindigkeit der Weiterentwicklung sind so rasch, davon hätten wir vor 5 Jahren kaum zu träumen gewagt. Ja, dieser Traum ist eigentlich (im Rahmen von klinischen Studien) schon Realität. Nun gilt es, ein Produkt basierend auf den aktuellen Entwicklungen zugelassen zu bekommen.

Kurz erklärt: Closed Loop
Eine künstliche Bauchspeicheldrüse (engl.: artificial pancreas) besteht aus einer Insulinpumpe, einem Sensor zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) und einem Computerprogramm, das die Pumpe automatisch steuert. Diese Geräte können über Funkwellen miteinander kommunizieren, es wird daher auch von einem Closed Loop (einer geschlossenen Schleife) gesprochen. Weltweit arbeiten Forschergruppen an der künstlichen Bauchspeicheldrüse, dem Closed Loop – z. B. auch in Hannover (DREAM-Konsortium).

DJ: Welche sonstigen technischen Hilfen gibt es, um Unterzuckerungen zu vermeiden?
Heinemann:
Eine Entwicklung, deren Auswirkungen ich noch nicht so ganz richtig einstufen kann, sind “Big Data” und die massiv weiter zunehmende Kommunikation “von allem mit allem”. In Zukunft werden die Smartphones vermutlich viel mehr Daten und Informationen sammeln als bisher. Eine “intelligente” Verknüpfung dieser Daten wird vielleicht erkennen, wie viel der Nutzer sich bewegt hat, oder ob beispielsweise die Menge an Kohlenhydraten, die er gegessen hat, nicht zu der Insulinmenge, die er spritzen will, passt und daher einen Alarm auslöst.

Denkbar ist auch, dass ein Smartphone registriert, wenn sich jemand nicht bewegt und gleichzeitig auch durch Messung der Körperwärme registriert, dass es der Nutzer bei sich trägt. Dies interpretiert das Smartphone unter bestimmten Bedingungen dann als eine schwere Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit und ruft Hilfe herbei, wobei es gleichzeitig den Ort anzeigt, wo sich die Person gerade befindet.

DJ: Was ist Ihr persönlicher Ratschlag an Menschen mit Diabetes bezüglich Unterzuckerungen?
Heinemann:
Mein Ratschlag lautet, offen und gleichzeitig kritisch an neue technische Entwicklungen heranzugehen. Ich denke, wir sind erst am Anfang der Entwicklung. Durch weitere Verbesserungen bei den Systemen zum kontinuierlichen Glukosemessen – auch durch implantierbare Systeme – wird eine zuverlässige Überwachung der aktuellen Stoffwechselsituation möglich sein. Damit wird eine deutliche Verminderung des Risikos einer Unterzuckerung Realität werden.

DJ: Herr Heinemann, vielen Dank für das aufschlussreiche und hoffnungsvolle Gespräch.

Schwerpunkt: Den Unterzucker im Visier

Das Interview führte Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (12) Seite 34-35

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