Diabetes & Essverhalten

4 Minuten

Community-Beitrag
Diabetes & Essverhalten

Haben Diabetiker ein anderes Verhältnis zu Essen als Nicht-Diabetiker? Im Alter von einem Jahr wurde bei mir Typ-1-Diabetes diagnostiziert. Damals galt es mehr als heute, strikte Essenszeiten und -mengen einzuhalten. Insulinpumpen waren Zukunftsfantasien. Dunkel erinnere ich mich, dass ich, wenn ich zwischen den Mahlzeiten Hunger hatte, Quark mit Süßstoff zu essen bekam. Seit jeher beschäftigt mich die Frage, ob Menschen mit Diabetes mellitus ein schwierigeres Verhältnis zu Essen haben als Nicht-Diabetiker, wenn nicht sogar gestörtes.

Karge Studienlandschaft zu Diabetes & Essverhalten

Bei der Recherche zu einer Antwort auf diese Frage stieß ich auf Hilde Bruch. Sie erwähnte 1973 erstmals das gemeinsame Auftreten von Diabetes mellitus und Magersucht. Eine 19-jährige Patientin aß absichtlich nur eine Mahlzeit am Tag und hielt die Insulinmenge gering, um „überschüssige“ Kalorien über die Niere wieder zu verlieren.* Zehn Jahre später berichtete Hillard über ketoacidotische Stoffwechselentgleisungen, die bei einer bulimischen Typ-1-Diabetikerin festgestellt wurden.**

Seit 1985 häufen sich die Studien über das gemeinsame Auftreten von Diabetes mellitus und Essstörungen (Magersucht, Bulimie, binge eating disorder). Herpertz spricht von einer überzufälligen Koinzidenz beim Auftreten von Anorexie und Bulimie bei Diabetes mellitus (mehr als 9%). Insulinpflichtige Frauen waren am meisten betroffen.*** Herpertz berichtet weiter, dass in den meisten Forschungsfällen der Feststellung einer Essstörung die Manifestation des Diabetes um einige Jahre vorausgeht. Die Risiken sind eine schlechte Blutzuckereinstellung und folglich die Entwicklung von irreversiblen diabetischen Spätschäden.

In einer 1995 veröffentlichten Studie versuchte Herpertz nachzuweisen, dass das „gezügelte Essverhalten“, welches Typ-1-Diabetes mit sich bringt und/oder ein „problematisches Bewältigungsverhalten“ der chronischen Krankheit der Grund sein kann für eine spätere bulimische Erkrankung. In einer 2006 veröffentlichten Studie zum Thema Diabetes und Essstörung wurde lediglich herausgefunden, dass die Kombination von Diabetes und Essstörungen die Rate an diabetologischen Folgeerkrankungen erhöht. Nicht erörtert wurde jedoch der Diabetes als Ursache einer Essstörung.****

Lebenslange Weight-Watchers-Mitgliedschaft und Punkte zählen: Ist das ein normales Essverhalten?

Was mich irritiert: In allen Studien wird stets von einer Minderheit der an einer Essstörung erkrankten Diabetespatienten gesprochen. Als Essstörung werden allerdings nur Magersucht, Bulimie und binge eating disorder (Fresssucht) deklariert.

Doch was ist mit Menschen, die ihr tägliches Ess- und Sport-Verhalten minutiös dokumentieren? Was ist mit denjenigen, die ihr Leben lang Punkte oder Kalorien zählen, um ja nicht an Gewicht zuzunehmen? Ist das normal? Ist das keine Essstörung?


* H. Bruch: Eating disorders: obesity, anorexia, and the person within. Basic Books, New York, 1973

** J. R. Hillard, M. C. Lobo, R. P. Keeling: Bulimia and diabetes: A potentially life-threatening combination. Psychosomatics 24 (3), 292-295 (1985)

*** S. Herpertz, B. von Blume, W. Senf: Eßstörungen und Diabetes mellitus. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse (1995)

**** U. Bahrke, U. Bandemer-Greulich, E. Fikentscher, D. Rübler, M. Nauck, Ch. Nagel-Reuper, T. Konzag: Eating Disturbances in Diabetics: Development of a Screening Questionnaire; Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 2006


Online Umfrage: Diabetes und Essverhalten

In einer anonymen Online Umfrage habe ich versucht, mehr zu dem Thema herauszufinden:

In 7 Tagen haben 98 Typ-1- und Typ-2-Diabetiker an der Umfrage teilgenommen. Ein unglaublich tolles Ergebnis – vielen Dank!

Dies lässt auf ein großes Interesse am Thema Diabetes & Essverhalten schließen.

Auswertung

diabetes-essverhalten-block_2

Die Mehrzahl der Umfrageteilnehmer ist weiblich, an Typ-1-Diabetes erkrankt und über 36 Jahre alt. Bei den meisten der Teilnehmer wurde der Diabetes vor über 15 Jahren diagnostiziert.

Nun zu den wirklich interessanten Fragen: Der Großteil der Teilnehmer (54 Personen) hat ein normales Körpergewicht (BMI 18,5-25 kg/m²). 41 Personen liegen über dem Normbereich und sind übergewichtig.

Jedoch sind nur 17 Personen mit ihrem Körpergewicht zufrieden. 77 Personen würden gerne Gewicht verlieren.

Auf die Frage, ob, und wenn ja, wie viele Diäten/Ernährungsumstellungen die Befragten bereits ausprobiert hätten, gaben sie Folgendes an:

30 Personen haben noch nie eine Diät gemacht. Im Umkehrschluss heißt das, dass 70% der Befragten mindestens 1 Diät ausprobiert haben. 13 Personen haben sogar mehr als 5 Diäten hinter sich.

Nur bei 9 Personen war die Diät dauerhaft erfolgreich. 59 der Personen, die mind. eine Diät gemacht haben, sind wieder beim Ausgangsgewicht, müssen ihr Gewicht kontrollieren, um es halten zu können, oder haben sogar zugenommen.

diabetes-essverhalten-block_3

Bei 87% war(en) die Diät(en) also nicht erfolgreich. 29% haben nach der Diät sogar zugenommen.

Bei der Frage nach dem Essverhalten gaben 31 der befragten Diabetiker an, an einer Essstörung zu leiden. Eine, wie ich finde, beachtenswerte Zahl. Ein Teil gab sogar die Erkrankung an mehreren Essstörungen an.

diabetes-essverhalten-block_5

68% derjenigen, die an einer Essstörung erkrankt sind bzw. waren, gaben an, Hilfe in Anspruch genommen zu haben (z.B. Familie, Freunde, Partner, Selbsthilfegruppe, Psychologe/Coach). Auch hier gab es Mehrfachnennungen.

Auf die Frage, ob die Essstörung geheilt wurde, gaben lediglich 2 Personen an, dass diese vollständig geheilt sei. 6 Personen gaben an, dass die Essstörung teilweise geheilt sei. 23 Personen gaben an, dass sie noch immer an einer Essstörung leiden.

Das sind 74% der an einer Essstörung erkrankten befragten Diabetiker und 24% der Umfrageteilnehmer.

Fazit

Auch wenn die Umfrage keine medizinische Studie ist, ergeben die Ergebnisse ein bemerkenswertes Bild.

Zum einen kann man aus der Umfrage schließen, dass Diäten in den allermeisten Fällen nicht funktionieren. Dennoch gibt es immer wieder neue, vielversprechende Konzepte, um „Diätjünger“ zu ködern.

Der Zusammenhang von Essstörungen und Diabetes mellitus kann in der Umfrage (medizinisch) nicht bewiesen werden. Trotzdem kann aus den Zahlen geschlossen werden, dass das Ausmaß dieses Zusammenhangs im medizinischen und Forschungsbereich noch nicht vollständig erkannt wurde.

Ich persönlich hoffe, dass durch die steigende Zahl der Diabeteserkrankungen auch das Interesse am Zusammenhang zwischen Diabetes mellitus und Essverhalten/-störungen zunimmt. Dass es mehr Studien zu dieser Thematik gibt, Betroffene sich an die Öffentlichkeit wagen und Hilfe erwarten können.

Hinweis: Dies ist keine medizinische Studie, sondern ein Online Umfragebogen mit 10 Fragen (SurveyMonkey). Teilweise wurden von den Umfrageteilnehmern Mehrfachnennungen angegeben (s. Vermerke). An der Umfrage haben 98 Typ-1- und Typ-2-Diabetiker teilgenommen. Relevante Ergebnisse wurden grafisch exemplarisch dargestellt.

Diabetes-Anker-Newsletter

Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.

Ähnliche Beiträge

Entstehung von Übergewicht: Rezeptor identifiziert, der das Essverhalten reguliert

Die stetig steigende Anzahl von Menschen mit Übergewicht oder Adipositas (schweres Übergewicht) stellt weltweit ein bedeutendes medizinisches Problem dar. Neben den sich verändernden Lebensgewohnheiten spielen auch genetische Faktoren eine entscheidende Rolle für das Essverhalten und somit bei der Entstehung von Übergewicht. Nun wurde mit einem Rezeptor ein neuer Regulator für die Steuerung der Nahrungsaufnahme identifiziert.
Deutsche Forschende identifizieren Rezeptor, der das Essverhalten reguliert

2 Minuten

Studie: Bei Angst, Stress und Frust essen Heranwachsende mehr Ungesundes

Eine aktuelle Untersuchung hat ermittelt, wie emotionale Zustände die Ernährungsgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Dabei zeigte sich, dass Heranwachsende als Reaktion auf negative Emotionen wie Angst, Stress und Frust mehr Süßes und Fettes essen.
Studie Bei Stress und Frust essen Heranwachsende mehr Ungesundes

2 Minuten

Diabetes-Anker-Newsletter

Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.

Über uns

Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.

Community-Frage

Mit wem redest du
über deinen Diabetes?

Die Antworten werden anonymisiert gesammelt und sind nicht mit dir oder deinem Profil verbunden. Achte darauf, dass deine Antwort auch keine Personenbezogenen Daten enthält.

Werde Teil unserer Community

Folge uns auf unseren Social-Media-Kanälen

Community-Feed

  • tako111 postete ein Update vor 2 Tagen, 1 Stunde

    Fussschmerzen lassen leider keine Aktivitäten zu!

  • Hallo guten Abend ☺️

    Ich heiße Nina, bin 33j jung und Mama von drei zauberhaften Mädels.
    Und vor kurzem bekam ich die Diagnose Diabetes Typ 3c. Nach 5 Jahren – 11 Bauchspeicheldrüsen Entzündungen und schwangerschaftsdiabetes 2024, hat meine Drüse nun fast aufgegeben.. Ich bin irgendwie froh diese Schmerzen nicht mehr zu haben, aber merke wie schwer der Alltag wird. denn hinzukommt noch dass ich alleinerziehend bin.
    Aktuell komme ich überhaupt nicht klar mit der ganzen Situation, täglich habe ich hunderte Fragen die niemand beantworten kann. Dass ist mehr als verrückt.
    Wie habt ihr euch gefühlt in dem Moment als es diagnostiziert wurde?

    Ich freue mich sehr auf einen netten Austausch und eure Erfahrung.

    Liebe Grüße, schönen Abend
    Nina 🙂

    • Willkommen Nina, …
      da hast du ja sich schon einiges hinter Dir. Wie schaut es bei Dir mit Mutterkindkur aus, auch in hinblick einer Diabetesschulung. Hast du guten Diabetologen, Teilnahme DMP, Spritzt du selber oder Pumpe, auch hier gibt es viele Fragen. Wie sieht es mit Selbsthilfegruppen bei Euch aus. …
      Oder Forum? Gerade am Anfang, wo noch alles neu ist, – ist es schon eine tägliche Herausforderung, – da kann es hilfreich sein kleine Ziele sich zu setzen. Dabei finde ich die Aktzeptanz am wichtigsten, oder auch sich selber spritzen zu müssen, oder das Weg
      lassen bzw. bändigen des Naschen … etc. Kleine Schritte …

      Viele Fragen bekommst du auch in eine Diabetes-Schulung beantwortet,
      falls noch nicht gemacht, spreche das bei Deinem Diabetologen an!

      Über weiteren Austausch bin ich auch erfreut, schildere ruhig deine Bausstellen, … doch letztendlich sollte Dein Arzt das beurteilen.

      LG

      Wolfgang

  • swalt postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Dia-Newbies vor 3 Tagen, 8 Stunden

    Hallo zusammen. Ich möchte mich erst einmal vorstellen. Ich bin “noch” 59 Jahre, und habe wahrscheinlich seit 2019 Diabetes. Ich würde mir wünschen, endlich angekommen zu sein. Wahrscheinlich seit 2019, weil ich in einem Arztbrief an meinen damaligen Hausarzt zufällig auf den Satz: “Diabetes bereits diagnostiziert” gestoßen bin. Ich habe meinen Hausarzt dann darauf angesprochen und wurde mit “ist nicht schlimm” beschwichtigt.
    Lange Rede. Ich habe einen neuen Hausarzt und einen sehr netten Diabetologen, bei dem ich jetzt seit 4 Jahren in Behandlung bin. Ich vertrage die orale Therapie nicht und spritze ICT. Dennoch bin ich in diesem Thema immer noch absoluter Neuling. Natürlich habe ich viermal im Jahr ein Gespräch mit meinem Diabetologen. Das hilft aber im täglichen Umgang nicht wirklich. Auch die anfangs verordnete Schulung war doch sehr oberflächlich und das war es. Ich kenne nicht die Möglichkeiten, die mir zustehen. Ich habe mir alles, was ich zu wissen glaube aus Büchern angelesen. Irgendwie fühle ich mich allein gelassen, irgendwie durchgerutscht. Ich kenne niemanden in meinem Bekanntenkreis, der Diabetes hat und die nächste Selbsthilfegruppe ist über 50 km entfernt.
    Und so bin ich jetzt hier gelandet. Ich möchte wissen, wie ihr das handhabt, damit ich verstehe, was ich richtig mache und was falsch. Damit ich weiß, dass ich nicht allein damit lebe.

Verbände