DIAlog 12: die Zahlen

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DIAlog 12: die Zahlen

Lass uns Zahlen abschaffen!

„Weißt du was, Diabetes? Wir sollten Zahlen abschaffen.“

„Ich glaube nicht, dass das so einfach funktioniert.“

„Gewicht, Kontostand, Noten – nirgendwo machen sie die meisten Menschen wirklich glücklich. Weg damit!“

„Ehm, okay, gewagte These, soll das hier eine gesellschaftskritische Debatte werden, oder…?“

Ich seufzte. „Vergiss es. Geh mir aus den Augen.“

Der Diabetes sah mich entrüstet an. „Hallo? Ich habe doch nichts gemacht. Du kommst hier auf einmal reingestürmt und willst Zahlen abschaffen. Huda, was ist dein Problem?“

Ich warf die Hände in die Luft. „Alles! Du! Keine Ahnung! Wer hat gesagt, dass ich ein Problem habe?“

Der Diabetes hob eine Augenbraue.

„Ja, okay, vielleicht hab’ ich eines.“ Ich ließ mich aufs Sofa fallen. „Ich habe letztens einen Fitness-Account gefunden. Und die Person, die diesen Account betrieb, hat fast ein Jahr lang ein CGM-Gerät getragen. Aber nicht wegen Diabetes, sondern als irgendeine Form von Lifestyle. Diese Person hat darüber geschrieben, wie sie akribisch den Anstieg und Abfall ihrer Werte nach dem Essen beobachtet und ausgewertet hat, und ich meine – soll ja jeder mit seinem Leben machen was er will, ja? Aber mir gefällt das nicht. Nein, noch mehr, es hat mich wütend gemacht. Weil ich nicht verstehen kann, warum man ein perfekt funktionierendes Organ überwachen sollte, und, naja, weil ich glaube, dass ich auch gerne meine Gewebezuckerwerte nur aus Spaß beobachten würde, und nicht, weil mein Überleben davon abhängt. Irgendwie hat es sich angefühlt, als ob mit der Art, wie diese Gewebezuckerwerteüberwachung als revolutionär angepriesen wurde, gleichzeitig komplett ignoriert wird, wie unsere Realität eigentlich aussieht.

… oder Zahlen selbst definieren?

Menschen mit Diabetes haben sowieso schon ein höheres Risiko, Essstörungen zu entwickeln. Es ist ja auch schwierig, Essen nicht zu überdenken, wenn man so oft darüber nachdenken muss. Oder Lebensmittel nicht automatisch in gut und schlecht einzuteilen, wenn man ständig sofort die Auswirkung sehen kann, die sie haben. Und sich vor allem auch nicht schuldig zu fühlen, wenn man Essen einfach mal nur genießt.

Ich habe lange gebraucht, um diese Werte, diese Zahlen, als das anzusehen, was sie sind: eine Hilfestellung. Sie sagen mir, welcher nächste Schritt wohl richtig ist. Aber sie treffen kaum eine Aussage darüber, wie viel Mühe ich mir gebe. Sie erzählen anderen nicht davon, wie anstrengend mein Tag war und wie viel tausend Sachen ich neben dem Diabetes noch händeln musste. Sie sind Werte, nicht mein Leben. Und trotzdem frustrieren sie mich manchmal, natürlich. Oder sie machen mich sogar stolz. Ich kann sie nicht total losgelöst betrachten, aber ich sehe es auch nicht ein, dass sie alleine bestimmen, wie es mir geht.“

Der Diabetes nickte vor sich hin. „Aber dann sind vielleicht nicht Zahlen an sich das Problem, sondern einfach, wie uns beigebracht wird, mit ihnen umzugehen. Ich meine, sie sind ja schon praktisch. Oder willst du lieber deinen Urin abschmecken?“

Ich verzog das Gesicht. „Boah, ne, danke.“

„Siehste.“

Der immer sichtbare Diabetes

„Trotzdem will ich dich manchmal halt einfach nicht sehen“, murmelte ich. „Manchmal, da ist es Zeit für einen Sensorwechsel und ich frage mich: Was ist, wenn ich einfach keinen neuen setze? Was ist, wenn ich einfach mal ein paar Tage nicht ständig weiß, welche Werte ich gerade habe? Ich meine, klar, am Ende setze ich den neuen Sensor trotzdem. Ich habe das ständige Fingerpiksen früher unglaublich gehasst und ich könnte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wieder auf ein CGM-Gerät verzichten zu müssen. Aber bei all den Vorteilen, die ich für mich persönlich gefunden habe, bleibt eben auch dieser kleine, bittere Beigeschmack. Diabetes nebenbei, aber nun mal auch Diabetes bei jedem Blick auf das Handy, 24/7, hier wieder ein Alarm, da wieder ein Pfeil. Kaum steigt der Wert unerwartet, überschlagen sich die Gedanken – warum steigt er jetzt, soll ich schon Korrektur spritzen oder lieber abwarten, habe ich nachher eigentlich überhaupt noch Zeit, mich um einen hohen Wert zu kümmern, was ist, wenn ich zu viel korrigiere und danach unterzuckere, och nein, nicht der Doppelpfeil nach oben. Also ja. Ich weiß, dass Zahlen schon ihren Sinn haben. Aber manchmal will ich sie trotzdem mal nicht sehen müssen.“

„Besorg mir den Unsichtbarkeitsumhang aus Harry Potter und die Sache ist erledigt“, erwiderte der Diabetes stumpf.

Ich verdrehte die Augen. „Sehr witzig.“

Quelle: Huda Said

Der Diabetes grinste mich schelmisch an. „Und jetzt mal ernsthaft – ich wäre sowieso total beleidigt, wenn du mich nur auf Zahlen reduzieren würdest. Ich bin offensichtlich so viel krasser als das.“

„Du meinst krass eingebildet?“

„Nun, nach all den Jahren färbst du halt auf mich ab.“

„Ey!“ Ich wollte mich auf den Diabetes stürzen, doch als ich ihn ansah, musste ich daran denken, wie recht er hatte. Diabetes lässt sich wirklich nicht nur in Zahlen packen. Also jagte ich ihn diesmal nicht durchs Haus, sondern tat etwas, was uns beide ein bisschen schockierte: Ich umarmte ihn.

Zahlen, die zählen

Und noch eine kleine Autorenanmerkung, ein paar Zahlen habe ich dann nämlich doch noch:  Fast Zehntausend Worte, zwölf DIAloge, ziemlich genau zwei Jahre. Und wenn ich jetzt anfange, darüber zu schreiben, wie viel sich in dieser Zeit verändert hat und wie sehr die Gespräche mit meinem Diabetes tatsächlich dabei geholfen haben, ihm näherzukommen, dann fange ich an, meinen Laptop mit Tränen zu ertränken, aber ich will trotzdem an der Stelle kurz danke sagen – an alle, die mich damals ermutigt haben, sie zu schreiben, an alle, die sie lesen, und vor allem an alle, die selber manchmal mit ihren unfreiwilligen Mitbewohnern zu kämpfen haben.


Hudas allerersten DIAlog findet ihr hier: DIAlog – die Begegnung

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  • tako111 postete ein Update vor 2 Tagen, 15 Stunden

    Fussschmerzen lassen leider keine Aktivitäten zu!

  • Hallo guten Abend ☺️

    Ich heiße Nina, bin 33j jung und Mama von drei zauberhaften Mädels.
    Und vor kurzem bekam ich die Diagnose Diabetes Typ 3c. Nach 5 Jahren – 11 Bauchspeicheldrüsen Entzündungen und schwangerschaftsdiabetes 2024, hat meine Drüse nun fast aufgegeben.. Ich bin irgendwie froh diese Schmerzen nicht mehr zu haben, aber merke wie schwer der Alltag wird. denn hinzukommt noch dass ich alleinerziehend bin.
    Aktuell komme ich überhaupt nicht klar mit der ganzen Situation, täglich habe ich hunderte Fragen die niemand beantworten kann. Dass ist mehr als verrückt.
    Wie habt ihr euch gefühlt in dem Moment als es diagnostiziert wurde?

    Ich freue mich sehr auf einen netten Austausch und eure Erfahrung.

    Liebe Grüße, schönen Abend
    Nina 🙂

    • Willkommen Nina, …
      da hast du ja sich schon einiges hinter Dir. Wie schaut es bei Dir mit Mutterkindkur aus, auch in hinblick einer Diabetesschulung. Hast du guten Diabetologen, Teilnahme DMP, Spritzt du selber oder Pumpe, auch hier gibt es viele Fragen. Wie sieht es mit Selbsthilfegruppen bei Euch aus. …
      Oder Forum? Gerade am Anfang, wo noch alles neu ist, – ist es schon eine tägliche Herausforderung, – da kann es hilfreich sein kleine Ziele sich zu setzen. Dabei finde ich die Aktzeptanz am wichtigsten, oder auch sich selber spritzen zu müssen, oder das Weg
      lassen bzw. bändigen des Naschen … etc. Kleine Schritte …

      Viele Fragen bekommst du auch in eine Diabetes-Schulung beantwortet,
      falls noch nicht gemacht, spreche das bei Deinem Diabetologen an!

      Über weiteren Austausch bin ich auch erfreut, schildere ruhig deine Bausstellen, … doch letztendlich sollte Dein Arzt das beurteilen.

      LG

      Wolfgang

  • swalt postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Dia-Newbies vor 3 Tagen, 23 Stunden

    Hallo zusammen. Ich möchte mich erst einmal vorstellen. Ich bin “noch” 59 Jahre, und habe wahrscheinlich seit 2019 Diabetes. Ich würde mir wünschen, endlich angekommen zu sein. Wahrscheinlich seit 2019, weil ich in einem Arztbrief an meinen damaligen Hausarzt zufällig auf den Satz: “Diabetes bereits diagnostiziert” gestoßen bin. Ich habe meinen Hausarzt dann darauf angesprochen und wurde mit “ist nicht schlimm” beschwichtigt.
    Lange Rede. Ich habe einen neuen Hausarzt und einen sehr netten Diabetologen, bei dem ich jetzt seit 4 Jahren in Behandlung bin. Ich vertrage die orale Therapie nicht und spritze ICT. Dennoch bin ich in diesem Thema immer noch absoluter Neuling. Natürlich habe ich viermal im Jahr ein Gespräch mit meinem Diabetologen. Das hilft aber im täglichen Umgang nicht wirklich. Auch die anfangs verordnete Schulung war doch sehr oberflächlich und das war es. Ich kenne nicht die Möglichkeiten, die mir zustehen. Ich habe mir alles, was ich zu wissen glaube aus Büchern angelesen. Irgendwie fühle ich mich allein gelassen, irgendwie durchgerutscht. Ich kenne niemanden in meinem Bekanntenkreis, der Diabetes hat und die nächste Selbsthilfegruppe ist über 50 km entfernt.
    Und so bin ich jetzt hier gelandet. Ich möchte wissen, wie ihr das handhabt, damit ich verstehe, was ich richtig mache und was falsch. Damit ich weiß, dass ich nicht allein damit lebe.

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