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Im zweiten Teil der Berichte der #dedoc° voices vom diesjährigen Diabetes Kongress kommen weitere Menschen mit Diabetes zu Wort, die im Mai die Fachtagung in Berlin besucht haben, um ihre Perspektive einzubringen.
Die #dedoc° voices vertraten beim Diabetes Kongress Mitte Mai in Berlin erneut die Perspektive der Menschen mit Diabetes. #dedoc° voices sind Stipendiatinnen und Stipendiaten der #dedoc° Diabetes Online Community (siehe Kasten). Sie werden national und international eingeladen, an medizinischen Fachkongressen und -konferenzen teilzunehmen. Hier können sie Symposien und Vorträge besuchen und Themen, die für sie relevant sind, einbringen. Die gesammelten Erkenntnisse und Erfahrungen teilen die #dedoc° voices im Nachgang über verschiedene Kanäle mit der Diabetes-Community. Hier ist Teil zwei ihrer Berichte.
➤ zum ersten Teil der Berichte der #dedoc° voices vom Diabetes Kongress
#dedoc° ist ein internationales Netzwerk von und für Menschen mit Diabetes, gegründet 2012 in Berlin. Zu unseren wichtigsten Projekten zählen der Virtuelle Weltdiabetestag am 14. November, unsere #dedoc°-Symposien und #docdays° und unser #dedoc° voices-Stipendienprogramm: Seit 2020 hat dieses bereits mehr als 300 engagierten Menschen mit Diabetes aus aller Welt die Teilnahme an wissenschaftlichen Kongressen von ADA, ATTD, DDG, DUK, EASD und ISPAD ermöglicht. „Es ist gut und wichtig, dass wir das #dedoc° voices-Stipendienprogramm auch in diesem Jahr wieder beim Diabetes Kongress etablieren konnten!”, so Bastian Hauck, Gründer von #dedoc°.
Das #dedoc° voices-Stipendiatenprogramm ist eine unverzichtbare Initiative, die Menschen mit Diabetes eine Stimme auf wissenschaftlichen Konferenzen gibt. Indem Patientinnen und Patienten direkt in die Diskussionen einbezogen werden, stellen wir sicher, dass die Forschung und die Entwicklung von Therapien Patienten-zentriert gestaltet werden.
Der Austausch zwischen Industrie, Fachpersonal und Menschen mit Diabetes ist entscheidend für den Fortschritt in der Diabetes-Forschung und -Behandlung. Durch das Stärken der Patientenstimme tragen die #dedoc° voices dazu bei, die Forschung in eine Richtung zu lenken, die greifbare Vorteile für Betroffene bietet und die Gesundheits-Versorgung insgesamt verbessert. Darüber hinaus teilen die #dedoc° voices ihre Erfahrungen auf individuelle Weise mit ihrer lokalen Community, indem sie Wissen über die Grenzen der Konferenzen hinaus verbreiten und so das Verständnis für Diabetes weltweit stärken.
Beim Diabetes Kongress 2024 wurden spannende Zukunfts-Technologien vorgestellt. Besonders sind mir dabei die Entwicklungen im Bereich “Pancreas on a Chip” und smarte Insuline im Gedächtnis geblieben.Das “Pancreas on a Chip” simuliert die Funktion der Bauchspeicheldrüse auf einem Mikrochip.
Mithilfe von Mikrofluidik, also der Bewegung kleinster Flüssigkeits-Mengen durch sehr enge Kanäle, und Zellkulturen können Forschende in Echtzeit untersuchen, wie die Produktion und Freisetzung von Insulin unter verschiedenen Bedingungen funktionieren. Dies ermöglicht nicht nur ein besseres Verständnis der Krankheits-Mechanismen, sondern auch die Entwicklung maßgeschneiderter Therapien.
Ein weiterer Meilenstein sind smarte Insuline. Diese Insulin-Präparate passen ihre Wirkung an den aktuellen Glukosewert im Körper an. Sobald der Glukosewert steigt, setzen sie Insulin frei und stoppen die Freisetzung, wenn der Blutzucker wieder im Normbereich ist. Dies reduziert das Risiko von Unterzuckerungen (Hypoglykämien) und macht die Insulintherapie effizienter und sicherer. Diese Technologien versprechen eine erhebliche Verbesserung der Lebensqualität und eröffnen neue Perspektiven für personalisierte Therapien – auch wenn es bis dahin wohl noch etwas dauern wird.
Menschen mit Diabetes mellitus stehen täglich vor der Herausforderung, die Balance zwischen der Kontrolle des Blutzuckerspiegels und einer gesunden Ernährung zu halten. Dies kann zu einer angespannten Beziehung zum Essen und so zu Ess-Störungen wie einer Diabulimie führen, bei der Betroffene bewusst auf Insulin verzichten, um Gewicht zu verlieren.
Als #dedoc° voice hatte ich das Privileg auf dem diesjährigen Diabetes Kongress, dem wichtigen Vortrag von PD Dr. Isabelle Mack (Tübingen) zu dieser Thematik beizuwohnen, und bin sehr dankbar dafür. Die Auswirkungen von Ess-Störungen bei Diabetes mellitus sind gravierend. Darüber hinaus führt die Kombination aus Diabetes und Ess-Störungen oft zu einem Teufelskreis aus Schuldgefühlen, Depressionen und einem gestörten Körperbild.
Es ist daher von entscheidender Bedeutung, das Bewusstsein für die Verbindung zwischen Diabetes mellitus und Ess-Störungen zu schärfen. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, der sowohl die körperliche Gesundheit als auch die psychische Belastung der Betroffenen berücksichtigt.
Seit Längerem ist die fortschreitende Technologie und deren Entwicklung im Diabetes-Management ohne neue Innovationen und die Digitalisierung nicht mehr wegzudenken. Für über 90 Prozent der Menschen mit Typ-1-Diabetes ist es in Deutschland eine Selbstverständlichkeit, mit einem System zur kontinuierlichen Glukose-Messung (CGM) ausgestattet zu sein. Menschen mit Typ-2-Diabetes erhalten dies nur, sofern sie eine intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) erhalten. Der Großteil der Menschen mit Typ-2-Diabetes wird mit oralen Medikamenten (Tabletten) versorgt und hat daher derzeit keinen Anspruch auf die Versorgung mit einem CGM-System.
Da stellt sich wieder die Frage: Ist es wirklich möglich, nur über das HbA1c (Langzeit-Zuckerwert), welches einmal im Quartal kontrolliert wird, die Qualität des Diabetes-Managements und die Situation der individuellen Versorgung zu erfassen und realistisch zu bewerten – ohne einen Blick auf die Zeit im Zielbereich und eine Übersicht über das vollständige Tagesprofil? Dr. Thorsten Siegmund (München) wies in seinem Vortrag genau auf diese Situation hin und sprach sich nach Abwägung der Vor- und Nachteile klar für die Versorgung aller Menschen mit Diabetes mit CGM in der Zukunft aus. Für mich ist das ein großer und so wichtiger Schritt, um für alle Menschen mit Diabetes eine adäquate Versorgung zu gewährleisten.
Ich selbst bin erst seit Anfang 2024 in der Diabetes-Bubble unterwegs und habe mich vorher nicht getraut, das Thema öffentlich zu teilen. Durch Zufall bin ich auf das #dedoc° voices-Programm aufmerksam geworden und habe die Möglichkeit bekommen, beim Diabetes Kongress 2024 als Stipendiat teilzunehmen.
Ich hatte große Erwartungen an diese und auch Respekt vor dieser Veranstaltung, da es der erste Kongress für mich war. Was soll ich sagen: Ich war richtig positiv überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so viele Informationen mitnehmen könnte. Die Vorträge waren alle sehr spannend und informativ.
Besonders interessant fand ich den Vortrag von Dipl.-Psych. Susan Clever (Hamburg), in dem es kurzgefasst um die ,,Time in Happiness” ging. Das hat mich zum Nachdenken angeregt. Die Time in Range oder Zeit im Zielbereich kann so gut sein, wie sie will. Nur wir als Patienten können spüren, ob wir zufrieden und glücklich sind. Ich denke: lieber mal Berg- und Talfahrt und glücklich als 90 Prozent im Zielbereich und unglücklich, weil wir unser Leben nicht genießen können und nur über unseren Diabetes nachdenken
Die Diagnose Typ-1-Diabetes traf mich wie ein Regen aus Zucker, voller Informationen und Herausforderungen. Ich lernte schnell, mit den Zahlen umzugehen und Kohlenhydrat-Einheiten (KEs) zu berechnen. Trotzdem gibt es Tage, an denen ich keinen Glukose-Sensor tragen oder über Kohlenhydrate nachdenken möchte.
Über diese Herausforderungen sprach Dipl.-Psych. Susan Clever (Hamburg) in ihrem Vortrag “Diabetes Distress und hilfreiche Kommunikation”. Sie stellte konkrete Handlungsmöglichkeiten vor, um zu beantworten: Was motiviert Betroffene, Therapieempfehlungen dauerhaft in ihren Alltag zu integrieren? Dabei entsteht das strikte Befolgen einer Therapie oft aus dysfunktionalen Gedanken wie “Es wird alles schiefgehen, ich kann es eh nicht kontrollieren” oder Schuldgefühlen à la “Egal wie sehr ich mich bemühe, es wird nie gut genug sein”.
Diabetes-Disstress ist dabei eine psychisch-affektive, nachvollziehbare Reaktion auf die Sorgen wegen des Diabetes und Unwägbarkeiten der Selbstbehandlung. Clever betonte, dass die Therapie funktionieren muss, um Ängste zu mindern und die Selbstwirksamkeit zu stärken. Betroffene haben Gründe für ihr Handeln oder Nichthandeln. Sie sind nicht non-compliant, sondern ambivalent. Medizinische Fachkräfte sollten dies verstehen und gemeinsam einen Behandlungsplan entwickeln, der auch die “Time in Happiness” berücksichtigt.
Ich habe mich auf dem diesjährigen Diabetes Kongress ganz besonders auf die Suche nach den neuesten Erkenntnissen zum Thema Diabetes Typ 1 und Sport gemacht. Es gibt einige erfolgreiche Leistungssportler, die ihre Karriere bereits mit Diabetes gestartet haben, sowie die, die während ihrer aktiven Zeit ihre Diagnose bekamen und einen Weg fanden, auf höchstem Niveau im Spitzensport dabei zu sein.
Sie vertreten teils sehr unterschiedliche Meinungen zum Nutzen von Technik, haben verschiedene Vorlieben, aber einen für sie passenden Weg gefunden, den Herausforderungen des täglichen Trainings im Wettkampfsport gerecht zu werden. Leider finden insbesondere Kinder und Jugendliche kaum Unterstützung im Leistungssport. Es gibt wenig Beratung, um mit Diabetes nicht nur den Alltag, die Schule und Pubertät zu durchleben, sondern auch eine erfüllende Zeit im Sportbereich zu genießen.
Ich wünsche mir, dass die sportlichen Ziele von Menschen mit Diabetes ausnahmslos und unabhängig vom Alter ernst genommen und nicht in den Hintergrund gedrängt werden. Jeder sollte die Möglichkeit haben, der nächste Timur Oruz oder die nächste Sandra Starke werden zu dürfen!
Der Vortrag zum Thema Teilhabe am Arbeitsleben mit Diabetes hat mich aus zwei Perspektiven berührt: Zum einen bin ich als Arbeitnehmerin mit Diabetes selbst daran interessiert, beruflich die Teilhabe zu bekommen, die ich mir wünsche. Zum anderen arbeite ich als Personalerin. Ich führe im Interesse eines Unternehmens Bewerbungsverfahren durch, bearbeite krankheitsbedingte Abwesenheiten und verantworte eine inklusive Arbeitskultur.
Dr. Wolfgang Wagener von der Deutschen Rentenversicherung Rheinland erläuterte in seinem Vortrag, dass Menschen mit Diabetes in vielen Berufsgruppen Vorurteilen und Benachteiligung ausgesetzt sind. Einige Branchen sind dabei stärker betroffen als andere. Manche Arbeitnehmende kehren nach einer Diabetes-Diagnose nicht an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurück. Andere Berufsgruppen sind für Menschen mit Diabetes in Deutschland nicht zugänglich – so zum Beispiel eine Polizei-Laufbahn.
Wagener warb dafür, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen und Patienten dabei unterstützen, über Vorurteile aufzuklären und Teilhabe einzufordern. Mir gefiel diese Haltung sehr. Sie hat mich ermutigt, ebenfalls weiterhin Vorurteile am Arbeitsplatz abzubauen und über Diabetes aufzuklären.
Am Diabetes Kongress 2024 teilzunehmen, war eine unvergessliche Erfahrung. Als #dedoc° voice hatte ich die besondere Gelegenheit, direkt vor Ort zu sein. Die Vielfalt und Tiefe der Vorträge beeindruckten mich tief, besonders die Diskussion über die Erblichkeit von Typ-2-Diabetes.
Renommierte Expertinnen und Experten präsentierten Forschungs-Ergebnisse, die zeigten, wie stark genetische Faktoren das Risiko für Typ-2-Diabetes beeinflussen. Es wurde deutlich, dass bestimmte Genvarianten die Produktion und Verwertung von Insulin erheblich beeinflussen können. In einem Vortrag wurde hervorgehoben, wie Umweltfaktoren und Lebensstil mit genetischen Prädispositionen interagieren, was die Bedeutung eines gesunden Lebensstils selbst für genetisch Vorbelastete unterstreicht.
Der Diabetes Kongress 2024 hat eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig es ist, Genetik- und Umweltfaktoren gemeinsam zu betrachten, um effektive Präventions- und Behandlungs-Strategien zu entwickeln. Ich freue mich auf zukünftige Fortschritte in diesem entscheidenden Bereich der medizinischen Forschung
Es überrascht mich immer wieder, wie sehr die Gefahren dieser Krankheit, Diabetes, in der Öffentlichkeit und von Betroffenen selbst unterschätzt werden. Auf dem Diabetes Kongress 2024 beeindruckte mich ein Vortrag von Prof. Dr. Bernhard Kulzer (Bad Mergentheim) über “illness perception”. Dabei geht es um subjektive Annahmen zu Ursachen, Symptomen, Kontrollierbarkeit, Konsequenzen und Prognosen einer Krankheit und deren Auswirkungen auf den Alltag der Patientinnen und Patienten.
Kulzer stellte mithilfe von Studien dar, dass, wenn King Charles mit einer Diabetes-Typ-2-Diagnose an die Öffentlichkeit getreten wäre, die Anteilnahme und Sorge um sein Wohlergehen sehr wahrscheinlich weit weniger groß gewesen wäre als bei seiner Krebs-Diagnose. Während eine Krebs-Erkrankung in den Köpfen vieler als ultimative Bedrohung der Gesundheit wahrgenommen würde, würde Diabetes oft als weniger gefährlich eingestuft. Das läge nicht zuletzt daran, dass viele glaubten, Typ-2-Diabetes sei die Folge eigenen Verschuldens und mit einer einfachen Diät zu behandeln.
Doch diese Sichtweise ist falsch und gefährlich. Diabetes muss viel ernster genommen werden. Wir müssen aufhören, ihn zu verharmlosen und zu stigmatisieren. Aufklärung und vorbeugende Maßnahmen können Leben retten und die Lebensqualität von Millionen Menschen verbessern.
von Redaktion Diabetes-Anker
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