In den Kopf geschaut: Das Gehirn mag weder Hypo- noch Hyperglykämien

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In den Kopf geschaut: Das Gehirn mag weder Hypo- noch Hyperglykämien

Der eine stammelt unverständliches Zeug, der andere wird apathisch, wieder andere neigen zu aggressivem Verhalten. Dass eine akute Hypoglykämie die Funktion des Gehirns stört, dürfte jedem klar sein, der mit Menschen mit Diabetes zu tun hat. Doch was genau während einer Unterzuckerung im Gehirn passiert, ist längst nicht vollständig untersucht. Ähnlich vage sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, was die Kurz- und Langzeiteffekte von zu hohen Glukosewerten auf das Gehirn angeht. Neulich beim ATTD-Kongress in Berlin präsentierte daher eine Reihe von Forschern den aktuellen Wissensstand auf diesem Gebiet.

Dass eine „Hypo“ die Gehirnfunktion beeinträchtigt, dürfte jedem klar sein, der mit Menschen mit Diabetes zu tun hat. / Quelle: Pixabay

Studienteilnehmer lassen sich freiwillig in Unter- und Überzuckerung befördern

Wer die Effekte von zu niedrigen und zu hohen Glukosewerten studieren möchte, der braucht Probanden, die sich künstlich in eine Unter- oder Überzuckerung befördern lassen und sich dabei ausgiebig untersuchen, befragen und zum Teil auch im MRT durchleuchten lassen. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wozu sich manche Leute freiwillig hergeben. Ich möchte diesen tapferen Menschen an dieser Stelle einmal herzlich danken. Denn mich persönlich würde so ein Nebenjob nicht sonderlich reizen. Ich bin schon mit meinen zufälligen Hypo- und Hyperglykämien ganz gut bedient.

Erst 45 Minuten nach einer Hypoglykämie funktioniert das Gehirn wieder richtig

Einer der Forscher beim ATTD-Kongress war Dr. Pratik Choudhary aus London. Er berichtete über Experimente mit einer Gruppe von stoffwechselgesunden Probanden und Menschen mit Typ-1-Diabetes, die in sogenannten Clamp-Tests künstlich in eine Unterzuckerung geführt wurden. In solchen Tests wird den Teilnehmern per Infusion entweder Glukose oder Insulin zugeführt – je nachdem, ob man eine Unter- oder eine Überzuckerung herbeiführen möchte. Um die Effekte zu dokumentieren, wird in kurzen Abständen der jeweils aktuelle Blutzuckerwert ermittelt. Wie Dr. Choudhary erklärte, können akute Unterzuckerungen die Reaktionsfähigkeit um etwa 15 Prozent verlängern. „Sogar wenn der Blutzucker sich wieder stabilisiert hat, braucht das Gehirn etwa 45 Minuten, bis es seine normale Funktion zurückerlangt hat“, erklärte Dr. Choudhary, „genau deshalb empfehlen die britischen Leitlinien ja, dass man erst 45 Minuten nach einer akuten Hypoglykämie wieder Auto fahren sollte.“

Nach einer Unterzuckerung braucht das Gehirn etwa 45 Minuten, bis es seine normale Funktion zurückerlangt hat. / Quelle: Pixabay

Kurzzeitige leichte Hypoglykämien schaden dem Gehirn nicht

Immerhin konnte Dr. Choudhary alle diejenigen beruhigen, die im Alltag immer wieder einmal mit leichten Hypoglykämien zu tun haben: „Milde Unterzuckerungen scheinen keinen nachhaltigen Effekt auf das Gehirn zu haben.“ Wer wie ich also gelegentlich den Spritz-Ess-Abstand ein bisschen zu großzügig bemisst und deshalb für kurze Zeit mal unter die Marke von 70 mg/dl (3,9 mmol/l) rutscht, muss sich zumindest keine Sorgen um sein Gehirn machen. Anders sieht die Situation bei Menschen aus, die häufig schwere Unterzuckerungen oder auch Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen haben. Diese wiesen sogar generell längere Reaktionszeiten auf als Menschen, die nicht zu Hypoglykämien neigen, berichtete Dr. Choudhary. Die genauen Zusammenhänge seien allerdings noch nicht klar: „Sind die gehäuften Unterzuckerungen für die kognitiven Defizite verantwortlich – oder führen umgekehrt Schäden der kleinen Gefäße im Gehirn eher zu schweren Hypoglykämien?“

Demenzerkrankung wegen „Hypos“ – oder „Hypos“ infolge einer Demenz?

Eine ähnliche Frage – wer war zuerst da, die Henne oder das Ei? – kann man auch auf einem anderen Gebiet stellen. Denn schon lange möchten Wissenschaftler herausfinden, welchen Zusammenhang es zwischen wiederkehrenden schweren Hypoglykämien und dem Auftreten von Demenzerkrankungen bei älteren Menschen mit Typ-2-Diabetes gibt. Aktuell geht man von einem wechselseitigen Zusammenhang aus. Wer immer wieder schweren Unterzuckerungen ausgesetzt ist, hat ein doppelt so hohes Risiko, im Alter eine Demenzerkrankung zu entwickeln. Gleichzeitig neigen ältere Menschen mit Typ-2-Diabetes, die eine Demenzerkrankung haben, auch eher zu schweren Hypoglykämien als Patienten ohne Demenz – vermutlich, weil sie infolge ihrer Demenz ihren Diabetes nicht mehr so gut eigenständig managen können.

Häufige Hyperglykämien sind besonders schädlich für das Gehirn

Wer nun aus Angst vor Hypoglykämien und ihren möglichen Auswirkungen auf das Gehirn lieber hohe Blutzuckerwerte in Kauf nimmt, ist allerdings nicht gut beraten. „Häufige und langanhaltende Hyperglykämien richten noch viel mehr Schaden im Gehirn an“, warnte Dr. Choudhary. Welchen Effekt kurzfristige Überzuckerungen haben, erklärte Jasna Šuput Omladič aus Ljubljana (Slowenien) anhand der Ergebnisse einer Studie an 20 Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. In dieser Untersuchung wurde mithilfe von MRT-Untersuchungen der Einfluss akuter Hyperglykämien auf das visuelle räumliche Arbeitsgedächtnis untersucht. Die Probanden wurden in zwei Gruppen aufgeteilt und mussten zunächst mit Blutzuckerwerten im Normbereich eine Reihe standardisierter verhaltenspsychologischer Tests absolvieren. Hierbei ergaben sich keine nennenswerten Unterschiede zwischen den einzelnen Teilnehmern. Die Tests wurden wiederholt, nachdem die eine Gruppe per Clamp in eine Hyperglykämie versetzt worden war, während die andere Gruppe weiterhin normale Blutzuckerwerte aufwies.

Was geschieht im Gehirn, wenn der Zuckerwert jenseits von Gut und Böse liegt? / Quelle: Pixabay

Hohe Zuckerwerte verschlechtern das räumliche Denken

Die Verhaltenstests während der akuten Hyperglykämien zeigten demnach, dass die Reaktionsfähigkeit im parietalen Kortex deutlich eingeschränkt war. Dies ist eine Region im Gehirn, die für das räumliche Denken verantwortlich ist. Diese Ergebnisse wurden durch die MRT-Scans bestätigt, die strukturelle Veränderungen in eben diesen Gehirnregionen zeigten. Doch auch langfristig wirken sich erhöhte Blutzuckerwerte auf das Gehirn aus, wie Prof. Stuart Weinzimer aus New Haven (USA) berichtete. Er präsentierte erste Daten aus dem DirecNet-Projekt. Hierbei handelt es sich um eine Langzeitstudie, in der kognitive und Hirnfunktionen bei Kindern untersucht werden, bei denen bereits in sehr jungen Jahren ein Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde. Insbesondere während des Wachstums vor Abschluss des zweiten Lebensjahrs benötige das kindliche Gehirn große Mengen an Glukose. In diesem Alter reagiere es besonders empfindlich auf starke Glukoseschwankungen, erklärte Prof. Weinzimer.

Bei Kindern unter zwei Jahren braucht das Gehirn große Mengen an Glukose und reagiert besonders empfindlich auf Schwankungen. / Quelle: Pixabay

Hirnsubstanz bei Kindern mit Typ-1-Diabetes wächst langsamer

MRT-Untersuchungen im Rahmen des DirecNet-Projekts hätten gezeigt, dass bei kleinen Kindern mit Typ-1-Diabetes über einen Zeitraum von 18 Monaten die graue und weiße Hirnsubstanz deutlich langsamer wachsen als bei gleichaltrigen stoffwechselgesunden Kindern. Diese Kinder sind deshalb keineswegs dümmer als ihre Altersgenossen: „Wir wissen ja, dass Kinder mit Typ-1-Diabetes keine schlechteren Schulleistungen erbringen als andere Kinder“, sagte Prof. Weinzimer. Allerdings zeige die Bildgebung, dass das Gehirn das langsamere Wachstum offenbar kompensiere, indem es mehr Verbindungen zwischen den Gehirnzellen ausbilde. Die Studie soll nun fortgesetzt werden, damit man die beteiligten Kinder in ihrer Entwicklung auch durch die Pubertät weiter beobachten kann.

Bei Kindern mit Typ-1-Diabetes kann man eine stärkere Vernetzung der Gehirnzellen feststellen. / Quelle: Pixabay

Mein Fazit nach dieser Sitzung: Ich habe wieder mal gelernt, dass es sich auszahlt, die Glukosewerte möglichst im Zielbereich zu halten. Denn nicht nur die Gefäße nehmen Glukoseschwankungen übel, sondern auch das Gehirn.


Diabetes-Forschungsprojekte, wie läuft das eigentlich? Tanja klärt auf: Klinische Studien – wie funktioniert das?

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

  • gingergirl postete ein Update vor 1 Woche, 6 Tagen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

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    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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