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Erstmals könnte für Menschen mit Typ-1-Diabetes bald zusätzlich zum Insulin ein „orales Antidiabetikum“ zugelassen werden. Vorteil könnten zum Beispiel deutlich weniger Schwankungen sein, ein Nachteil könnte ein erhöhtes Risiko für Ketoazidosen sein. Hiergegen muss man und kann man gut Vorkehrungen treffen, wie Redaktionsmitglied Prof. Thomas Danne beschreibt.
Peter (38 Jahre) hatte seit 25 Jahren Typ-1-Diabetes und eigentlich alles unter Kontrolle. Er hatte im Internet davon gelesen, dass eine Tablette, die sein Großvater zur Behandlung seines Typ-2-Diabetes bekommen hatte, ein „SGLT-2-Inhibitor“, in Studien auch bei Typ-1-Diabetes untersucht wird. Er ließ sich von seinem Großvater die Tabletten geben und war beeindruckt, dass er damit deutlich weniger Zuckerschwankungen hatte – auch wenn er deutlich öfter auf Toilette musste.
Eines Tages ging es ihm allerdings plötzlich schlecht. Ihm war übel, und er hatte Bauchschmerzen und einen trockenen Mund. Offenbar hatte er gestern Abend im Restaurant etwas Schlechtes gegessen, dachte er. Weil er keinen Appetit hatte, reduzierte er auch seine Insulindosis, zumal sein Zucker nur knapp über 250 mg/dl (13,9 mmol/l) war.
Kurze Zeit darauf musste er sich zum ersten Mal übergeben. Bald kam er nicht mehr aus dem Bett und rief seine Freundin an, die ihn sofort ins Krankenhaus brachte – dort die Diagnose: Ketoazidose!
Die meisten Menschen mit Typ-1-Diabetes, die mit einer Ketoazidose ins Krankenhaus kommen, haben im entscheidenden Moment nicht daran gedacht: Die klassischen Zeichen Übelkeit, Bauchschmerzen, trockener Mund, vertiefte Atmung werden oft mit anderen Ursachen als Insulinmangel bei Diabetes in Verbindung gebracht.
Eine Schulung zur Ketoazidose findet zwar im Rahmen der Diabetesschulung zu Anfang der Diabetes-Erkrankung statt, Streifen zur Messung der Urin- oder Blutketonwerte sind auch meistens vorhanden, aber im entscheidenden Moment wird die Ketonbestimmung nicht oder zu spät durchgeführt. Wenn erst einmal Erbrechen eingesetzt hat, ist meistens ein Krankenhausaufenthalt unvermeidbar.
Wenn man aber bereits bei Übelkeit an die Ketonmessung denkt und bei erhöhten Ketonwerten (siehe folgenden Info-Kasten) die richtigen Schritte einleitet, lässt sich ein Krankenhausaufenthalt oft verhindern.
Stadien einer Ketoazidose.
Ketonkörper entstehen im Körper beim Abbau von Fett. Wenn der Körper eines Menschen mit Diabetes nicht genug Insulin zur Energieverwertung hat, kommt es zum Fettabbau. Biochemisch gesehen sind Ketonkörper Säuren. Weil der Körper für ein gutes Funktionieren ein bestimmtes Verhältnis zwischen Säuren und Basen benötigt, kann eine Übersäuerung des Körpers im Extremfall zum Tod führen.
Bei Menschen mit Diabetes ist daher die Ketonmessung wichtiger als eine rtCGM-/iscCGM- oder Blutzuckermessung, um einen gefährlichen Insulinmangel festzustellen. Auch Menschen ohne Diabetes können in Hungerphasen erhöhte Ketonwerte haben, kommen aber fast nie in eine Ketoazidose, weil sie ausreichend Insulin haben, so dass Ketonkörper verstoffwechselt werden können, ohne dass es zu einer gefährlichen Blutübersäuerung kommt.
Früher wurde die Ketonmessung immer im Urin durchgeführt. Vorteil: Sie ist kostengünstiger als die Blutmessung und kann ohne zusätzliches Messgerät durchgeführt werden. Nachteil: Gegenüber der Blutmessung werden Änderungen der Ketonspiegel mit ca. zweistündiger Verzögerung festgestellt. Auch erfasst die Urinmessung (semiquantitativ) das Stoffwechselprodukt Azetoazetat, welches nur indirekt mit dem für die Ketoazidose relevanten Stoffwechselparameter (Betahydroxybutyrat) zusammenhängt.
So ändert sich das Verhältnis von Betahydroxybutyrat zu Azetoazetat am Beginn einer Ketoazidose von 1 : 1 zu 5 : 1, so dass eine Ketoazidose mit einer Urinmessung später erkannt wird. Bei erfolgreicher Behandlung der Ketoazidose wird Betahydroxybutyrat in Azetoazetat verwandelt, so dass die Urinketonwerte noch positiv sein können, obwohl die Ketoazidose mit normalen Betahydroxybutyratwerten längst verschwunden ist. Somit stimmen Blut- und Urinketonwerte nicht immer überein.
Die Urinketonmessung zeigt eine Ketoazidose später an und weist nur mit Verzögerung eine erfolgreiche Behandlung nach. Vor allem Insulinpumpenträger sollten Ketonkörper vorzugsweise im Blut bestimmen, weil das eine Echtzeiterfassung der relevanten Veränderungen der Ketonspiegel ermöglicht, denn durch ein Katheterproblem können die Betroffenen rasch in einen Insulinmangel kommen. Und durch eine Behandlung mit einem SGLT-2-Inhibitor haben sie zusätzlich ein erhöhtes Risiko für eine Ketoazidose.
SGLT-2-Hemmer sind bislang nicht zur Behandlung eines Typ-1-Diabetes zugelassen (siehe Diabeteskurs). Peter hatte die Behandlung ohne Verschreibung „off-label“ begonnen. Aus den bisherigen Erfahrungen der Studien zur Verwendung von SGLT-2-Hemmern weiß man, dass diese Medikamente zu einem Erhöhen der Ketonwerte führen und daher bei Auftreten weiterer Ketoazidoserisikofaktoren (wie Reduktion der Insulindosis, Krankheit, „Low-carb“-Diäten, körperlicher Belastung, Pumpenkatheterproblemen) schneller eine Ketoazidose entsteht.
Sollten SGLT-2-Hemmer einmal für die Behandlung des Typ-1-Diabetes erhältlich sein, wäre es wichtig, bereits vor einer solchen Behandlung über mindestens eine Woche Blutketone zu messen, damit man später den Behandlungseffekt eines SGLT-2-Hemmers zusätzlich zum Insulin beurteilen kann. Denn da diese Medikamentengruppe zu einer insulinunabhängigen Senkung der Glukosespiegel führt, kann ein erhöhter Glukosespiegel (z. B. über 250 mg/dl bzw. 13,9 mmol/l, siehe
„Der Ketoazidose vorbeugen durch Frühdiagnostik“
) nicht länger als Warnung vor einer drohenden Ketoazidose verwendet werden.
Mit einer zusätzlichen Einnahme von SGLT-2-Hemmern zum Insulin kann es zu einer sogenannten euglykämischen Ketoazidose kommen, also zu einer „verdeckten“ Ketoazidose bei normalen oder nur wenig erhöhten Glukosespiegeln – weil die Glukosespiegel durch eine Steigerung der Zuckerausscheidung durch den Urin insulinunabhängig gesenkt werden.
Ende Januar 2019 gab das Komitee zur medikamentösen Behandlung von Menschen (CHMP) der europäischen Zulassungsbehörde EMA eine positive Bewertung hinsichtlich einer Zulassung des bislang nur zur Behandlung des Typ-2-Diabetes zugelassenen SGLT-2-Hemmers Dapagliflozin (Forxiga) auch als Zusatztherapie zur Insulinbehandlung Erwachsener mit Typ-1-Diabetes und einem Body-Mass-Index über 27 kg/m² ab.
Ende Februar wurde mit vergleichbarer Einschränkung auch der kombinierte SGLT-1/2-Hemmer Sotagliflozin (Zynquista) zur Zulassung empfohlen (siehe bit.ly/2SvFfjV, bit.ly/2S6zWaB und http://bit.ly/2EMLPsz
). Die Zulassung für Menschen mit Typ-1-Diabeets ist aber noch nicht erfolgt.
Dies wäre ein wichtiger Schritt, da erstmals seit der Zulassung des Insulins zur Behandlung des Typ-1-Diabetes ein Medikament zur Ergänzung der Insulintherapie zugelassen werden könnte. Nach Einschätzung der Experten der Behörde ergeben sich für Menschen mit Typ-1-Diabetes Vorteile bei der Abwägung zwischen dem durch die Zusatzbehandlung beobachteten höheren Risiko für eine Ketoazidose und den möglichen positiven Behandlungseffekten, wie größere Zeit der Glukosewerte im Zielbereich, niedrigerer HbA1c-Wert ohne erhöhte Hypoglykämierate, Gewichtsabnahme sowie besseren Blutdruckwerten bei Bluthochdruck.
Die vom CHMP abgegebene Stellungnahme ist aber nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Zulassung von Forxiga und Zynquista für einzelne Patienten mit Typ-1-Diabetes. Die Stellungnahme des CHMP wird nun zur Entscheidung über eine EU-weite Genehmigung an die Europäische Kommission übermittelt.
Falls eine Genehmigung erteilt wird für das Inverkehrbringen durch die Kommission, werden Entscheidungen über Preis und Erstattung auf Ebene jedes Mitgliedstaats getroffen. Abzuwarten sind auch die Materialien, die zur Patienteninformation und Schulung bei einer Markteinführung vom Hersteller zur Verfügung gestellt werden, um eine größtmögliche Sicherheit der Behandlung sicherzustellen.
Glücklicherweise sagte Peter dem Klinikarzt bei der Aufnahme, er habe SGLT-2-Hemmer genommen und daher könnten seine Glukosespiegel trotz einer Entgleisung niedriger sein, weil diese Medikamente zu einer vermehrten Glukoseausscheidung mit dem Urin führen. Der Arzt führte bei einem Blutzucker von 180 mg/dl (10,0 mmol/l) eine „Blutgasanalyse“ durch, die eine ausgeprägte Blutübersäuerung zeigte.
Es wurde sofort veranlasst, dass Peter eine Infusion mit Insulin und Flüssigkeit über die Vene erhielt, damit die Ketone verstoffwechselt werden können. Die Blutübersäuerung besserte sich von Stunde zu Stunde, die Übelkeit wurde geringer, Peter fühlte sich am Abend wieder deutlich besser. Die Diabetesberaterin erklärte Peter für die Zukunft, wann immer etwas Außergewöhnliches auftrete (Übelkeit, ein Eingriff wie eine Zahnextraktion oder eine starke körperliche Belastung), eine Blutketonmessung durchführen solle.
Wenn Peter in Zukunft eine Situation mit erhöhten Ketonwerten hat, soll er das „STICH“-Protokoll verfolgen:
Eine Kontrolle der Ketonwerte zeigt insbesondere bei der Blutketonmessung rasch an, ob die Maßnahmen Erfolg haben. Tritt Erbrechen auf oder gehen die Ketonwerte nicht herunter, soll Peter Kontakt mit dem Diabetes-Team aufnehmen oder den Notarzt rufen.
Da Peter mit diesem Medikament deutlich weniger Zuckerschwankungen hatte, wollte er darüber nach einer möglichen Zulassung über eine Wiederaufnahme der SGLT-2-Hemmer-Behandlung mit seinem Diabetologen sprechen.
von Prof. Dr. med. Thomas Danne
Chefarzt Kinderkrankenhaus auf der Bult,
Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover,
E-Mail: danne@hka.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (4) Seite 28-32
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