- Behandlung
Kinder und Insulin: Wege und Irrwege
4 Minuten
Die Geschichte der Diabetesbehandlung von Kindern ist von vielen Anekdoten und Kontroversen geprägt. Die kontinuierliche Entwicklung während der ersten 100 Jahre bis zum heutigen Standard der sensorunterstützten Insulintherapie mit Pen oder Pumpe gibt einen Vorgeschmack auf den raschen Wandel der Therapieprinzipien, wie er auch in den kommenden Jahren zu erwarten ist.
Der Geburtstag der Insulintherapie am 11. Januar 1922 war auch der Beginn der Kinderdiabetologie, als der 14-jährige Leonard Thompson im Toronto General Hospital mit dem von Banting und Best hergestellten Extrakt behandelt wurde. Bereits 1919 war bei Leonard Diabetes diagnostiziert worden. Vor der Entdeckung des Insulins versuchte man, die schlechte Prognose von Menschen mit Diabetes mithilfe oft obskurer Diabetesdiäten zu verbessern.
Um die Zuckerwerte niedrig zu halten, waren die Diabetesdiäten meist arm an Kalorien und Kohlenhydraten, extrem eintönig und führten über gezielte Unterernährung zu Abmagerung und Tod. In dieser aussichtslosen Situation willigte Leonards Vater in den Behandlungsversuch mit dem braunen Insulinextrakt ein. Die Forscher beurteilten die erste Gabe als völligen Misserfolg, da der Blutzucker nur von 440 auf 320 mg/dl (24,4 auf 17,8 mmol/l) sank, Ketone im Körper vorhanden blieben und an der Spritzstelle im Gesäß ein Abszess entstand.
Daraufhin gelang es dem Chemiker James Collip, eine verfeinerte Insulingewinnung zu entwickeln. Die Gabe seines Extrakts am 23. und 24. Januar 1922 normalisierte Leonards Glukosewerte und ließ die Ketone verschwinden. Am 5. Februar 1922 veröffentlichten Banting und Best ihren Behandlungserfolg im Artikel „The internal secretion of the pancreas“.
Banting und sein Chef und Leiter des Labors J. J. R. Macleod wurden 1923 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Best und Collip waren nicht nominiert, aber die beiden Gewinner teilten sich das Geld mit ihnen. Mit einer der größten Entdeckungen der Medizingeschichte begann die Ära der Insulintherapie bei Diabetes mellitus.
Kostbares Insulin
Der Schrecken einer lebensbedrohlichen Krankheit war genommen. Collip und Best verkauften das Insulinpatent für nur 1 Dollar an die Universität von Toronto. Sie wollten, dass jeder, der ihr Medikament brauchte, es sich auch leisten konnte. Leider ist das heute immer noch nicht überall der Fall. So haben sich in den USA von 2002 bis 2013 die Listenpreise fast verdreifacht.
Dieses Problem ist sicherlich nicht auf die Vereinigten Staaten von Amerika beschränkt und die Gründe für diesen Anstieg sind nicht ganz klar, aber zum Teil auf die Komplexität der Preisgestaltung von Medikamenten im Allgemeinen und von Insulin im Besonderen zurückzuführen. Weltweit rationieren einige Patienten immer noch ihr Insulin, weil es besser ist, zu wenig zu nehmen, als gar keins zu haben. Daher müssen wir auch 100 Jahre nach der Entdeckung die Entwicklung von noch wirksameren und erschwinglicheren Insulinpräparaten fördern.
Aller Anfang ist schwer
Nach Entdeckung des Insulins hielt man zunächst an den bewährten Diätformen fest und versuchte, ohne oder mit möglichst wenig Insulin auszukommen. Die erste deutschsprachige Publikation über die Insulinbehandlung diabetischer Kinder wurde 1926 von Richard Wagner von der Universitätskinderklinik Wien publiziert. Der Autor berichtet über die Insulinbehandlung von 36 diabetischen Kindern (2 bis 15 Jahre). Große Schwierigkeiten bereitete in dieser Phase der Insulinära die Standardisierung der Insulinpräparate, deren Wirkdauer vom Autor als sehr unterschiedlich und daher schwierig dosierbar bezeichnet wurde.
Erstaunlich ist, wie „modern“ einige seiner Empfehlungen heute immer noch sind: „Jene Behandlungsart stellt die optimale dar, bei der der Blutzucker möglichst nahe der Norm ist.“ Für die tägliche Praxis kam während dieser Anfangsphase der Insulintherapie daher nur die „Relation mit dem Harnzucker in Frage“. Erst ab 1978 verdrängte die Methode der Blutglukosebestimmung die Urinzuckermessung nach und nach vollständig.
Die Entwicklung der Schulung
Die Methode der Insulinsubstitution mit kurzwirkenden Insulinpräparationen, die 3- bis 4-mal am Tag injiziert wurden, fand während der folgenden Jahre immer neue Modifikationen. In Boston entwickelte Elliot P. Joslin, auf kinderärztlichem Gebiet seine Mitarbeiterin Priscilla White, die Schulung von Menschen mit Diabetes, um mithilfe von Uringlukosemessungen die Feinabstimmung von Insulinbehandlung, Nahrungszufuhr und körperlicher Bewegung (3-Säulen-Therapie) eigenständig durchzuführen.
Im damaligen Deutschland entwickelte der Kinderarzt Karl Stolte aus Breslau schon Ende der 1920er-Jahre eine Behandlung, die den Grundzügen der heutigen intensivierten Insulintherapie entspricht: „Die täglich neue Adaptation der Insulindosis an die freigewählte Nahrungszufuhr“. Dieses erst Anfang der 1980er-Jahre wiederentdeckte und heute weltweit verbreitetete Behandlungsprinzip wurde während der 1930er-Jahre vor allem von Erwachsenen-Diabetologen zunehmend attackiert und abgelehnt.
Die Wahl des vieldeutigen Begriffs „freie Kost“, der bis heute als Waffe gegen Stolte verwendet wird, war sicher ein Fehler, da selbst mit heutigem ultraschnellen Mahlzeiteninsulin nicht jedes Nahrungsmittel und jede Kohlenhydratmenge adäquat mit Insulin abgedeckt werden kann. Liest man Stoltes Schriften aber genauer, so kommt er dem heutigen Behandlungsprinzip sehr nahe: Änderungen der Nahrungszufuhr müssen „jedoch grundsätzlich unter dem Schutze des Insulins erfolgen“, denn „je häufiger gespritzt wird, umso besser passt sich das Verfahren dem Physiologischen an“.
Dass auch Stolte im Rahmen der Auseinandersetzungen kein Blatt vor den Mund nahm und seine Gegner ebenfalls heftig attackierte, beweist das Zitat: „Zuckerkranke Menschen darf man nicht behandeln wie Versuchstiere, die Tag für Tag eine auf das Gramm vorgeschriebene Nahrungsmenge erhalten.“
Die Wiederentdeckung der intensivierten Insulintherapie
Im Gegensatz zu Stolte praktizierte die Mehrzahl der führenden Diabetologen damals eine Therapieform, deren erklärtes Ziel es war, den Kindern und Jugendlichen häufige Insulininjektionen zu ersparen, also nur ein- bis zweimal am Tag Insulin zu spritzen. Mitte der 1930er-Jahre war nach der Einführung von Insulinpräparaten, die im Körper verzögert freigesetzt werden, die Umsetzung dieser konventionellen Insulintherapie noch einfacher geworden.
Die fast ausschließliche Anwendung relativ großer Mengen Verzögerungsinsulin führte zu einem permanent hohen Insulinspiegel im Blut, der nur durch häufige, genau berechnete kohlenhydrathaltige Mahlzeiten ausgeglichen werden konnte. Das Einhalten einer streng kalkulierten Diät stand daher viele Jahre im Mittelpunkt der Diabetesbehandlung. Zudem führte der weitverbreitete Irrglaube, dass die Zeit vor der Pubertät nicht zu Folgeerkrankungen des Diabetes beitragen kann, dazu, dass die meisten Kinder in einer fast ständigen Hyperglykämie lebten.
Die von den Pionieren der Insulintherapie wie Joslin und Stolte entwickelten pädagogischen Konzepte und therapeutischen Prinzipien sind erst nach der Publikation des „Diabetes Control and Complications Trial (DCCT)“ im Jahr 1993 wiederentdeckt worden: In der Studie wurden wissenschaftlich der Vorteil einer flexiblen Insulinbehandlung und die Bedeutung eines nahenormalen HbA1c zum Verhindern von Folgeerkrankungen nachgewiesen.
Automatische Insulindosierung
Kurz nach Einführung der kontinuierlichen Insulininfusion in die Diabetestherapie wurden bereits 1979 Studien bei Kindern mit Insulinpumpen durchgeführt, die eine ausgeklügelte Programmierung von basalem und Mahlzeiten-Insulin ermöglichten. Nach den Daten des DPV-Kinderdiabetesregisters behandelten sich aber noch 1995 in Deutschland 35 Prozent der diabetischen Kinder mit 1 bis 2 Injektionen pro Tag. Im Jahr 2000 verwendeten bereits 53 Prozent mindestens 4 Injektionen und 4 Prozent Insulinpumpen. Im Jahr 2014 benutzten bereits über die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen eine Insulinpumpe.
Durch die rasche Verbreitung der Glukosesensoren werden verschiedene Stufen der automatischen Insulinregulation gerade in der Kinderdiabetologie bedeutender, wobei die Looper-Community wesentlich dazu beigetragen hat. Die nächsten Jahre der Insulinbehandlung bleiben spannend.
Schwerpunkt „100 Jahre Insulin“
von Prof. Dr. med. Thomas Danne
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (7) Seite 26-27
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loredana postete ein Update vor 1 Tag, 13 Stunden
Die Registrierung mit dem Geburtsjahr war echt sportlich. Wollte es schon fast wieder abbrechen.
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tefanie3010 postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Dia-Newbies vor 3 Tagen, 6 Stunden
Hallo, ich bin Stefanie, die Diagnose Typ 1, habe ich vor drei Monaten bekommen.
Ich merke wie es mir aktuell mit der Diagnose eher schlechter, als besser geht und meine Depression wieder da ist und ich auch eine neue Therapie starten werde. Ich habe aber das Gefühl, dass mich niemand Freundeskreis verstehen kann, weil niemand weiß, wie sehr diese Diagnose das Leben durcheinander bringt und ich auf so vieles aufpassen muss. Vor zwei Wochen hatte ich meine Schulung, tatsächlich fällt mir der Umgang mit dem Diabetes eher sogar schwerer. Eine Leichtigkeit (ist auch zu viel verlangt) ist nicht eingetreten. Sicherheit nur etwas.
Es gibt bei mir leider keine Selbsthilfegruppen vor Ort, darum habe ich mich nun entschieden, den Diabetes Anker beizutreten und hoffe auf Verständnis von “Gleichgesinnten”
Viele Grüße-
lena-schmidt antwortete vor 1 Tag, 12 Stunden
Hallo Stefanie, schön ,dass du da bist. Wir treffen uns zum virtuellen Austausch nächste Woche Donnerstag. Vielleicht hast du ja Zeit und kannst dich einwählen 🙂 Ich freue mich, wenn wir uns dort sehen. Liebe Grüße Lena
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moira antwortete vor 1 Tag, 10 Stunden
Hallo Stefanie! Ich weiß noch wie es nach meiner Diagnose war – es dauert bis da von Leichtigkeit die Rede sein kann. Und das Umfeld tut sich oft sehr schwer das alles zu verstehen. Es wird besser aber es braucht Zeit. Alles Gute
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tefanie3010 antwortete vor 18 Stunden, 11 Minuten
@lena-schmidt: Hallo Lena, ich habe angemeldet und steht auch fest im Kalender.
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tefanie3010 antwortete vor 18 Stunden, 9 Minuten
@moira: Danke dir, ja es ist nicht ganz leicht damit klarzukommen und du hast recht, das Umfeld stellt mir Unmengen an Fragen, aber die kann ich aktuell selbst nicht beantworten, weil ich selbst genügend habe und andere Prios. Am schlimmsten empfinde ich die gutgemeinten “Ratschläge”.
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