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Dieser Beitrag wird polarisieren, dessen bin ich mir bewusst. Allerdings lese ich sehr oft Kommentare, dass Aussagen wie „Ich habe lieber den Diabetes als Krebs“ nicht akzeptabel sind und unsere Erkrankung runterspielen würden. Dieser Wertung stimme ich nicht zu und möchte euch mit diesem Beitrag gerne näher erläutern, warum ich ganz klar zu der Fraktion „Lieber Diabetes als Krebs“ gehöre. Ich möchte mit meinen Worten niemanden persönlich angreifen oder die Meinung eines anderen Menschen abwerten.
Vorab: Es ist generell sehr schwierig, Krankheiten gegeneinander aufzuwiegen, zu vergleichen oder zu sagen, dass Krankheit X „schlimmer“ ist als Krankheit Y. Eine einfache Aussage ohne Hintergrundinformationen lässt sich schwer einordnen und kann schnell missverstanden werden. Um bei diesem Thema eine Diskussion auf Augenhöhe zu ermöglichen, zählen für mich hier vor allem zwei Faktoren dazu: Ist man selbst von der Krankheit (indirekt) betroffen und wie sehen die aktuelle Therapie bzw. die Therapiemöglichkeiten aus?
An das Krankenhausbett gefesselt, schossen mir am Tag meiner Diagnose viele Gedanken durch den Kopf. Es fühlte sich an, als würde die gesamte Welt stillstehen und nichts mehr so möglich sein, wie es vor der Erkrankung war. Die Ansage, dass ich mich nun ein ganzes Leben lang selbst spritzen und meinen Blutzucker kontrollieren muss, ging nicht in meinen Kopf. Das habe ich auch klar der Ärztin und meiner Diabetesberaterin kommuniziert. Für mich war es in diesem Moment das Schlimmste, was hätte passieren können.
Meine Symptome waren alles andere als schön und tatsächlich dachte ich nicht direkt daran, dass der Grund meines schlechten Gesundheitszustandes ein Diabetes mellitus sein könnte. Ich habe mit weitaus Schlimmerem gerechnet und war daher etwas erleichtert, als die Ärztin die Diagnose verkündete. Damit fängt es vermutlich an, meine Dankbarkeit und die Ansicht, dass es „angenehmer“ ist, als die Diagnose Krebs zu bekommen. Doch in so einer Situation war (zum Glück) nicht jeder Mensch mit Diabetes, es gibt genug „Zufallsdiagnosen“ ohne vorangegangene schwere Ketoazidose.
Als ich von der Überwachungsstation auf die normale verlegt wurde, wechselte nach zwei Tagen meine Zimmernachbarin. Ich teilte mir nun das Zimmer mit einer Frau Ende 40. Sie bekam mit, wie mir die täglichen Injektionen zu schaffen machten und wie ich nur schwer den Schulungen meiner Diabetesberater folgen konnte. Und so kamen wir ins Gespräch. Sie erzählte mir, weshalb sie hier im Krankenhaus war: maligner Nierentumor, umgangssprachlich Nierenkrebs. Ich wollte es gar nicht glauben. Eine Frau, im Alter meiner eigenen Mutter, mit einer Diagnose, deren Prognose leider überhaupt nicht gut aussah. Doch anstatt sich davon runterziehen zu lassen, versuchte sie, das Beste daraus zu machen. Man sah ihr jedoch an, dass es ihr zu schaffen machte. Und auf einmal waren die Probleme, die ich mit den Insulininjektionen und dem Blutzuckermessen hatte, so nichtig und klein.
Eines Morgens wurde sie zur Nachuntersuchung abgeholt und nur wenige Stunden danach trat der Arzt in unser Zimmer, mit den Worten: „Wir sollten unter vier Augen sprechen.“ Mir wurde ganz komisch und in meinem Hirn fing es wieder an zu rattern… sie hatte mir von ihrer Tochter in meinem Alter erzählt, hatte eine Familie. Und dann kommt diese Krankheit und zerstört alles?!
Meine Zimmernachbarin wurde einen Tag später entlassen, sollte in ihrer Heimat einiges regeln und einen letzten Therapieversuch wagen. Ich wünschte ihr nur das Beste dieser Welt, leider weiß ich nicht, wie es ihr heute geht. Das Bett wurde frei, eine neue Frau zog ein und plötzlich hatte ich ein Déjà-vu. Es mag an der Station liegen, auf welcher ich untergebracht war, aber dennoch war es ein erneuter Schock für mich und bestärkte mich nur in meiner Ansicht. Auch sie hatte einen Nierenkrebs, allerdings sah ihre Prognose etwas besser aus. Was sie dafür aber alles durchmachen musste, war ein ganz anderes Thema. Und hier komme ich zu dem zweiten Punkt, den ich anfangs genannt habe.
Ja, es ist zeitaufwendig, kräftezehrend und manchmal auch frustrierend, sich um unseren Diabetes zu kümmern. Allerdings gibt es mittlerweile wirklich gute Möglichkeiten hinsichtlich der Therapie. Sei es ein Sensor, welcher uns das ständige Piksen abnimmt, oder der Insulinpen, der die Insulininjektion vereinfacht. Wir müssen keine tierischen Bauchspeicheldrüsen zur Insulingewinnung anzapfen oder Glaskolben auskochen. In Deutschland bedeutet die Diagnose nicht den sicheren Tod. Das Gesundheitssystem unterstützt uns zum Großteil so weit, dass es uns an nichts mangelt. Kurzum: Wir können ohne große Probleme mit der Krankheit leben. Klar, auch der Diabetes hat seine Schattenseiten und von Folgeerkrankungen oder Komplikationen ganz zu schweigen. In den meisten Fällen spielt man sich mit der Krankheit ein und findet seine ganz persönliche Routine.
Wie reagiert mein Körper auf die Therapie? Werde ich es schaffen, den Krebs vollständig zu besiegen? Wird er nach erfolgreicher Therapie zurückkommen? Diese Fragen beschäftigten meine damalige Zimmernachbarin. Fragen, mit denen ich mich nicht beschäftigen muss. Für mich ist es unvorstellbar, wie es sein muss, wenn man nach monatelanger Therapie die Nachricht bekommt, dass nichts anschlägt oder nach mehreren Jahren der Krebs zurück ist.
Ich stand vor ganz anderen Herausforderungen nach der Diagnose: Wie berechne ich KEs? Werde ich es jemals schaffen, mir eigenständig Insulin zu injizieren? Was mache ich, wenn ich während einer „Hypo“ hilflos bin und Fremdhilfe benötige? Fragen über Fragen, die mich teilweise noch heute beschäftigen. Für mich persönlich dennoch nichts im Vergleich zur möglichen Angst um mein Leben.
Ich hoffe, dass ich meinen Standpunkt zu diesem Thema einigermaßen nachvollziehbar erklären konnte. Ich bin froh darum, dass ich damals „nur“ die Diabetes-Diagnose erhalten habe, nachdem in meinem Kopf bereits ganz andere Szenarien abliefen. Das bedeutet nicht, dass ich froh um den Diabetes im Allgemeinen bin oder dass ich die Diagnose kleinreden möchte. Auf keinen Fall. Es ist einschneidend und verlangt täglich viel ab. Und es ist auch richtig und wichtig, dass auch wir uns über unsere Krankheit aufregen (dürfen) – das ist für mich selbstverständlich und Teil des Prozesses, den Diabetes zu akzeptieren.
Diabetes und Selbst-Mitgefühl – Über das Recht für Selbst-Mitgefühl hat Sara geschrieben.
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